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Sonntag, 15. September 2019

Die Fragilität von Menschenrechten und von Klimagerechtigkeit


Ich teile die Sehnsucht aller, die sich für Menschenrechte und die von diesen abgeleitete Klimagerechtigkeit einsetzen, wie z.B. Denknetz, Greenpeace, Fastenopfer, Brot für alle, Klimastreiker oder Grüne Partei, die sich die Klimagerechtigkeit vor den Wahlen auf die Fahne geschrieben hat.

Mit diesen Forderungen bestätigt man sich und anderen, dass man ein guter Mensch ist - möglicherweise werden sie manchmal überhaupt nur deshalb geäussert, und das ist akzeptabel. Wenn aber diese Forderungen ein unrealistischer frommer Wunsch wären, betriebe man dann vielleicht Selbstbetrug? Und wenn man damit in Wahlen zöge, betriebe man dann nicht sogar Betrug am Wähler? (Wobei falsche Versprechungen ja seit jeher das Kerngeschäft der Politiker sind).

Natürlich werden Menschenrechte sowieso gebetsmühlenartig von verschiedensten Seiten eingefordert: Von Politikern auf Chinareise, die ihrer Klientel versichern wollen, wie zuhause alles so menschlich sei (auf USA-Reisen wird davon nicht geredet).

Gerne faseln Grossmächte von Demokratie und Menschenrechten, um Ausbeutungskriege und Umsturzversuche zu rechtfertigen, welche die betroffenen Länder regelmässig ruinieren. Z.B. ist zu bezweifeln, dass die gewaltsame Ausschaltung Gadaffis in Libyen irgendeinen positiven Effekt gehabt habe.

Nicht zuletzt dienen Menschenrechte den Linken und Grünen als Begründung für Asylgewährung und Klimagerechtigkeit, selbst wenn die Turnschuhe, die sie tragen unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurden (ich trage auch Turnschuhe).

Nun wäre es zweifellos schön, wenn jedem Menschen die Menschenrechte gegeben wären, wie Nase und Ohren. Sind sie aber nicht. Menschenrechte sind ein Konstrukt von Neuzeit und Aufklärung - möglicherweise inspiriert durch den Kontakt mit Naturvölkern - und ihre erste Proklamation in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 beginnt so:

“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness..."


Die Formulierung "We hold these truths to be self-evident..." zeigt klar, dass es sich um eine Ansicht bzw. um einen Glaubenssatz handelt und nicht um eine objektiv überprüfbare Tatsache, wie eben diejenige, dass der Mensch Nase und Ohren hat. Eine modernere Formulierung wurde 1948 von den Vereinten Nationen angenommen. 1966 kam noch der sog. Zivilpakt über bürgerliche und politische Rechte dazu, sowie der Sozialpakt über wirtschaftliche und soziokulturelle Rechte. Alles zusammen bildet die internationale Menschenrechtscharta.

Wenig bewusst ist dem Westen die islamische Version der Menschenrechte von 1990 (EMRI): Sie basiert auf der Scharia, Frauen sind nicht gleichgestellt und Nichtmuslimen wird das vollwertige Menschsein abgesprochen. Gemäss Präambel der EMRI soll das global durchgesetzt werden, wogegen sich unter den 1,8 Milliarden Muslimen bisher kaum Gegenstimmen vernehmen liessen.  

Breit durchgesetzt haben sich die Europäischen Menschenrechtsideen im 19. und 20. Jahrhundert und zwar vor allem in Europa und Nordamerika, wo durch koloniale Ausbeutung, fossile Energieträger und Industrialisierung der Überfluss so gross wurde, dass es für die herrschende Elite bequemer wurde, der Unterschicht bescheidenen Wohlstand und den Anschein von Rechten zuzugestehen, um Konflikte zu vermeiden.

Ausserhalb von Europa und Nordamerika herrscht dagegen meist nicht Überfluss, sondern Mangel und dann setzt sich fast zwangsläufig eine Clique an die Macht, die für sich schaut, dabei oft stellvertretend die Rolle der früheren Kolonialmächte übernimmt und den Rest der Bevölkerung unterdrückt. Deshalb sind für über 80 Prozent der Weltbevölkerung die Menschenrechte nur Wunschtraum oder Lüge. Auch durch die USA werden sie nur teilweise eingehalten (Guantanamo, Tötungen mit Drohnen ohne Gerichtsverfahren, Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung durch Polizei und Rechtspflege). 

Bei dieser Cliquenherrschaft sind die Unterdrückungsmechanismen immer gleich: Der innere Machtzirkel stützt sich auf zugewandte Profiteure und zusammen kontrollieren sie das Gewaltmonopol des Staates, d.h. Polizei und Armee, denen auch Privilegien zugeschanzt werden. Demokratie, Opposition und unabhängige Justiz werden ausgehebelt und denkende Menschen zum Schweigen gebracht. Die dafür nötige Brutalität und Terror werden oft einem eigenen Repressionsapparat übertragen (Gestapo, KGB, SAVAK). Auch die Wissenschaft ist nicht sicher, wenn sie dem Machtmonopol in die Quere kommt: Papst gegen Galilei, Hitler gegen Einstein, Stalin mit Lysenko gegen die Genetik.

Meist findet diese Unterdrückung hinter einer Fassade oder Benutzeroberfläche statt, die verschieden aussehen, aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der zugrundeliegende Mechanismus immer gleich ist. Das Kostüm ist religiös (Iran, Saudiarabien, pseudoreligiöser Marxismus), oder nationalistisch-militärisch (China, Ägypten), oder beides (Russland, USA). Die detaillierte Beschreibung und Klassifizierung dieser Fassaden scheint nicht sehr relevant, handelt sich doch nur um Rationalisierungen und Konfabulationen.

Selbst fortschrittlichen Staaten droht der Rückfall in Klüngel- und Gewaltherrschft, sobald Mangel eintritt, wie z.B. Deutschland nach der Wirtschaftskrise nach 1929. Auch Trumps Vereinigte Staaten zeigen Anfangssymptome: Verarmung der Mittelschicht, Verzerrung der Demokratie durch Gerrymandering und Behinderung des Wahlrechts, Nähe zu Generälen, Knebelung des Geheimdienstes, der Justiz und der Klimawissenschaft, Liebäugeln mit einer zeitlich unlimitierten Regierungzeit, sodass selbst Republikaner Besorgnis über eine totalitäre Entwicklung äussern. Die Fassade in den USA ist ähnlich nationalistisch-religiös wie in Russland, was wohl die gegenseitigen Sympathien begründet.

