Über mich

Sonntag, 12. Januar 2020

Ist der Mensch gut? (II)

(Kapitel aus Lukas Fierz "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016)

Wer sich abartig benimmt oder sich gefährdet kommt ins Irrenhaus. Die Insassen sagen dem Spinnwinde. Wer stiehlt, vergewaltigt oder mordet kommt ins Gefängnis oder ins Zuchthaus. Dem sagen sie Knast oder Kiste.

Wer lange in der Kiste war muss erneut lernen, sich in Freiheit zu bewegen, mit Geld umzugehen oder mit der Strassenbahn zu fahren. Und nach Jahren in Sträflingskleidung braucht er Zivilkleider. Vier Wochen vor der Entlassung verlegt man ihn deshalb vom Knast in die Spinnwinde. In die offene Abteilung natürlich. Er kann an Beschäftigungstherapien teilnehmen, oder halbtags ein- und ausgehen, wie er will.

Krank sind die nicht und die Strafe haben sie verbüsst. Als junger Assistenzarzt in diesem Irrenhaus hatte ich eigentlich nicht viel mit ihnen zu tun. Immerhin, in einer medizinischen Institution gibt es Rituale - Ordnung muss sein: Der Arzt muss begrüssen, er studiert Gerichtsurteil, Führungsberichte und Akten, er macht ein ausführliches Aufnahmegespräch, pro forma auch eine körperliche Untersuchung. Und täglich Arztvisite.

Um zu zeigen, wie das so geht können wir den Fall von Rüegsegger nehmen: Ein gutaussehender, sauber rasierter Mittvierziger mit markantem Gesicht, sonnengebräunt und muskulös. Typus bäuerlicher Heimatfilm. Für einen Mann eigentlich das beste Alter. Bei der Begrüssung eine raumfüllende Ausstrahlung, durchaus einnehmend. Ein Händedruck wie ein Schraubstock. "Schön, Sie kennenzulernen Herr Doktor". "Jawoll, es ist gut hier Herr Doktor", "Ich sehe das positiv Herr Doktor"... Rüegsegger arbeitet in der Gartengruppe. Wenn man dort vorbeikommt ertönt sein markiges "Tag Herr Doktor". Der Aufseher der Gartengruppe berichtet, dieser Mann könne wirklich anpacken. Der sei tüchtiger als drei andere zusammen. Und was für eine positive Einstellung. Tatsächlich, wenn man ihn fürs Gespräch oder die Untersuchung bittet kommt sofort das markig-metallische "Jawoll Herr Doktor, machen wir gern Herr Doktor". Das muss man dem Knast lassen, die lernen gehorchen.



Die psychiatrische Klinik, wo sich das abgespielt hat.

In den Akten hervorragender Führungsbericht. Nicht die geringsten Probleme im Zuchthaus. Eine voll positive Entwicklung. Da habe einer seinen Weg gefunden schreibt der Direktor.

Der Rüegsegger war ein Berufsmann, hatte Schreiner oder Elektriker gelernt, ich erinnere das nicht mehr genau. Jedenfalls positiv, kein Versager. Machte auch Militärdienst bei der Infanterie.

Der nächste Lebensschritt war die Heirat. Und Rüegsegger heiratete mit 23 Jahren, wie es sich gehört. Nur, irgendwie war das jetzt nicht so positiv. Die gute Frau nervte, es gab Auseinandersetzungen. Und nach drei Jahren nahm Rüegsegger seinen militärischen Karabiner und erschoss die Frau.

Das Gericht beugte sich über den Fall. Heftige Gemütsbewegung schien vorgelegen zu haben. Planung oder Vorbereitung waren nicht greifbar. Man erkannte auf Totschlag. Der Mann war ja sonst positiv. Er sollte seine Chance haben: Drei Jahre Gefängnis. Dort vorbildliche Führung und Einstellung, packte überall an, Jawoll Herr Doktor. Er konnte nach zwei Jahren vorzeitig entlassen werden. Da war er 28.

Mit Dreissig war er das zweite Mal verheiratet. Die Frau nervte. Es gab Auseinandersetzungen. Und nach zwei Jahren beschaffte Rüegsegger eine Schusswaffe... Das war Mord. Kein mildernder Umstand. Der Mann erhielt die Höchststrafe: 20 Jahre Zuchthaus.

Bei guter Führung kann man nach zwei Dritteln der Strafe entlassen werden, Dem stand nichts entgegen. So war er jetzt bei uns, der gutaussehende, braungebrannte, positive Mittvierziger. Jawoll Herr Doktor.

Eigentlich mochte ich den Typen und seine unbekümmert positive Einstellung, im Stil von "wir schaffen das". Da war keine Bosheit, keine Perversion, kein Sadismus. Man konnte ihn gar nicht hassen. Der konnte doch nichts dafür. Bei dem musste wohl eine Schraube locker sein. Wie viel einfacher wäre es gewesen, sich von den nervigen Frauen zu trennen, ohne jahrelanges Vegetieren im Zuchthaus. Was für eine Dummheit, Schusswaffen einzusetzen.

Aber, wenn man an seine Entlassung dachte wurde einem schon mulmig. In ein, zwei Jahren würde er wieder eine Frau finden. Und dann? Das liess mir keine Ruhe. Als junger Arzt gehst Du zum Oberarzt und hoffst auf Rat.

Oberarzt auf der Männerseite war Dr.C., ein beleibter, desillusionierter Fünfziger, der nur selten auf den Abteilungen zu sehen war. Aber als resignierter Altlinker konnte er mit den militant-gewerkschaftlich organisierten Pflegern kutschieren. Eine Symbiose, die nicht jedem gegeben war. Ihm schilderte ich den Fall und mein Missbehagen.

