Sehr geehrter Herr Haffner,
Viel steht in Ihrem jüngsten Magazin-Artikel über intellektuelle Redlichkeit, der am
Anspruch des Titels gemessen werden muss.
Ich würde an Ihrer Aussage zweifeln, dass reputierte
Wissenschaftler die Greta Thunberg verspotten (Abschnitt 2), ich kenne keinen. Die von Ihnen als Beispiele angegebenen Niall Ferguson und Björn Lomborg sind nicht Naturwissenschaftler und der ebenfalls angeführte Pinker war zwar einmal Experimentalpsychologe, hat sich aber zum Gesundbeter gewandelt. Wenn Sie mit
normalen und reputierten Naturwissenschaftlern unserer Universitäten oder Gymnasien
reden so ist die Besorgnis über die Entwicklung allgemein.
Sie fahren weiter: «Gewiss ist das Ende der Welt nicht
nahe, und in Panik zu geraten, wie Greta Thunberg das wünscht, ist nicht klug».
Sind Sie sich dessen wirklich so sicher? Jetzt wird es kompliziert, aber wer sich Redlichkeit auf die Fahne schreibt, darf sich nicht drücken.
Ich lade Sie freundlich ein, die angehängte Graphik der
mittleren Julitemperaturen der letzten 140 Jahre anzusehen. Was doch ganz
deutlich ist, ist dass der Anstieg sich beschleunigt, in letzter Zeit eindeutig
und dramatisch. Das ist ein empirischer Fakt und keine Theorie.
Die Theorie dazu gibt es: Weil die CO2-Konzentration dauernd
steigt muss sich die Temperaturzunahme beschleunigen. Das ist aber nicht alles:
Weil auch der CO2-Ausstoss dauernd steigt muss sich auch die Beschleunigung
der Temperaturerhöhung beschleunigen, das ist doch recht ungemütlich. Diese
Beschleunigungen werden von den IPCC-Voraussagen (auf die Greta sich stützt)
nicht berücksichtigt. Damit werden wir die 1,5 Grad Zunahme nicht 2040 – wie
vom IPCC vorausgesagt – sondern 2030 erreichen.
Das Abholzen und die grossflächigen Waldbrände der
vergangenem und der kommenden Jahre verschlechtern die CO2-Bilanz weiter. Wie
der renommierte Klimatologe Schellnhuber sagte, töten wir unsere besten Freunde, die Bäume (Link zum Video-Interview). Auch das in keiner Prognose berücksichtigt und macht übrigens
Emissionshandel und Zertifikate zum Geschwätz.
Damit sind wir nicht am Ende der Kalamitäten: Die
Redlichkeit geböte, sich auch darüber Rechenschaft abzulegen, dass die Schnee-
und Eisdecke der Erde und damit ihre Rückstrahlung rasant abnimmt. Damit
können die errechneten Temperaturerhöhungen nochmals um bis zu 50 Prozent höher
werden, auch das vom IPCC (und Greta) nicht berücksichtigt.
Am gemeinsten ist rasche Methananstieg, den man erst seit
wenigen Jahren beobachtet. Methan und CO2 werden u.a. aus dem Permafrost
freigesetzt, diesem Permafrost der schon jetzt weitflächig auftaut, obschon die
Experten dieses Auftauen erst gegen Ende des Jahrhunderts erwartet hatten. Die
Redlichkeit geböte, einzusehen, dass Methan ein 30 mal wirksameres Treibhausgas
ist, als das CO2. Und wenn mit steigender Temperatur der Methanausstoss
zunimmt, kann es sein, dass die Katastrophe nicht in einem Raster von
Jahrzehnten abläuft, sondern möglicherweise in Jahren oder sogar Monaten.