Im Zusammenhang mit der Klimakatastrophe reden viele Gutwillige von Menschenrechten und von Klimagerechtigkeit. Aber bei weiterer Erwärmung werden sich Dürre, Mangel und Hungersnöte flächendeckend in der ganzen Welt ausbreiten. Johan Rockström, Direktor am Potsdamer Klimaforschungsinstitut meint, dass die Erde bei vier Grad Globalerwärmung vielleicht nicht mehr acht Milliarden Menschen wird ernähren können, vielleicht nicht einmal mehr die Hälfte davon.

Damit drohen Verteilkämpfe und Massaker auch bei uns. Ein Überlebender des Warschauer Ghettos hat mir erzählt, dass man sich selbstverständlich um das letzte Brotstück totschlage.

Dann gilt nur noch das Recht des Stärkeren, und wenn nichts mehr übrigbleibt hat auch der Kaiser sein Recht verloren. Gleichzeitig wird es langsam auch die Pflanzen- und Tierwelt verbrennen, sodass das Einfordern höherer Rechte speziell für Menschen sowieso illusionär wird.

Wer im Ernst meint, dass 1,5 Grad-Ziel, Menschenrechte und Klimagerechtigkeit mehr als Wunschvorstellungen seien täuscht sich selber und und vielleicht andere. Vor allem beweist er, dass er vom Ernst der Lage nichts begriffen hat.

Dienstag, 3. September 2019

NZZ gegen Wissenschaft

(Zuerst erschienen bei Infosperber vom 4.9.2019, letztmals ergänzt 28.1.2022)

Die Neue Zürcher Zeitung, 1780 als Zürcher Zeitung gegründet, war das Sprachrohr der frühen liberalen Bewegung, sie war die fortschrittliche Zeitung meiner revolutionären Vorfahren, die im Stäfnerhandel und in der Helvetischen Republik aktiv waren, die Zeitung, die seit Generationen von der Zürcher Intelligenz gelesen wurde, die meine Grosseltern und Eltern abonniert hatten und auch ich seit 53 Jahren. 
Mit wachsender Verärgerung und Besorgnis lese ich deshalb in der NZZ Artikel, die in der Klimafrage wissenschaftliche Tatsachen als Meinung darstellen und ihnen die Meinung von Schwätzern und Interessenvertretern gegenüberstellen, um den Eindruck zu erzeugen, dass es darüber noch eine "Debatte" gebe. 

Lange entschuldigte ich das damit, dass Redaktionen halt von Phil-Einsern und Geisteswissenschaftlern dominiert seien, die nicht wissen, dass mit Naturgesetzen nicht zu spassen ist.

Neulich hat aber FDP-Grossrätin und Theologin Frau Dr. Acklin in der NZZ der Klimabewegung Naturvergottung vorgeworfen, was nicht biblisch sei. Beim Versuch zu einer Replik wurde klar, dass die NZZ eine eigentliche Kampagne fährt. Oft benutzt sie dazu das Feuilleton und die Meinungsspalten. Meist wird dabei auf die Schwächen der Jugendbewegung und insbesondere von Greta Thunberg geschossen, ohne dass man sich vertieft mit dem zugrundeliegenden Problem und dem Konsens der Wissenschaft beschäftigt. Die Kommentare sind überheblich, gönnerhaft und meist uninformiert.

Die Liste umfasst inzwischen mindestens 24 Autoren, keiner versteht etwas von Klimaphysik: Weder Chefredaktor und Historiker Gujer (hinter den Links stets deren Artikel), noch der (inzwischen ausgemusterte) Feuilletonchef und Philosoph Scheu, Bodybuilder und Kunstwissenschaftler Scheller, Medienprofessor Bolz, Publizistin Wirz, Anglistin Baer, Ethikprofessor Liessmann, Literaturprofessor Gumbrecht, die Historiker Reinhardt und Schär, Wirtschaftsprofessor Borner, Romancier Bruckner, Germanist  Schulte-Richtering, Wirtschaftshistoriker Ferguson, Literaturkritiker Bucheli, Politologe Serrao, Jurist und Speaker Matuschek, die Volkswirtschaftler Imwinkelried und Rasonyi, Redaktorin Pauline Voss
Marxismus-Experte Scherrer, Betriebswirtschafter Schwarz und schon gar nicht der Dramaturg Klaus-Rüdiger Mai, der sich nicht entblödete, die Klimajugend schamlos in die Nähe der Hitlerjugend zu rücken. Sicher habe ich einige übersehen. Das Ganze ist eine Desinformations- und Verleumdungskampagne, die angesichts des Ernstes der Situation nicht anders als selbstmörderisch bezeichnet werden kann. Und wie schäbig und jämmerlich gegenüber den Klimajugendlichen, die - noch Kinder - hier stehen und nicht anders können: https://www.welt.de/politik/ausland/article200813982/UN-Wie-koennt-Ihr-es-wagen-ruft-Thunberg-den-Politikern-entgegen.html.

Den Verantwortlichen sei ins Gewissen geredet, dass ihre Leserschaft nicht nur aus korrupten Zürcher Bankern besteht, sondern - wenigstens früher - auch aus Wissenschaftlern von zwei der weltweit angesehensten Hochschulen. Die NZZ, der Chefredaktor, der Feuilletonchef, der publizistische Beirat, der Verwaltungsrat, die Aktionäre und die hinter ihnen stehende FDP müssen sich an diesen Äusserungen messen lassen. Sie sollten sich schämen. Eine Weltwoche 2.0 braucht es nicht.

Weitere Artikel zu diesem Thema:

Freitag, 30. August 2019

Offener Brief an einen NZZ-Gastkommentator

Prof. der Medienwissenschaft Norbert Bolz, TU-Berlin
In der Neuen Zürcher Zeitung vom 30.August 2019 schreibt Prof. Norbert Bolz den Kommentar "Generation Greta - Was war schon wieder die Mission der jungen Klimaaktivistin? Kritik an einem Medienphänomen". Das Echo auf Greta sei ein Hype. 