Hinter der randlosen Brille erglomm ein Funke milden Interesses, vielleicht sogar ein Funke früherer linker Ideale: Das komme vom Schuldstrafrecht meinte er mit wegwerfender Geste. Das Bemessen einer Schuld sei wissenschaftlich unmöglich. Und dieser nicht messbaren Schuld eine Strafe zuzumessen sei Hochstapelei. Gescheiter wäre es, die Schuld auszuklammern und den Mann gemäss seinem Gefährdungspotential aus dem Verkehr zu ziehen. Einen Tiger strafe man ja auch nicht, man gebe ihm ein schönes Gehege. Aber weil die Rechten auf Law and Order durch Strafen pochten werde man so einem Fall nicht gerecht.

Bald darauf kam Rüegsegger frei. Sicher hat er wieder eine Partnerin gefunden. Wie es ihr ergangen ist entzieht sich meiner Kenntnis.

Jawoll, Herr Doktor.


____________________________________________________

Zwei weitere Betrachtungen zum gleichen Thema: 


Freitag, 10. Januar 2020

Ist der Mensch gut? (III)

(Kapitel aus Lukas Fierz "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016)

Das war auch so einer aus dem Zuchthaus, der zu uns ins Irrenhaus kam. Als ich den bei der Aufnahme begrüsste waren die Akten noch nicht gekommen. Ich wusste nur seinen Namen, gab die Hand. Guten Tag, Herr Lampart, wir hoffen, dass Sie sich gut zurechtfinden. Morgen werden wir uns ausführlich sehen.

Als Eindruck blieb: Ein kleiner, schmal gebauter, aber kräftig-sehniger Mann. Zum verwaschenen blauen Hemd kontrastierte ein brünetter Teint und eine seidenglänzende braunblonde Schmachtlocke, die war von links nach rechts über die Stirn gebürstet wie bei einem Sonntagsschüler. Vielleicht hatte er sie leicht blond getönt. Und der wachsam-unterwürfige Hundeblick aus den haselnussbraunen Augen verhiess vorauseilenden Gehorsam, wenigstens solang man der stärkere war.

Antipathie oder Sympathie bilden sich in dreissig Sekunden. Hier war es Antipathie. Schmachtlocke und Hundeblick verströmten einen homosexuellen Appell, der mir unangenehm war. Die demonstrierte Unterwürfigkeit wirkte verdächtig. Wollte der mich um den Finger wickeln und wofür?

Immerhin, man gibt sich einen Ruck. Die Menschen sind alle gleich, jeder hat seine Menschenwürde, jeder hat Anrecht auf faire Behandlung. Als Arzt kannst Du nicht verhindern, dass Dir Deine Klienten weniger oder mehr sympathisch sind, ausnahmsweise kannst Du Dich sogar verlieben. Das macht nichts. Du musst es nur merken, es Dir bewusst machen und Dich entsprechend kontrolliert und korrekt zu verhalten.

Anderntags kamen die Akten und ich führte ein kontrolliert-korrektes Aufnahmegespräch ohne voyeuristisches Interesse. Auch er hatte ja seine Strafe verbüsst und das alles ging mich im Grunde nichts mehr an.

Die Akten waren gewichtig: Immerhin hatte er zuletzt zehn Jahre im Zuchthaus gesessen. Eine typische Verbrecherkarriere, Vater unbekannt, Mutter verwahrlost. Er als schwieriges Kind von Heim zu Heim verschoben. Sicher wurde er brutalisiert und wohl auch sexuell missbraucht, wenn alles zutraf, was er laut Akten behauptete. Es war damals zweiter Weltkrieg, harte Zeiten.

Mit zwölf kam er in eine Pflegefamilie, wo er erstmals gut behandelt wurde. Er schloss sich besonders an den Pflegevater an. Von dem redete er auch jetzt noch mit Respekt. Aber trotzdem ging es weiter mit Lügen, Stehlen und Schuleschwänzen. Auch dem Pflegevater entwendete er Geld und zündete sein Schrebergartenhäuschen an, das voll niederbrannte. So kam er halt in ein Heim für Schwererziehbare. Danach lebte er als gewerbsmässiger Kleinkrimineller. Eine bedingte Gefängnisstrafe änderte nichts. Später glitt er in wiederholten bandenmässigen Diebstahl ab. Aus Angst, erwischt und eingesperrt zu werden sei er schliesslich nach Strassburg gereist und habe sich im Rekrutierungsbüro der Französischen Fremdenlegion gemeldet, im Wissen, dass dort jeder eintreten kann, ohne dass nach seinem Vorleben gefragt wird.
Fremdenlegionäre in Nordafrika
Im Gespräch blieben sein Blick ausweichend und seine Antworten einsilbig. Ja, dieser Pflegevater sei gut zu ihm gewesen. Wieso er dieses Gartenhäuschen angezündet habe, wisse er auch nicht. Die Fremdenlegion sei hart gewesen, sie hätten unter Stacheldrahtverhauen durchkriechen müssen bis Hemd und Rücken blutig zerfetzt gewesen seien. Meist sei er in Algerien gewesen. Er verlor kein Wort über den entsetzlichen Kolonialkrieg, den die Franzosen dort geführt hatten. Ich fragte auch nicht weiter danach, was ging mich das an... Er erwähnte nur, dass sie einem als Strafe am frühen Morgen bis zum Hals im Wüstensand eingegraben hätten, dort habe man dann bis zum Abend in der Sonne aushalten müssen, ohne Essen oder Wasser. Acht Jahre sei er dort gewesen. Er habe es bis zum Gefreiten gebracht. Das sei schon eine gute Zeit gewesen.

Nach seiner Rückkehr kamen alle Strafen zusammen: die erste, bedingt erlassene Gefängnisstrafe, die Strafe, der er mit Eintritt in die Fremdenlegion entgehen wollte und die Strafe für fremden Kriegsdienst. Da wurde halt zusammengerechnet und er war weggesperrt auf dem Fels in dem mittelalterlichen Schloss, das seit Jahrhunderten als Zuchthaus dient.