Und irgendwann bricht die industrielle Gesellschaft zusammen,
gewisse Experten wie Servigne oder Bendell rechnen damit schon im kommenden
Jahrzehnt, und dann geböte uns die Redlichkeit einzusehen, dass damit der
Ausstoss von Feinstaub absinkt. Da der atmosphärische Feinstaub die Strahlungsreflexion
erhöht und die Erwärmung gebremst hat, wird das zu einer weiteren wesentlichen
Beschleunigung führen.
Als Arzt haben wir vor solchen Rückkoppelungsmechanismen
sehr Angst. Ein Beispiel: Die Verengung der Hauptschlagaderklappe kann innert
Minuten oder sogar Sekunden zum Herztod führen, weil solche feedbacks aktiv
werden.
Nein, Greta sieht die Sache zu harmlos. Sie redet auch noch
von einem CO2-Budget, das längstens nicht mehr existiert. Und fast jeden Monat müssen Klimaprognosen zum schlechteren korrigiert werden.
Alle diese Informationen kann man im Detail belegen und sie sind einem interessierten Laien durch kurze
Internetrecherchen leicht zugänglich. Selbst wenn das eine oder andere Detail
anders gesehen werden kann, fügt sich das Gesamtbild zu einer angekündigten
Katastrophe und zwar viel schneller als wir noch vor wenigen Jahren dachten. Ich wundere mich, wieso unsere Medien darüber nichts schreiben.
Sind Journalisten wirklich weniger neugierig als ein 78-jähriger Greis? Oder
fehlt es an intellektueller Redlichkeit? Damit wären wir wirklich bei Ihrem Thema 😊.
Freundliche Grüsse
Lukas Fierz, Alt-Nationalrat.
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Dieser Brief ging am 3.2.2020 an den Autor. Er hat wie folgt Stellung genommen:
Sehr
geehrter Herr Fierz,
haben
Sie Dank für Ihre Zuschrift; die von Ihnen erwähnten Faktoren der
Beschleunigung der Erderwärmung sind mir bekannt und machen mir nicht weniger
Sorgen als Ihnen. Deshalb habe ich ja auch im zweitletzten Abschnitt
geschrieben, dass wir die Erwärmung über zwei Grad hinaus vermutlich nicht
werden verhindern können, mit katastrophalen Folgen.
In
Panik zu geraten halte ich dennoch für unklug, und ich nehme an, dass Sie als
praktizierender Arzt auch in Ernstfällen versucht haben, Panik zu verhindern
statt sie zu fördern.
Mit
besten Grüssen,
Peter
Haffner
P.S.:
Was Wissenschafter und “intellektuelle Redlichkeit” betrifft, habe ich explizit
solche im Visier, die nicht vom Fach sind.
Ich habe wie folgt geantwortet:
Ich habe wie folgt geantwortet:
Lieber Herr
Haffner,
Ich habe mehrere
Herzstillstände erfolgreich reanimiert, einmal auch beim Tennisspiel auf einem
Tennisplatz. Da ist man durchaus panisch, weil es um Leben und Tod innert
Sekunden geht. Aber man schaltet aus dem Panikmodus in den Notfallmodus um und
agiert mit den gelernten Reflexen rasch und erfolgreich.
Sie haben in Ihrem
Artikel nicht nur von Panik abgeraten, sondern sich auch dahingehend geäussert,
dass das Ende der Welt gewiss nicht nahe sei. Aber wir sind vielleicht näher
dran, als uns lieb ist, weil die Vorgänge, wie gesagt, selbstverstärkend und
nichtlinear sind und jederzeit rasch eskalieren können, bzw. jetzt eskalieren,
man denke nur an den soeben wärmsten je gemessenen Januar.
Drum wäre Panik die einzig adaequate Reaktion, um in den Notfallmodus zu wechseln, der
uns veranlassen würde, endlich die versäumten Massnahmen zu treffen. Aber es
geschieht nichts, weil uns alle von links bis rechts und von Tages-Anzeiger bis
NZZ des «Tout va bien Madame Marquise» versichern.
Mit freundlichen
Grüssen
Lukas Fierz