Bolz lehrt Medienwissenschaften an der Technischen Universität Berlin und hat nicht die geringste Kompetenz für die Wissenschaft, die von Greta vertreten wird. So bleibt sein Artikel Schaumschlägerei im Rahmen der systematischen Desinformationskampagne der Neuen Zürcher Zeitung. Der Zeitung sei in Erinnerung gerufen, dass sie nicht nur korrupte Banker als Publikum hat, sondern auch denkende Zeitgenossen. Dieser Brief ging zuerst direkt an Prof.Bolz, er hat nicht reagiert. 

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Sehr geehrter Herr Professor Bolz,

Ihr Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung  "Generation Greta - Was war schon wieder die Mission der jungen Klimaaktivistin? Kritik an einem Medienphänomen" spricht von  Hype. Reden Sie mit Ihren Kollegen vom Potsdamer Institut für Klimaforschung. Es gäbe nämlich auch Tatsachen.

Interessanterweise sitzt der Direktor des Potsdam Institut für Klimaforschung im ehemaligen Büro Einsteins, jenes Einstein, dem vor ca. 80 Jahren per Unterschriftensammlung durch Idioten bescheinigt wurde, dass seine Physik jüdisch, unanschaulich und deshalb falsch sei.

Der Club of Rome hat 1972 einen Kollaps der Ökosysteme für das Jahr 2030 vorausgesagt, falls nicht verschiedene Massnahmen getroffen UND die Bevölkerung stabilisiert werde. Massnahmen wurden keine ergriffen und die verschiedenen Voraussagen des Club of Rome sind bisher ziemlich genau eingetroffen. Zwar hat die grüne Revolution das Nahrungsangebot verdoppelt, aber der Club of Rome hat schon 1972 darauf hingewiesen, dass dies an der Voraussage nichts ändern werde. Inzwischen werden die Sommer heisser, die Pole schmelzen ab, und namhafte Wissenschaftler halten die Situation für ausser Kontrolle und unumkehrbar. 


Greta vertritt den Konsens der Wissenschaft, an dem noch so viele Idioten nichts ändern können. Nur wer das ausblendet kann von Hype sprechen.

Freundliche Grüsse

Lukas Fierz, Dr.med., alt-Nationalrat, Bern, Schweiz

Offener Brief an eine NZZ-Kolumnistin

(Aktualisiert 26.11.2019)

Dr. habil. Béatrice Acklin Zimmermann ist FDP-Abgeordnete im Freiburger Parlament und im Freiburger Agglomerationsrat, Vorstand verschiedener kultureller Institutionen, hat
Dr.habil.Béatrice Acklin Zimmermann
Stiftungsratsmandate. Moderiert regelmässig Podien und Workshops im Schauspielhaus Zürich, in der Neuen Oper Freiburg (NOF) und an den Zürcher Festspielen. Lehraufträge, u.a. an den Universitäten Tübingen, Freiburg i.Br., Bern, Zürich und Luzern. Leiterin Fachbereich an der katholischen Paulus-Akademie Zürich mit Schwerpunkt Beziehungen der Religion/Kirchen zu Politik, Musik, Theater und Literatur, Brückenschlag zwischen gesellschaftspolitischen Debatten und alltagsphilosophischen Fragen sowie Christliche Spiritualität. Sie studierte evangelische und katholische Theologie, Politikwissenschaften und Philosophie in Zürich, Freiburg/Schweiz, Rom und Mailand.

«Angesichts des aktuellen Wechselspiels von Religion und Politik stellen sich in zugespitzter Weise Fragen, die eine kirchliche Akademie aufzunehmen hat, wenn sie ein intellektuelles Forum für die grossen Herausforderungen der Gegenwart sein will.»

In der NZZ vom 30.8.2019 hat Urs Neu die unten verlinkte Kolumne dahingehend kommentiert, dass Umweltschutz einem gesunden Selbsterhaltungstrieb entspreche und, "dies als quasireligiöse Verklärung der Natur darzustellen, erweckt vor allem den Eindruck eines eher kläglichen Versuches, die Folgen unseres Tuns so gut als möglich darzustellen". 

Unser Brief ging zuerst direkt an Frau Dr. Acklin, sie hat nicht reagiert. 
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Sehr geehrte Frau Dr.Acklin,

Mit Ihrer NZZ-Kolumne "Gegen die Vergöttlichung der Natur"  (23.8.2019) gesellen Sie sich zu den mittlerweile mindestens 20  NZZ-Autoren, welche eine gönnerhaft-uninformierte Skepsis gegenüber der Klimabewegung und gegen Greta Thunberg äussern, das ganze eine eigentliche Desinformations- und Verleumdungskampagne. Ich behafte und messe Sie, die NZZ und die FDP auf und an diesen Äusserungen.   

Sie kritisieren in Ihrer Kolumne, dass, wenn die Umweltbewegung den Respekt vor der Schöpfung aus auch religösen Gründen einfordere, sie damit quasireligiöse Züge annehme, dass aber solche "Vergöttlichung der Natur" kein biblisches Gedankengut sei. Recht haben Sie. Aber dann hätten Sie doch auch erwähnen dürfen: Biblisch ist, dass der Mensch sich vermehre sowie Natur und ihre Geschöpfe unterwirft und ausnützt ("Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht" Genesis 1:28). Nur ist inzwischen zweifelhaft geworden, ob das eine gute Maxime ist, oder ob es nicht direkt in die Apokalypse führt, eine Frage, die zu stellen doch erlaubt sein muss. Ich bin ihr jedenfalls nachgegangen. https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/und-was-wenn-wir-uns-nicht-retten-konnen.html. Falls Sie sich in der NZZ informieren, wissen Sie darüber natürlich wenig. Der Abopreis ist dort so hoch, weil man damit bezahlt, dass man darüber nicht lesen muss.

Und bevor Sie das jetzt als «apokalyptisch» abtun: Ich habe den verlinkten Essay drei renommierten Klimatologen vorgelegt: Joachim Schellnhuber (Potsdam), Gernot Wagner (Harvard), Wolfgang Knorr (Lund), alle stimmen zu. Schellnhuber, Berater auch Ihres Papstes, schrieb mir wörtlich: "Deine Verzweiflung und Dein Zorn sind wissenschaftlich leider nicht von der Hand zu weisen". Und falls wir tatsächlich in eine Apokalypse taumeln muss einem liberalen Denken auch die Frage erlaubt sein, ob unsere Religion uns nicht in die Irre führe, und ob wir ihr nicht lieber abschwören sollten. 