Nach ein paar Tagen kam noch die körperliche Untersuchung. Im Liegen auf der Untersuchungscouch werden Herztöne und Reflexe geprüft. Dann Aufsitzen, um den Rücken und die Lungen von hinten zu untersuchen. Der Rücken war ein einziges Narbenfeld, mit Hügeln und Vertiefungen, teils auch schwärzlichen Verfärbungen. Was das denn sei fragte ich. Er berichtete fast ungerührt, da sei halt eine Granate nicht weit hinter ihm explodiert. Er habe nur knapp überlebt. Über vierzig Metallsplitter habe man herausoperieren müssen, aber die kleinen Splitter habe man dringelassen. Ein halbes Jahr Spital. Gut, da war nichts Medizinisches. In vier Wochen würde er in seine Freiheit gehen.

Später kam noch der Bewährungshelfer vorbei. Der eher vierschrötige Mann mit expansivem Auftreten und Krawatte meinte, der Lampart habe sich gut gehalten, drum werde er jetzt zwei Jahre früher entlassen. Das letzte Jahr sei er in der Aussenstation Bannholz gewesen mit den Pferden und beim Holzen. Dort habe er selbständig gearbeitet. Er hätte jeden Tag abhauen können, aber der sei schon recht und habe seine Lektion gelernt. Nein, nein, die Haare seien nicht gefärbt, der sei einfach immer in der Sonne gewesen, da bleichten sie aus...

Die Organe des Strafvollzugs sehen sich in der Regel im Dienste des Guten, denn Strafe treffe und bewirke Einsicht und Besserung. Das würde man ja gern glauben, wenn es nicht so salbungsvoll vorgetragen würde. Die Salbung erweckt Misstrauen. Übrigens wird das Gewähren und Entziehen von Hafterleichterungen durchaus genussvoll gehandhabt. Das Handhaben von Daumenschrauben muss im Mittelalter eine ähnliche Befriedigung verschafft haben. Geübte Strafgefangene mimen dagegen Einsicht und Besserung und verschaffen sich damit ein leichteres Leben und den Vollzugsorganen ihre narzisstische Befriedigung.

Der Bewährungshelfer war eigentlich gekommen, um mit dem Lampart in die Stadt zu gehen und Kleider einzukaufen. Da Kleider bekanntlich Leute machen muss der neue Mensch nach dem Gefängnis auch neue Kleider haben. Diesmal wollte ich auf die Kleiderexpedition mitgehen, um wenigstens einmal auch diesen Aspekt des Resozialisierungsprozesses mitzuerleben.

Die Häftlinge verdienen im Knast täglich ein paar Franken, das sogenannte Pekulium. Das wird beiseitegelegt. Nach Verbüssung der Strafe blieben vor dreissig Jahren ein paar Hundert Franken, jetzt werden es ein paar Tausend sein. Die gehören ihm und damit kaufte man die Kleider. Das geschah bei vorzeitiger Entlassung in Begleitung des zukünftigen Bewährungshelfers. Man ging immer ins gleiche Geschäft in der schönen Innenstadt. Dort gabs nur Qualitätsware. Ein Outfit kostete damals viele Hundert Franken. Die wurden dem Pekulium des Sträflings belastet.

Man beschaffte zwei Hemden, eine Hose, ein Jackett, Socken, zwei Sets Unterwäsche. Damit haben sie den Lampart eingekleidet. Da stand er jetzt verlegen vor dem Spiegel, mit Hemd, Bügelfalten und einem an den Schultern lächerlich ausgestopften blauen Veston, für den er eigentlich gar keine Verwendung hatte und der auch gar nicht zu ihm passte. Er sah aus wie im falschen Film mit seinem Hundeblick und seiner Schmachtlocke. Aber Verkäufer und Bewährungshelfer befanden den Aufzug für gut und Lampart konnte wieder in die Kabine, um sich umzuziehen. 

Derweil wurde bezahlt. Wahrscheinlich haben sie mich im Geschäft auch als Bewährungshelfer angesehen. Sonst hätte ich beim Zahlen wohl nicht mitbekommen, dass das Geschäft dem Bewährungshelfer zehn Prozent des Kaufpreises in dessen Tasche rückvergütet. Eine wirklich bewährte Methode, damit der nächste Häftling auch wieder bewährte Qualitätsware kauft, die er zwar teils gar nicht braucht, dafür im bewährten teuren Qualitätsgeschäft in der schönen Innenstadt. Schliesslich opfert der Bewährungshelfer seine wertvolle Arbeitszeit für diesen Einkauf und überhaupt entsteht bewährte Harmonie doch am ehesten, wenn die Vollzugsorgane nicht nur den Strafgefangenen, sondern gleichzeitig auch sich selber Gutes tun.

Nach dieser Exkursion schien der Fall für mich erledigt. Manchmal sah ich den Lampart noch auf dem Korridor, aber meist war er unterwegs oder in einer Werkstatt.

Eine Woche später war Morgenvisite auf der offenen Männerabteilung. Der Abteilungspfleger berichtete über dies und das, der übliche Kleinkram. Zum Schluss kam er auf den Lampart. Also der brülle nachts wie ein angeschossenes Tier, das gehe durch Mark und Bein. Die Nachtwache sage, das sei fast jede Nacht so und manchmal höre er fast nicht mehr auf. Und trotzdem sei er kaum zu wecken. Dafür wecke er die ganze Abteilung. Kurios, was konnte das sein? Alpträume? Anfälle?