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz

Donnerstag, 29. August 2019

Offener Brief an einen Tagi/BUND-Kolumnisten

Immer wieder stösst man auf Kolumnen und Berichte, die einem aufstossen. Hoffend, dass deren Verfasser zu Denkvorgängen gebracht werden können, schreibe ich diesen manchmal persönlich. Nur ausnahmsweise erhält man eine Antwort. Darum schreiben wir vielleicht lieber offene Briefe, damit wenigstens die übrige Öffentlichkeit erfahren kann, was für Stuss abgesondert wird.

Michael Hermann ist regelmässiger Kolumnist bei BUND und TAGES-ANZEIGER. Er studierte Geografie, Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Zürich und  promovierte am Geografischen Institut der Universität Zürich zum Thema «Werte, Wandel und Raum». Er ist Geschäftsführer des Instituts Sotomo, welches gemäss Eigenwerbung "mit  massgeschneiderten Umfragen umfassende Einblicke in die Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen ermöglicht".  

Dieser Brief ging zuerst direkt an Herrn Herrmann. Er hat nicht reagiert.  



Lieber Herr Herrmann,

Ich lese heute etwas ratlos Ihre Kolumne aus BUND und TAGES-ANZEIGER (26.8.2019) über die bevorstehenden Wahlen: Nach Ihnen "können sich die Grünen nur selber schlagen, mit der für das progressive Spektrum so typischen, flüchtigen, in Trägheit umschlagenden Euphorie". Also die gemein-hämische Haltung gegenüber den Grünen und dem Umweltproblem, die wir seit vierzig Jahren bestens kennen, die den bürgerlichen Chefredaktoren passt und die jede Lösung bisher verunmöglicht hat.
Wie wollen Sie denn das «Geschlagen-sein» bzw. «Nicht-geschlagen-sein» definieren? Die Grünen sind doch ab 1980 in der Umweltfrage angetreten, an der sich seit dem ersten Bericht des Club of Rome nicht viel geändert hat. Die Voraussage war damals ein Kollaps der Ökosysteme ab 2030, falls nicht Massnahmen ergriffen UND die Weltbevölkerung sofort stabilisiert werde. Das Problem wäre damals noch irgendwie lösbar gewesen, aber - in Ihren Worten - "die jutesackbewehrten Grünen wurden als gefährliche Wohlstandsgefährder angesehen". Tatsächlich hatten sie bis Frühjahr 2019 nie eine Breitenwirkung. Das hat erst dank Greta geändert.
Inzwischen ist das Umweltproblem zu grossen Teilen oder wahrscheinlich überhaupt nicht mehr lösbar. Lesen Sie das Buch «Change» von Graeme Maxton oder bei Bendell (https://www.lifeworth.com/deepadaptation.pdf). Somit steht fest: Die Grünen sind geschlagen, ganz gleich, wie das Wahlergebnis ausfallen wird. Sie sind doch nicht nur Politologe, sondern auch Geograph, das sollte Ihnen klar sein.
Einige Stichworte: Der Temperaturanstieg ist hundert Mal rascher als frühere Temperaturanstiege und er beschleunigt sich in den letzten Jahren. Alle Prognosen des IPCC waren viel zu optimistisch, die 1,5 Grad Erwärmung werden nicht – wie einst erhofft - 2100 erreicht und nicht 2050, und auch nicht 2040, sondern schon 2030. Die 2 Grad somit 2040. Dann wird Südeuropa vertrocknen und unfruchtbar und der Mittlere Osten wird grossteils unbewohnbar. Bis 2100 steigt die Temperatur mit Einhaltung der Pariser Verträge um 3,2 Grad, und weil sie bisher nicht eingehalten wurden um 4-5 Grad. Damit kann die Erde vielleicht noch 1 Milliarde ernähren, wenn nicht weniger.
Vielfache Selbstverstärkungsmechanismen (Ungebremster Anstieg der Treibhausgase, Flächenbrände, Methanfreisetzung, verminderte Strahlungreflexion durch Eisschmelze) drohen den Temperaturverlauf explosiv zu machen und die höhere Biosphäre sowie die Menschheit in einer «hothouse earth» auszulöschen. Unterwegs wird zuerst das Finanzwesen zusammenbrechen (die Negativzinsen sind ein getreues Marktabbild der ausweglosen Situation), Ihre «flächendeckende Dienstleistungsgesellschaft» wird sich als überflüssig zersetzen, die Industriegesellschaft redimensioniert, es resultieren ein Heer von Arbeitslosen, soziale Unruhen und Hungersnöte. Migrationen von Milliarden und Kriege sind obligatorisch abzusehen. Die bevorstehenden Wahlen sind dafür ziemlich irrelevant.
Man kann sich fragen, wer die Kalamität zu verantworten hat. Der grosse Journalist Arnold Hottinger sagte mir, es sei auch ein Versagen «von uns» (er meinte Presse und Medien) gewesen. Es ist auch ein Versagen der Wissenschaft, die vielfach nicht klar gesprochen hat.
Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass man darüber in den Zeitungen nichts liest. Bei der NZZ bin ich inzwischen zum Schluss gekommen, dass der Abopreis so hoch ist, weil man dafür bezahlt, nichts darüber lesen zu müssen. So kann der brave Bürger ungestört weiter schlafen.
Mit freundlichen Grüssen
Lukas Fierz
Alt-Nationalrat

Mittwoch, 21. August 2019

Call a spade a spade: It's Holocaust 2 (*)


(Translation of "Redet endlich Klartext: Holocaust 2.0", in Bieler Tagblatt vom 17.8.2019, updated 31.7.2021)

Everyone is talking about climate change, a term without direction or threat. This is linguistic nebulisation which is part of our everyday life: the accident, which the insurance does not want to pay, becomes an "event", the genocide of the Armenians becomes a "temporary relocation", money printing becomes "Quantitative Easing". And this nebulization can have deadly consequences: the cause of the Challenger disaster of 1987 was a blown-off O-ring, which had already burned out on previous flights up to a third. One knew that, but by twisting the language up the hierarchy, this defect became a "safety factor of 3" and nothing was done (1). In fact a "safety factor of 3" would mean that nothing happens with a triple overload, but by no means a breakdown by a third under normal load, which signifies a safety factor of zero. Seven astronauts lost their lives.
Fossil by Heartless Machine (10)
And what is nebulised by the word climate change? First, it does not say what's up. “Global warming” would show the direction, but it’s also too pleasant. “Global heating" may be better - after all, heat can already affect. But does that nail the facts?