Wir machten ab, dass man versuche, mit ihm zu sprechen, besonders in der Nacht nach dem Schreien, aber vielleicht war ja auch am Tag etwas herauszufinden. Mir zwar erzählte er nichts, es blieb beim wachsamen, feuchten Hundeblick. Schon als junger Arzt bist Du eine Autoritätsperson, da öffnet sich nicht jeder. Aber die Pfleger und die Nachtwache fanden Zugang und so hörte ich nach und nach folgendes:

Lampart erlebte in den Nächten wieder den Algerienkrieg. Die meisten seiner Unteroffiziere waren Weltkriegsveteranen, die hatten mit den Nazis an der Ostfront gekämpft. Die Methoden der Ostfront habe man auch in Algerien übernommen. Z.B. habe man nach einem Partisanenanschlag grundsätzlich das nächste Dorf vollständig eliminiert. Das geschah nachts, immer ohne Schusswaffen, um Lärm und Aufsehen zu vermeiden. Man habe alles mit dem aufs Gewehr aufgepflanzten Bajonett gemacht. Das Dorf wurde eingekreist, die Bewohner in den Betten massakriert oder auf den Hauptplatz getrieben. Dort habe man zuerst die Männer erledigt, sonst wären die ja noch auf die Idee gekommen, sich zu wehren. Dann die Frauen und Kinder. Schwangeren sei man solang auf dem Bauch herumgetrampelt, bis die Frucht abgegangen sei, nachher konnte man sie liegen lassen oder auch erledigen. Am lustigsten sei es mit Säuglingen und Kleinkindern gegangen: Man warf die hoch in die Luft und ein Kamerad konnte sie dann im Fallen mit dem Bajonett aufspiessen. Das war nicht ganz einfach, manchmal musste man es mehrmals versuchen.

Mir wurde übel. Auch jetzt - vierzig Jahre später - wird mir noch übel, wenn ich das aufschreibe. Ich konnte diesen Kerl nicht mehr aushalten, ihm nicht die Hand geben, mit ihm nicht im gleichen Raum sein. Grausige Ausgeburt der Hölle, die da auf dem Bett sass mit dem klebrigen, anerkennungsheischenden Hundeblick.

Und was war jetzt mit dem inneren Ruck? Schuldete der Arzt nicht jedem die gleiche faire Behandlung? Hatte nicht jeder seine Menschenwürde? Es nützte alles nichts, dieses Monster fiel aus meinem Beziehungsraster. Ich konnte mich als Arzt nicht kontrolliert und korrekt verhalten. Das plagte mich enorm, denn es war mein Ideal, dass der Arzt nicht zu richten und nur zu helfen habe. Mit Drogensüchtigen, Betrügern oder Prostituierten konnte ich immer gut umgehen, die waren Teil des Welttheaters und ich fühlte weder Hochmut noch Überlegenheit. Aber jetzt ging es nicht. Ich war blockiert und auch beschämt, weil ich fand, als Arzt zu versagen. 

Als junger Arzt gehst Du wie gesagt zum Oberarzt und hoffst auf Rat. Eigentlich wäre ja der alte Dr.C. für die Männerseite zuständig gewesen. Aber von seiner desillusioniert-zynischen Weltsicht erwartete ich wenig. Ausserdem ging es ja gar nicht um den Herrn Lampart, sondern um mich, beziehungsweise mein Problem, meine Blockade als Arzt.

So ging ich zu Dr.H., dem Oberarzt für meine weiblichen Patienten. Zu Dr.H. hatte ich Vertrauen. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte aber immer noch einen bubenhaften Strubelkopf und hinter seiner Drahtbrille distanziert-freundliche graue Augen. Sein Büro war in einem abgeschrägten Dachzimmer, über dem Schreibtisch gab das Fenster den Blick auf die alten Bäume frei. Krankengeschichten, Bücher und Zeitschriften lagen herum, auch auf den Stühlen. Hier wohnte nicht einer, der rechteckig aufräumt. Im Büro trug er nie einen Arztkittel, nur seinen abgewetzten graublauen Pullover, der mich an den Lieblingspullover meines Vaters erinnerte.

Wenn man zu ihm kam hatte er meistens Zeit. Dabei sagte er nicht viel: Unvergesslich sein Blick, der Dich stetig fixiert, ohne Eile und fast ohne Neugier, der auch durch Dich hindurch sieht auf das Wesentliche. Ich hasse Leute, die nur sehen, was sie vor der Nase haben. Sein freier Blick erinnerte an denjenigen der Wölfe, die in unserem Zoo in einem riesigen Gehege leben.

Ja, da war etwas vom freien, ursprünglichen Wesen des Wolfes. Aber auch etwas von einem älteren Bruder, mit ihm war man per Du. Mag sein, dass Wolf und Bruder nur Projektionen waren, aber die Empfindungen sind da und bestimmen die Beziehung.

So stieg ich in seinen Dachstock. Die Bürotür war offen. Dr.H. sass am Schreibtisch, mir den Rücken zugewandt. Ich blieb stehen und klopfte. Dr.H. drehte sich, wies mir einen Stuhl und fragte, was sei. Ich setzte mich und berichtete über mein Erlebnis mit dem Lampart. Der sei ja schrecklich, ich könne den nicht aushalten, ich könne mich mit dem gar nicht mehr beschäftigen. Ja und was sollte man in so einem Fall machen? Dr. H. sass zurückgelehnt im Sessel, die Ellbogen auf den Armlehnen aufgestützt und die Hände verschränkt. Er hörte zu, sah durch mich hindurch. Nachdem ich geendet hatte, sah er vor sich hin und sagte lange nichts. Dann schaute er mich wieder an und sagte ganz ruhig, weder belehrend noch behauptend, sondern als einfache Feststellung: Ja weisst Du Lukas, den Teufel gibts. 

Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Denn unter Psychiatern spricht man viel, von den eigenen Problemen, von den Problemen des Kollegen, oder den Problemen, die man mit den Problemen des Kollegen hat und umgekehrt. Manchmal spricht man sogar von den Patienten. 

Und hier nur eine lapidare Feststellung. Kein Wort über mich, über uns, über Lampart. 