Every second global heating adds to the earth the energy of three to six Hiroshima bombs (2). It was fantasized that the Paris Climate Agreement of 2015 would limit the temperature rise to 1.5 degrees by 2100. But even if the agreement were met, the temperature would rise 2,4 degrees. But  anyway nobody sticks to it which leads us to 3,2 degrees global warming until 2100 according to official prognoses. That's why in 2017 the 1.5 degrees were moved to the middle of our century and in 2018, the IPCC brought the 1.5 degrees forward to 2040 (3). But even this dramatic report disregards that the greenhouse gases are rising further, bringing the 1.5 degrees forward to 2030, as the respected journal Nature wrote (4), a forwarding by seven decades within about seven years! And all this will be aggravated further by 20 or more percent because of disappearing snow and ice which reduces reflection, a fact also insufficiently considered in the IPCC-reports.

With one and a half degrees of warming 70-90 percent of all coral reefs will perish. The two degrees will destroy 99 percent of coral reefs. In southern Europe, the cultivation of citrus fruit, olives and wine will be impossible. Parts of the Middle East and North Africa (5) as well as Southeast Asia will become uninhabitable. Even with stabilized greenhouse gases any heating achieved would continue for decades. The fatal release of Methane from permafrost and sea has already begun and other self-reinforcing mechanisms can be added at any time. Just as threatening is the galloping species extinction through habitat destruction, poisoning and heat as well as the increasing water scarcity, everything aggravated by an expanding population. The German Federal Intelligence Service estimates that over one billion of people will flee, and that is only the beginning, after which, together with civilization and human rights, a large part of the biosphere will go down.

Climatologist Prof. Joachim Schellnhuber named his book "Self-Combustion" (6) and David Wallace-Wells his "The uninhabitable Earth" (7). That’s what it is: By greed, stupidity and herd instinct we are destroying everything, man and nature through heat, poison and drought. Therefore, the English Guardian does not talk about "global warming" any more, but takes up Greta Thunberg's proposals such as "climate collapse", "climate crisis", "climate emergency", "ecological crisis" etc (8). The famous biologist E.O. Wilson speaks of the "collapse of the ecosystem" (10). But all these expressions are abstract, out-of-the-way, they evoke a disaster that you can face like a flood or an avalanche. They do not imply that everything will end.

For decades, my newspaper the Neue Zürcher Zeitung publishes every few months very vivid and concise articles about the Holocaust. The villains are pointed at with fingers, and shudderingly one reads how human values and victims were exterminated by hunger, weapons, poison and crematoria, and - oh, say the citizens in their slippers and armchairs, - how are we so good... But I am somewhat astonished that the same vividness and precision do not apply to the upcoming elimination of human values, civilization and humanity from hunger, flight, war, environmental poisoning and global burning. What in fact lies ahead of us is the Holocaust 2, this time with gruesome consequences not only for Jews and Gipsies, but for all of us and for a big part of the biosphere. All just as deliberate as the first Holocaust, because causes, actors and consequences are known and visible for all to see. But all bigger by orders of magnitude. This has already started, and meanwhile we are still fighting over cannabis, COVID, genderism, health insurance and retirement age, as if this would have any importance in comparison. 

No, it's not climate change, it’s not global warming, it's Holocaust 2. And yes, we can silence, imprison and expel whoever protests. But this will not solve the problem any more than cowardly closing the eyes before reality.



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(*) It was doubted as to whether the expression "Holocaust 2" (from Greek, literally “Burning of everything”) was admissible. I have therefore submitted this text to a half-Jew and a Gypsy, both of whom had lost relatives in Auschwitz and are thus entitled to judge. Both affirmed that the expression was to the point and could be used.

The term holocaust was used from about 1600, long before the Nazis. Of those who rejected the expression, various claims were made: it was claimed that the first Holocaust was an industrial annihilation, the second was not. Yes, but is the second not industrial par excellence, namely a consequence of industrialization? It was also claimed that the first was deliberate and the second was not. Yes, but did not Exxon decades before the Greens know that the greenhouse effect would lead to catastrophe and still fund disinformation campaigns with hundreds of millions of dollars? And the Koch Brothers and all the bribed "experts", and the editors who do not listen to science or denigrate it (it's curious: If engineers and physicists calculate bridges, railways, airplanes, power plants, we entrust them our life without discussion. Only if they speak about the climate, everything must be lies, isn’t this queer?). It was objected that the first Holocaust had been deliberately run, and the second was "unconscious", but the differences seem small to me: Of course after the Second World War, all Germans said  "we all knew nothing about all that," albeit many had benefited from expulsions and expropriations, as Götz Aly has demonstrated. And hundredthousands of soldiers at least knew of mass exterminations in the East, if they did not even witness or participate. Likewise with climate: Most "know nothing about all that", although the information is freely available, and many young people know it very well. It was also objected that the special thing about the first Holocaust was racial paranoia - but the second Holocaust, is it not also caused by a paranoia? This time a paranoia of growth and consumerism, the consequences being even more appalling. It was said that the first Holocaust was so special because of its unique enormity. Such a view forgets that this enormity will be dwarfed by this new iteration. It was also said, that Holocaust means a specific direction against Jews and Gypsies. So far so good, but the second Holocaust concerns  Jews and Gypsies as well, and this time in in their totality, with the sole difference that this time it affects  everyone else too, including the entire biosphere. Logically the first Holocaust is therefore a mere subset of Holocaust 2. Sometimes the argumentation also turned into irrational polemic, e.g. the use of the term Holocaust was qualified as racist, or the author was mobbed just as the bearer of bad news.

This is all mere shadowboxing:  The question is whether you allow yourself to name the upcoming horror in an understandable and graphic way. In this case all the other words seem too clean, too objectifying, in short insufficient to grasp the impending state failure and the certain downfall of humanity and civilization. For the most part, in these discussions, I had the impression that one is resisting the expression in order to hide the reality under a cloak of squeamish political correctness,  and  -  suddenly everything is no longer urgent, we can move on to business as usual, by going to school, shopping, and going to work, expand highways and airports as before. We prefer to leave everything in the nebulization, right? ... That's exactly what brought upon us this predicament.

References
  1. https://en.wikipedia.org/wiki/Rogers_Commission_Report
  2. https://www.theguardian.com/environment/2019/jan/07/global-warming-of-oceans-equivalent-to-an-atomic-bomb-per-second
  3. https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/sites/2/2018/12/SR15_FAQ_Low_Res.pdf
  4. https://www.nature.com/articles/d41586-018-07586-5
  5. https://www.scinexx.de/news/geowissen/droht-dem-orient-ein-klima-exodus/
  6. https://service.randomhouse.de/book/Self-Combustion/Hans-Joachim-Schellnhuber/e481489.rhd?pub=1&frm=true
  7. https://www.nytimes.com/2019/03/06/books/review-uninhabitable-earth-life-after-warming-david-wallace-wells.html
  8. https://www.theguardian.com/environment/2019/may/17/why-the-guardian-is-changing-the-language-it-uses-about-the-environment
  9. https://www.populationconnection.org/article/an-afternoon-with-an-ant-man/
  10. http://nymag.com/intelligencer/2017/07/climate-change-earth-too-hot-for-humans.html



Donnerstag, 15. August 2019

Und was, wenn wir uns nicht retten können?

(Artikel zuerst erschienen im Journal 21 vom 15.8.2019, aktualisiert am 7.2.2022)

Viktor Vasnetsov (1887): Die vier apokalyptischen Reiter. 

Neu ist, dass sich alles beschleunigt: Das Eis schmilzt rascher als gedacht und wenn es die Strahlung nicht mehr reflektiert steigt die CO2-bedingte Erwärmung nochmals um 20 oder mehr Prozent (1). Das Meer erwärmt sich rascher und steigt rascher (2) als vorausgesagt. Die Treibhausgase steigen weiter, der Temperaturanstieg beschleunigt sich nach wie vor, und die fatale Selbstverstärkung durch Methanfreisetzung und Grosswaldbrände hat eben erst begonnen. Seit Frühjahr 2019 wurden Hunderte von Temperaturrekorden gebrochen, unter anderem mit den wärmsten je gemessenen Monaten Januar, Mai, Juni und Juli.  

Temperatur im Juli (global) 1880-2019

Die vier apokalyptischen Reiter sind: Die Klimaerhitzung (3), die bis hundert mal schneller abläuft, als frühere Erwärmungen. Der Wassermangel (4), der einen Viertel der Menschheit bedroht. Das Artensterben (5) durch Schwund und Vergiftung der Lebensräume. Und nicht zuletzt die Überbevölkerung (6), die Grundursache, die weiter zunimmt. Jeder Faktor kann allein tödlich sein, aber sie wirken zusammen. Der Direktor des Potsdam Instituts für Klimaforschung Johan Rockström, ein Experte für die Grenzen des Planeten sagt, dass es schwierig sei, sich vorzustellen, wie eine 4 Grad wärmere Erde noch acht Milliarden Menschen, oder auch nur die Hälfte davon ernähren könne (7). Und die andere Hälfte? 

Viele rufen nach Massnahmen, und viele balgen sich mit jenen, die die Probleme leugnen. Aber ist das sinnvoll? Gibt es aus diesem vierfachen Overkill überhaupt noch ein Entrinnen? 

Beispielsweise erlebte der Amerikaner Roy Scranton als Soldat im Irakkrieg Schrecken und Staatszerfall. Zurück in den USA dämmerte ihm, dass dieselben Entwicklungen den Industriestaaten bevorstünden. Wie der Soldat das Sterben lernen müsse, müssten im Anthropozän auch wir lernen, zu sterben, und zwar nicht nur als Einzelindividuen, sondern als Kollektiv wie er in seinem Buch
«Learning to Die in the Anthropocene» (8) schreibt.

Unabhängig von ihm sagen die Franzosen Pablo Servigne und Raphaël Stevens in ihrem Buch 
«Comment tout peut s'éffondrer- Petit manuel de collapsologie à l'usage des générations présentes» (9) den Kollaps der Zivilisation voraus. Dazu hier ein zusammenfassendes Interview (10).

Drei persönliche Erlebnisse bestärken meine Sorge: Ein in den Medien dauerpraesenter prominenter Klimatologe, der öffentlich einen milden, lösungsorientierten Optimismus verbreitet sagte uns vor mehr als drei Jahren in privatem Rahmen, dass er nach wissenschaftlichem Ermessen für die Menschheit keinen Ausweg aus dieser Falle mehr sehe.

Und ca. 1973, das heisst kurz nach dem ersten Bericht des Club of Rome, hatte ich einen lebhaften Traum. Ich stand am Rande einer mittelgrossen Kiesgrube, die teils locker renaturiert war. Dort unten zwischen Büschen, in vielleicht zwanzig Metern Distanz war eine kleine Gruppe von nackten ganz grünen Menschen, etwa drei an der Zahl, wohl erwachsen, aber nicht alt. Sie bemerkten mich nicht und sagten zueinander von sich "Wir sind die letzten Menschen". Ich hielt das für einen bedeutungsvollen, einen sog. "grossen" Traum, konnte damit rational nicht viel anfangen und brachte ihn höchstens hypothetisch mit der Umweltsituation in Verbindung. Aber immerhin pflegte C.G.Jung einen Rabbiner zu zitieren, der geschrieben hatte: "Der Traum ist seine Deutung"...

Mein Vater, Markus Eduard Fierz (1912-2006), theoretischer Physiker der ersten Stunde, kannte Pauli, Bohr, Heisenberg, Einstein, arbeitete und lehrte in Basel, Princeton, am CERN und an der ETH. Er hatte eine grosse Intuition und war ein Virtuose für sog. Fermi-Schätzungen, d.h. dem Abschätzen von Grössen aus unzureichenden Vorgaben (Die berühmte Fermi-Frage war: "Wieviele Klavierstimmer gibt es in Chicago?"). Im Alter wurde er äusserst besorgt über die Umwelt und sagte einen allgemeinen Ökokollaps ab ca. 2020 voraus: Natürlich könne man das nicht aufs Jahr genau voraussagen. Aber wenn es einmal beginne werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch bergab gehen. Nachdem ich sowohl Traum als auch Vater jahrzehnte- und jahrelang nicht verstanden hatte, könnten beide am Ende recht behalten. 