So verblieben wir. Es gab den Teufel und da war nichts zu machen. Aber die Schwierigkeit, wegen der ich Dr.H. aufgesucht hatte war schlagartig verschwunden. Ich fühlte mich nicht mehr als Versager, denn ich war im Recht. Der Lampart durfte mir grausen. Und so konnte ich ihm plötzlich wieder guten Tag sagen, sogar die Hand geben, oder mit ihm in einem Zimmer sein. 

Ich muss nicht extra erwähnen, dass diese Geschichte meinen Respekt vor Dr.H. nochmals erhöhte. Ein komplexes Problem mit sieben Worten zu lösen, sowas können sonst nur Zen-Meister. 

Tatsächlich hatte ich den Teufel vorher nur indirekt gekannt, aus Märchen, aus Gotthelfs Schwarzer Spinne, aus Dokumenten über das Dritte Reich und aus den Reportagen von Curzio Malaparte. 

Aber jetzt war er mir persönlich entgegengetreten, der Leibhaftige. Und wie Gotthelf mahnt: Er kann überall und jederzeit wiederkommen.

Glück hat, wer ihm nicht begegnet und von wem er nicht Besitz ergreift.

_________________________________________________

Zwei weitere Betrachtungen zum gleichen Thema: 

Dienstag, 7. Januar 2020

Das extrapolierte Känguru - Roman Buchelis Fantasiewelt

(erschienen am 8.1.2020 auf www.infosperber.ch)

Jetzt hat auch der NZZ-Literaturkritiker Roman Bucheli zum Klimathema zugeschlagen, ein weiteres peinliches Beispiel, wie wenig ein Literat von Naturwissenschaft begreift (viele andere hier).

Im Artikel "Die Zukunft macht was sie will" in der Neuen Zürcher Zeitung vom 7.1.2020 meint er: "Auf der anderen Seite erleben wir derzeit eine Konjunktur apokalyptischer Szenarien. Zumal die Klimabewegung wird nicht müde, auf der Grundlage extrapolierter Datenreihen den bevorstehenden Kollaps vorauszusagen." und zitiert als "Autorität" ausgerechnet den Alt-Weltwocheredaktor Markus Schär mit "Der Weltuntergang findet nicht statt".

Bucheli fährt fort: "...dieses Zukunftsmodell, wenn man es so nennen will, ist in zweifacher Hinsicht nicht besonders innovativ. Es schreibt zum einen die Vergangenheit linear in die Zukunft fort, und es hat zum anderen eine starke konservative Komponente."

Doch Literaturpapst Bucheli irrt: Das Problem ist doch, dass alles nicht linear verläuft, auch die Voraussagen nicht:

  • Der CO2-Ausstoss steigt nicht linear, sondern sich beschleunigend.
  • Damit wird nicht nur die Erwärmung beschleunigt, sondern sogar die Beschleunigung der Erwärmung.
  • Die Methanfreisetzung aus dem Permafrost, die verminderte Strahlungsreflexion wegen Eisschmelze und grossflächige Brände in Südamerika, Sibirien und Australien fügen beschleunigende Rückkopplungsschleifen hinzu.
Diese Nicht-Linearität ist geradezu des Pudels Kern und sie macht eine unbeherrschbare runaway-Situation jederzeit möglich. Wenn man den sich beschleunigenden Temperaturanstieg, die Temperaturrekorde der letzten zwölf Monate und die Brände in Südamerika, Sibirien und Australien betrachtet, so könnten wir schon mitten in diesem runaway sein.

Und Bucheli schliesst: "Nie wird das geschehen, was sie sich vorgestellt haben... Keiner hat eine präzise Vorstellung davon, wie die Welt aussehen wird bei einer Erwärmung von x Grad." Lieber Herr Bucheli: Wir sind hier nicht im Fantasiereich des Feuilletons. Um zu sehen, was die Erwärmung macht müssen Sie sich nichts vorstellen, nur nach Australien sehen. Ist das verkohlte Kängurubaby etwa "extrapoliert"? Die Brände in Australien wurden übrigens von Fachleuten und Feuerwehr vorausgesagt, aber die Regierung weigerte sich, zuzuhören.


Verkohltes Kängurubaby (Australien, Jan 2020)




Samstag, 4. Januar 2020

Das Versagen der NZZ


Sehr geehrte Redaktion der NZZ,

Es wäre aus liberaler Sicht nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie den Alt-Weltwocheredaktor Schär in Form einer Buchrezension von Andrew McAfee's  «More for less» (2019) eine weitere Bagatellisierung der Umweltkatastrophe schreiben liessen, falls Sie andere Standpunkte auch berücksichtigen würden. Aber Ihr Blatt ignoriert systematisch die masstabsetzenden Bücher zum Problem, ich erwähne nur Schellnhuber: Selbstverbrennung (2015), Wallace-Wells: Die unbewohnbare Erde (August 2019), oder Glaubrecht: Das Ende der Evolution (Dezember 2019) - das heisst, das Bagatellisieren ist bei Ihnen Programm (mehr dazu hier: NZZ gegen Wissenschaft).

Australischer Bub (11) steuert das rettende Boot
1983 hat die Freisinnige Partei des Kantons Bern der chancenreichen Leni Robert die Nationalratskandidatur verweigert, was zur Gründung der Freien Liste/Grünen Partei auch im Kanton Bern führte. Wir haben damals der Freisinnigen Partei die Bedeutungslosigkeit vorausgesagt, falls sie die wesentlichen Probleme der Zeit ignoriere. Inzwischen ist die FDP auf diesem Weg schon weit fortgeschritten und ihre zwei Bundesräte sind nicht mehr zu rechtfertigen.

Ihrer Neuen Zürcher Zeitung ist die gleiche Bedeutungslosigkeit vorauszusagen, falls sie sich weiter vor der Schicksalsfrage unserer Zeit drückt, besonders nachdem in den letzten zwölf Monaten eine nie gekannte Zahl von Temperaturrekorden die Erde bedroht. Auch mit Hofieren des Deutschen AfD-Publikums werden Sie sich nicht retten können. Und solange nötig werden wir nicht nachlassen, auf dieses klägliche Versagen Ihres einst stolzen Blattes hinzuweisen.