Aufschlussreich ist Inhalt und Schicksal eines Artikels von Prof. Jem Bendell (11), des Englischen Hochschullehrers für Nachhaltigkeit, der aufgrund einer grossen Literaturübersicht vertritt, dass die Umweltsituation ausser Kontrolle und unumkehrbar sei. Schon im nächsten Jahrzehnt müsse man mit grossen Krisen, ja mit beginnender Auflösung der Zivilisation rechnen. Dieser Artikel wurde von einer Fachzeitschrift nicht akzeptiert, weil er nicht genug wissenschaftliche Literatur zum Zivilisationskollaps zitiere (es gibt fast keine) und weil er die Leserschaft erschrecken könnte. 

Bendell, die Schnauze voll von dieser akademischen Korrektheit, veröffentlichte den Artikel im Netz, wo er inzwischen eine halbe Million Mal heruntergeladen und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Dort und in einem Interview kommt er zusammen mit dem Klimatologen Wolfgang Knorr (12) zum Schluss, dass auch die Wissenschaft das Publikum nicht wahrheitsgetreu informiere: z.B. vernachlässigten die Berichte des International Panel on Climate Change (IPCC) die beschleunigte Erderwärmung durch steigende Treibhausgase bzw. durch schwindende Strahlungsreflexion wegen Eisschmelze und seien deshalb durchwegs viel zu optimistisch - die beiden Gelehrten sagen wörtlich: "Science is letting down humanity". 

Tatsächlich wird die Katastrophenperspektive überall ausgeblendet: Zwar warnen Wissenschaftler und teils auch Medien seit fünfzig Jahren, aber regelmässig nur sektoriell, vorsichtig und objektiv abgewogen. Mal redet einer von schwindenden Gletschern, ein anderer bespricht die Zukunft des Wintersports, einer berichtet über Insektenschwund, noch einer studiert die Bienen, ein anderer das Gift in den Gewässern, weitere warnen vor den Temperaturen in den Städten, andere betrachten Ernteausfälle oder erforschen Migrationsgründe. Sie haben die Teile in der Hand, aber für die Erkenntnis, dass alles zusammen auf eine selbstverstärkende globale Katastrophe herausläuft fehlt leider das geistige Band. Und so fehlt auch der dringend angebrachte Bezug auf unser eigenes Schicksal und jeglicher Alarmismus. Einig sind sie sich nur darin, weitere Forschung und Geld zu fordern. Und das bewilligen die Politiker nur allzu gern, wenn sie nur sonst untätig bleiben können. 

Haben die Wissenschaftler Angst vor dem eigenen Mut? Fürchten sie Verlust von Kredit und Krediten in der Öffentlichkeit, Verlust der Sendefenster in den Medien, Verlust von Ansehen bei den Kollegen, wenn sie den Klartext redeten, der angebracht wäre und der wehtäte?

Die Weigerung, reinen Wein einzuschenken vermeidet zwar Erschrecken und Depression bei den Adressaten, hat aber die fatale Folge, dass diese sich weiter an die Hoffnung des Weiter-So und klammern. Erst Erschrecken und Depression würden den Weg zu radikalem Umdenken schaffen.


Lange war mir ein Rätsel, wie ein zweifellos so gescheiter, beredter und gebildeter Mann wie Herr Nationalrat Köppel behaupten kann, dass sich die Klimawissenschaft irre. Beim Schreiben dieses Texts ist mir etwas eingefallen: In der praktischen Tätigkeit als Arzt habe ich erfahren, dass einem fast immer geglaubt wird, wenn man deutsch, deutlich und direkt sagt, was Sache ist. Könnte es sein, dass Nationalrat Köppel und andere Skeptiker dumpf und ganz richtig spüren, dass etwas mit den IPCC- und anderen Berichten nicht stimmt und dass sie diese deshalb nicht glauben? Ausgeschlossen scheint das nicht.  

Die fragmentierte Betrachtungsweise finden wir nicht nur bei Wissenschaftlern, sondern auch bei den Besorgten und Grünen. Diese predigen gutgemeinte Einzelmassnahmen wie Vegetarismus oder Plasticverzicht, verschweigen aber fast durchgehend, dass das niemals genügt - man will schliesslich die Wähler nicht verschrecken. Nur die Kinder und die Narren sagen die Wahrheit und führen verzweifelte Kreuzzüge... 

Alle zusammen blenden die Bevölkerungsfrage aus, aber sowieso werden sie überstimmt von den dumpfen Mehrheiten, die Trump, Bolsonaro und Morrison wählen, jene Politiker, die im Grunde schon das Ende der Zivilisation ankündigen. Dazwischen die "gesunde" Mitte der meinungslosen Konsumbürger, der Medien, welche Tatsachen als Meinungen in Frage stellen und der quallenartigen Politiker, die nach Umfrageergebnissen navigieren. Das Resultat ist eine bewegungsunfähige Masse, die in Wellness narkotisiert auf die Katastrophe wartet, wie die Weihnachtstruthähne auf ihrer Truthahnfarm. Ein Arzt, der eine kritische Situation derart nachlässig handhabt landet vor Gericht und im Gefängnis

Was kommen wird zeigt schon jetzt der Nahe Osten mit Hitze, Dürre, Hunger, Staatszerfall, Willkürherrschaft, Seuchen, Krieg und Massenmigration. Das wird sich schubweise auf weitere Regionen und bis zu uns ausbreiten. Besonders störanfällig sind komplexe Systeme wie Grossstädte, Grossverteiler, Hochkultur, Geldwert, Banken, Finanzcasino, Fernverkehr, Altersvorsorge oder Rechtssicherheit. Das Gerede von Menschenrechten und Klimagerechtigkeit wird als Hohn auf der Strecke bleiben. Wir sind in einer suizidalen Kultur mitgefangen und mitgehangen.

Mittlerweile warnt sogar der Generalsekretär der UNO (13), dass wir nur noch bis 2020 haben, um ein Kippen der Situation zu vermeiden. Und doch gibt es kaum eine Reaktion. Protestierende werden eingesperrt oder ausgewiesen. So entsteht die nächste Frage: Wenn wir uns nicht retten wollen oder können, was dann? 

Dann heisst dies das Ende mancher Nationen, mancher Kulturen, vielerorts der Menschlichkeit, Massensterben von Menschen und grosser Teile der belebten Welt, vielleicht überhaupt das Ende der Menschheit. Manch alter Mensch beschäftigt sich mit seinem individuellen Ende. Im Mittelalter gab es sogar die Kunst des Sterbens (Ars moriendi), welche auf einen guten Tod vorbereiten sollte und auf die vier letzten Dinge - Tod, Gericht, Himmel oder Hölle. Immerhin konnten sich Sterbliche mit Nachfahren trösten, welche ihre Ideale, ihr Können, ihre Kultur und ihre Gene weiterführten. Dem Tod der Zivilisation fehlt dieser Trost. Aber irgendwie müssen wir die Haltung zum Tod des Individuums in eine zum Tod der Zivilisation übersetzen. 


Robert Bringhurst and seine Partnerin Jan Zwicky, zwei kanadische Naturwissenschafter, Philosophen und Dichter meinen in ihrem Büchlein  "Learning to die - Wisdom in the Age of Climate Crisis" (14), dass, wenn überhaupt, höchstens einige Menschen das sechste Massensterben überleben dürften, nicht überleben werde aber unsere Zivilisation. Und danach werde niemand von Plato, Bach oder Rembrandt wissen. 

Bringhurst ist kenntnisreicher Buchautor über
Mythen und Kultur der Amerikanischen Ureinwohner (15). Er beschreibt, wie diese sich als Teil einer Natur verstanden, die man nicht dominieren kann. Fremd sei ihnen die abendländische Einstellung, welche die Natur dominieren will, ausgedrückt schon in der Genesis 1:28 "Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht", jene Einstellung also, die eigentlich der Grund für unsere Katastrophe ist.  

Zwicky fragt, welche moralischen Qualitäten wir am Ende unserer Zivilisation bräuchten. Es seien die Qualitäten, die es seit jeher im Leben gebraucht habe: Erkenntnis und das Wissen, dass diese begrenzt sei, Bescheidenheit, Mut, Selbstkontrolle, Gerechtigkeit, Geduld und Barmherzigkeit. Bescheidenheit brauche es, um das Ego aus dem Weg zu räumen, erst das gebe den Mut, den Tatsachen in die Augen zu blicken. Und Mitleid brauche es für jene, welche den Tatsachen nicht in die Augen blicken könnten. Ohnehin seien die eigenen Handlungen und die der anderen nur Gesten in der Luft, die verschwänden wie Musik. Wie die bisherigen Massensterben werde auch das jetzige irgendein Leben zurücklassen, Leben aus dem anderes entstehen werde.  

Diese Streiflichter müssen genügen, aber dieses Büchlein zeigt, dass man das ganze Problem auch ganz anders ansehen kann, als mit Abwehr, Panik, Massnahmenkatalogen und erhobenem Zeigefinger, nämlich mit philosophischer Gelassenheit.  

Wenn das Lebensende des Individuums unausweichlich ist und nur noch aus Leiden besteht, dessen Sinn schwer einsehbar ist, so stellt sich die Frage der Sterbehilfe, die heute manchmal praktiziert wird. Diese Frage wird sich auch stellen, wenn Gesellschaften in Hunger, Seuchen, Plünderung und gegenseitigem Totschlag zugrunde gehen. Die Idee ist nicht neu, im Endzeitroman "On the Beach" 1957 (16) lässt Nevil Shute die letzten Überlebenden des Atomkrieges sich mit Zyankali umbringen, um diesen Endstadien zu entrinnen. 

Es geht auch darum, wie man die letzten Stunden gestaltet: Als die Kinder des von 
Janusz Korczak geführten Waisenhauses (17) das Warschauer Ghetto verlassen mussten gaukelte er ihnen einen Ausflug aufs Land vor und zog sie so schön wie möglich an. Korczak ging mit, vor dem Zug der zweihundert Kinder spielte ein Bub die Geige, händchenhaltend, geschmückt und singend zogen sie zu den Viehwagen, die sie in Treblinka abladen sollten zur unverzüglichen Vergasung. Le style c'est l'homme.


 Weiterführende Hinweise und Literatur:

  1. Wadhams, P. (2016) A Farewell to Ice, Oxford University Press, Oxford.
  2. https://edition.cnn.com/2019/10/30/world/rising-sea-cities-study-intl-hnk-scli-sci/index.html
  3. https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/redet-endlich-klartext-holocaust-2.html
  4. https://lukasfierz.blogspot.com/2019/08/wassermangel.html
  5. https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html
  6. https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wir-sind-zuviele-ein-tabu.html
  7. https://www.theguardian.com/environment/2019/may/18/climate-crisis-heat-is-on-global-heating-four-degrees-2100-change-way-we-live
  8. Roy Scranton: Learning to Die in the Anthropocene, City Light Editions 2016
  9. Pablo Servigne und Raphaël Stevens : Comment tout peut s'éffondrer- Petit manuel de collapsologie à l'usage des générations présente, Seuil, 2015
  10. https://www.letemps.ch/societe/pablo-servigne-faut-faire-deuil-monde-ecrire-une-nouvelle-histoire
  11. https://www.lifeworth.com/deepadaptation.pdf
  12. https://jembendell.com/2019/07/31/climate-scientist-speaks-about-letting-down-humanity-and-what-to-do-about-it/
  13. https://www.un.org/sg/en/content/sg/statement/2018-09-10/secretary-generals-remarks-climate-change-delivered
  14. Richard Bringhust and Jan Zwicky: Learning to Die – Wisdom in the Age of Climate Crisis, University of Regina Press, 2018
  15. Richard Bringhurst: A story as sharp as a knife, Douglas & McIntyre, 2011
  16. Nevil Shute: On the Beach, Vintage, 2010
  17. https://de.wikipedia.org/wiki/Janusz_Korczak