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz, Alt-Nationalrat

Sonntag, 15. Dezember 2019

Grüne sind keine Populisten - Antwort an Gerhard Schwarz von der NZZ

(aktualisiert am 5.1.2020)

Sehr geehrter Herr Schwarz

Sie sind im publizistischen Beirat der NZZ und wohl mitprägend für deren Berichterstattung. 

In Ihrem neulichen NZZ-Artikel "Der verdrängte grüne Populismus" stellen Sie die Standpunkte der Grünen mit folgenden Formulierungen in Frage: «Muss man nicht viele grüne Forderungen als populär, aber unrealistisch und nachteilig taxieren? Werden nicht gegebene Stimmungen ausgenutzt und durch apokalyptische Visionen bestärkt? Wird nicht allenthalben die Krise beschworen? Sind Grüne nicht genauso Angstspezialisten wie jene, die vor dem Islam oder der Zuwanderung warnen? Werden von ihnen nicht die Machteliten, natürlich vor allem (aber nicht nur) die wirtschaftlichen Machteliten, als verantwortungslos angeprangert? Sehen sich nicht viele Grüne im alleinigen Besitz der Wahrheit und werfen anderen Problemblindheit vor?»

Sehr geehrter Herr Schwarz. Sie behandeln das Wissen um die katastrophale Umweltsituation wie einen Glauben, den man haben oder nicht haben könne. Es handelt sich aber nicht um einen Glauben. Schauen Sie sich die Julitemperaturen der letzten 140 Jahre an: 

Die Julitemperaturen steigen seit 1980 stärker als früher, Messwerte, kein Glauben. Dieser Verlauf wurde schon 1988 von Hansen vorausgesagt und die weiteren Voraussagen lauten auf weiteren Anstieg. Diese Voraussagen werden nicht von Grünen gemacht, sondern von den besten Physikern und Klimatologen die die Hochschulen bei uns und weltweit  hervorgebracht haben. Das sind die Hochschulen und Wissenschaftler, welche auch die Kernspaltung und die Mondlandung möglich gemacht haben. Abweichende Meinungen gibt es, aber sie kommen meist von Leuten, die von Wissenschaft keine Ahnung haben oder von Experten, die sehr alt und senil sind, oder von der Erdölindustrie gekauft.

Wenn wir jetzt ansehen, was die kompetenten Experten (NICHT die Grünen) uns voraussagen ist es folgendes: 

Zunächst gibt es das IPCC, welches den Internationalen politischen Konsens der Regierungen über die Situation formuliert: Es sagt 1,5 Grad globale Temperaturerhöhung für 2040 voraus (vor wenigen Jahren hoffte man noch auf diesen Wert für 2100!). Gemäss diesen Voraussagen erhalten wir bei Einhalten der Pariser Verträge bis 2100 eine globale Temperaturerhöhung von 3,2 Grad.. Da niemand die Pariser Verträge einhält sind wir auf Kurs für global 4-5 Grad gemäss Voraussagen des IPCC. Das sagen nicht die Grünen.

Das IPCC vernachlässigt mehrere unbestritten temperaturerhöhende Mechanismen, das sagen nicht die Grünen sondern erstrangige Fachzeitschriften:    
  1. Das Abschmelzen des Eises reduziert die Rückstrahlung der Erde, was die prognostizierte -Temperaturerhöhung um 20 oder mehr Prozent erhöhen kann.
  2. Der jährliche Treibhausgasausstoss steigt, die Temperatur steigt somit immer schneller und schneller, die 1,5 Grad werden deshalb schon 2030 erreicht sein. 
  3. Seit vier Jahren steigt das Methan in der Luft, ein 30 mal stärkeres Treibhausgas als CO2. Es blubbert im Norden förmlich aus den Gewässern und dem auftauenden Permafrost. Diese Feedbackschleife hat die Kraft, die Erdtemperatur nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahren (wenn nicht Monaten) auf unerträgliche Werte zu steigern. Das IPCC rechnet diesen Mechanismus nicht ein, weil er nicht genau voraussagbar ist.
  4. Die Regen- und Trockenwälder verschwinden rapid, was die natürliche CO2-Elimination beeinträchtigt. 
Aufgrund dieser Feedback- und Verstärkungsmechanismen kann man die IPCC-Voraussagen zur Temperatur locker erhöhen, vielleicht verdoppeln, zudem lassen sie erwarten, dass es irgendwann zu einer galoppierenden runaway-Situation kommen wird. Wenn wir die annähernd 400 Temperaturrekorde diesen Juli und den heissesten je gemessenen September und Oktober 2019 ansehen, so sind wir vielleicht schon mitten drin.

Dass die IPCC-reports nur die Hälfte sagen, man könnte auch sagen, dass sie lügen, liegt daran, dass das IPCC eine regierungsabhängige Organisation ist und nur Konsensstatements abgibt, hinter denen auch Saudiarabien und die USA stehen. Diese Verharmlosung habe ich als laienhafter Beobachter erst Ende 2018 bemerkt, vorher habe ich den Unsinn geglaubt.

Kommen dazu die übrigen Kalamitäten wie Wassermangel für einen Viertel der Weltbevölkerung, das galoppierende Artensterben (sind das Erfindungen der Grünen?) und die weitergehende Bevölkerungsexplosion. Man rechnet, dass die Ernteerträge pro Grad Anstieg um 6 Prozent zurückgehen werden. Johan Rockström, neuer Direktor des Potsdam-Instituts meint sogar, dass die Erde mit 4 Grad Temperaturerhöhung kaum 8 Milliarden Menschen, vielleicht nicht einmal die Hälfte davon ernähren könne.  

Wenn wir 2015 noch glaubten, es brauche Generationen bis zur Katastrophe, so glauben wir jetzt, dass es Jahrzehnte (wennicht nur Jahre) braucht. Bendell und andere rechnen schon innerhalb der nächsten zehn Jahre mit Auflösung der Zivilisation, die US-Army (ist die grün oder links?) gibt sich dafür noch zwanzig Jahre. Nachher kommen Hungersnöte, Seuchen, Migration von Hunderten von Millionen bis Milliarden Menschen, Kriege und Genozide, die den Verhältnissen im Dritten Reich spotten werden. Das ist alles keine Apokalypsenrhetorik, sondern es lässt sich alles mit Publikationen in erstrangigen Journals und Quellen belegen. Der führende Deutsche Klimaforscher Prof.Schellnhuber  hat mir schon 2017 gesagt, dass er für die Menschheit keinen Ausweg aus dieser Falle mehr sehe und 2019 hat er mir zugegeben: «Dein Zorn und Deine Verzweiflung darüber ist leider wissenschaftlich nicht von der Hand zu weisen», es werde «scheusslich» werden (seine Worte). 

Sie sind der mittlerweile einundzwanzigste (!) Autor der NZZ, der so tut, wie wenn es diese Fakten nicht gäbe (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/nzz-gegen-wissenschaft.html). Die einzige Zeitung, die sich der Realität wirklich stellt ist der Guardian. Der unlängst verstorbene Arnold Hottinger hat mir schon 2015 gesagt, dass die Klimakrise auch einem Versagen der Medien geschuldet sei. 

Ein Arzt, der eine derart kritische Situation derart nachlässig handhaben würde, würde vor jedem Bezirksgericht wegen Kunstfehler schuldig gesprochen (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/11/klimapolitik-als-kunstfehler.html).

Die NZZ sollte sich klar sein, dass ihre Leserschaft nicht nur aus korrupten Bankern und raffgierigen Aktionären besteht, sondern auch aus den Angehörigen von zwei der weltweit besten Hochschulen. Für diese ist die publizistische Haltung Ihres Blattes in dieser Frage kläglich und eine Beleidigung. 

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz 
https://lukasfierz.blogspot.com/2019/11/sitemap.html


N.B. Dies wurde Herrn Schwarz zuerst als mail geschickt und blieb ohne Antwort.


Samstag, 23. November 2019

Selbsttorpedierung des Grünen Bundesratsanspruchs

(Erschienen im Journal21 am 25.11.2019, aktualisiert 9.12.2019)

Nach langer Funkstille überraschte GPS-Praesidentin Rytz mit ihrem "Ich bin bereit" zur Bundesratskandidatur. Die Grüne Fraktionssitzung durfte lediglich akklamieren, was nahelegt, dass keine eingehende Abwägung der strategischen Möglichkeiten stattgefunden hatte. 

Wir können die Strategiediskussion ja nachholen: Die Grünen hätten nach dem letzten Wahlergebnis einen Bundesratsanspruch: Gerechteste Sitzverteilung wäre zwei SVP und je ein Vertreter für FDP, CVP, SP, GPS, GLP. Das heisst ein Sitz der FDP müsste an die GLP gehen und ein Sitz der SP an die GPS. Natürlich hätten man lieber eine grüne Mehrheit und vier grüne Bundesratssitze. Aber die haben wir nicht und in Bundesratswahlen sind die vom Wähler vorgegebenen Parteistärken zu akzeptieren, samt Balance zwischen links und rechts. Es bleibt nur, diese Gegebenheiten  taktisch möglichst gut zu nutzen. 

Gemäss Parteistärken hätte man erwarten dürfen, dass die GPS mit ihrer linken Kandidatin Rytz auf die SP losgeht und die GLP auf die FDP. Dazu hätte es eine abgesprochene Zweierkandidatur gebraucht.  

Wegen linker Beisshemmung macht das aber Rytz nicht: Nein, sie greift ausschliesslich Cassis an, denn nur bei seiner Abwahl will sie die Wahl annehmen, nicht aber bei Abwahl Sommarugas. Mit dieser Einzelkandidatur verhindert sie die GLP am Mitspielen und zielt auf eine linke Übervertretung, die in der Mitte wenig Gegenliebe findet. Sendungsbewusstsein in Ehren - aber bei einer Bundesratswahl geht es nicht vor allem darum, ob man selber bereit sei - sondern vielmehr, ob man im real existierenden Parlament eine Chance hat. Da muss man als Person für eine Idee auch einmal zurückstehen und einer aussichtsreicheren Kandidatur den Vortritt lassen können.  

Regula Rytz ist zweifellos eine gute Parteipräsidentin, und im neuen NZZ-Interview hat sie sich gut geschlagen, wenn sie sich auch in der Frage der Bevölkerungsgrösse in typisch Grüner Weise vor klaren Antworten drückt. Als ehemalige Sekretärin von Grünem Bündnis und VPOD ist Rytz auch prononciert links, was ihr gutes Recht ist, was aber gegenüber der Mitte und rechts polarisiert.  

Um Cassis und der FDP den Sitz abzujagen, hätte man eine Kandidatur vorschlagen müssen, welche die GLP sicher mitträgt und die die CVP auch mittragen kann. Deshalb hatte die GLP vor einem alleinigen Vorpreschen von Rytz gewarnt und eine konsensfähige Einzel- oder eine Zweierkandidatur verlangt.  

Für aussichtsreiche Kandidaturen gelten folgende Überlegungen: Unter Parlamentarieren gibt es angriffig-laute, die in der internen Filterblase gut ankommen und Fraktionschef werden, dafür sind sie in anderen Parteien nicht so beliebt. Dann gibt es die Brückenbauer, die in viele Richtungen kommunizieren und Allianzen schmieden können. Die werden nicht Fraktionschef, weil Kommunikation mit anderen Richtungen scheel angesehen wird (ich spreche aus Erfahrung), aber sie geben konsensbildende Exekutivpolitiker ab: Prototypen waren Verena Diener oder Bernhard Pulver, auch Girod könnte in diese Gruppe gehören. Nur solche Kandidaturen vermöchten die GLP und vor allem die CVP zu überzeugen.  

Wenn Rytz nicht noch unerwartete Hilfe von Frauen erhält so betreibt sie im Endeffekt eine Selbsttorpedierung aller Grünen Bundesratsmöglichkeiten zwecks Erhaltung des SP-Besitzstandes. Das Ergebnis wird höchstwahrscheinlich Scheitern und Schmollen sein, war aber deutlich vorauszusehen.  

Für Grüne Selbsttorpedierung gibt es übrigens einen verhängnisvollen Praezedenzfall: Ralph Nader ist seinerzeit als aussichtsloser Präsidentschaftskandidat gegen Al Gore und Bush angetreten, hat dem Al Gore einige Millionen Stimmen und die Praesidentschaft gekostet und uns einen vielleicht tödlichen Rückschlag in der Klimapolitik - wie sagte doch Molières Tartuffe? "Justifier la méchanceté de l'action par la pureté de l'intention"...

Cassis, ein schwacher und angreifbarer Bundesrat darf sich wohl bei Rytz und der GPS für die Wiederwahl bedanken, und die GPS ist weiterhin zum Seitenwagen der SP degradiert. Schade um die verpasste Chance. Man könnte dann nachfühlen, wenn sich einige Grüne verschiedener Richtung verschaukelt fühlten. Ich würde jedenfalls dazugehören.

Montag, 11. November 2019

Inhalt - Sitemap

Übersicht über die wichtigsten Artikel, geordnet nach Themen: Grundprobleme, Folgen, Reaktion.
Some important articles available in English (see last paragraph)

Umweltprobleme:

Bestandesaufnahme


Umweltprobleme: Einige Folgen 

Umweltprobleme: Die Reaktionen


Die COVID-Epidemie


Kommentare zum Zeitfragen: 


Articles available in English:  

Sonntag, 10. November 2019

NZZ steckt Kopf in Sand

(Update 4.4.2020)

Sehr geehrter Herr Scheu,

Als Abonnenten der NZZ lesen wir heute den mindestens neunzehnten Artikel gegen die Klimaproteste, diesmal aus Ihrer Feder gegen die Extinction Rebellion. Die anderen waren meist im Feuilleton, Sie werden sie kennen, teils zeichneten sie sich durch unsägliche Dummheit aus (Bolz, Acklin, Mai), andere sind hier.

Ich möchte Ihnen als verantwortlichem Feuilletonredaktor deshalb die Frage stellen: Sind Sie sich eigentlich klar darüber, dass die schon genug schlimmen Voraussagen des IPCC vier bekannte verschlimmernde Faktoren unterschlagen?
  1. Das Abschmelzen des Eises vermindert die Erdreflexion was den vorausgesagten Temperaturanstieg um 20 oder mehr Prozent erhöhen kann.
  2. Die CO2-Konzentration in der Luft und der jährliche CO2-Ausstoss bleiben nicht stabil sondern steigen weiter an, was das IPCC nicht berücksichtigt.
  3. Das Treibhausgas Methan steigt stark an, freigesetzt durch Erwärmung von Feuchtgebieten und Permafrost, durch Landwirtschaft und Fossilindustrie. 
  4. Die Ur- und Regenwälder gehen weltweit durch Rodung, Trockenheit und Brände zurück, können so immer weniger CO2 binden, und strafen damit den CO2-Ablasshandel mit Zertifikaten Lügen.
Das sind alles keine alarmistischen Behauptungen sondern unbestrittene Fakten.
 
Alle diese Feedbackschleifen müssen irgendwann zu einer sich beschleunigenden Runaway-Situation führen. Die immer schneller ansteigenden Temperaturkurven und der jetzige Sommer mit fast 400 gebrochenen Temperaturrekorden sowie die diesjährigen heissesten je gemessenen September und Oktober wecken den Verdacht, dass wir schon mitten in diesem Prozess sind. Hansen hat 1988 das erste gute und bis jetzt funktionierende Klimamodell eingeführt. Er ist der Meinung, dass wir den Point of No Return schon 2010 überschritten haben und seine Prognosen sind dramatisch.            


Wir können somit die Prognosen des IPCC in die Kategorie der politischen Schönrednerei einordnen. Und was die Politik bisher weltweit und hierzulande getan hat ist völlig ungenügend. Die Forderung nach radikalen Massnahmen ist angesichts dieser Inertie verständlich und berechtigt, man müsste nur noch diskutieren, welche radikalen Massnahmen nötig sind. Im Rahmen unseres bisherigen Denkens werden sie jedenfalls nicht liegen.
 
Es ist mir rätselhaft, wie die NZZ angesichts dieser dramatischen Situation soviel ihres von uns dummen Abonnenten bezahlten wertvollen redaktionellen Raums für Bagatellisierer und Schwätzer reservieren kann und daneben über das wirkliche Problem nur sporadisch und zögerlich berichtet. Auch Ihr Spezialist Herr Tietz scheint mir das Problem nicht wirklich begriffen zu haben oder begreifen zu wollen, oder vielleicht darf er auch nicht schreiben was er denkt, falls er denkt.

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz



Freitag, 8. November 2019

Klimapolitik als Kunstfehler

(erschienen im Tages-Anzeiger vom 9.11.2019, aktualisiert 6.7.2020)

Für einen Arzt ist der Umgang mit der Klimakrise durch Publikum, Politik sowie viele Medien und Experten eigenartig, um nicht zu sagen befremdlich. Ab Beginn der Ausbildung wird dem Arzt klargemacht, das er im Falle einer Fehlleistung - eines sogenannten Kunstfehlers - vor Gericht und sogar ins Gefängnis kommen kann. Kunstfehler können z.B. darin bestehen, dass man eine schlimme, eine noch schlimmere, oder die schlimmste Möglichkeit verpasst. Diese schlimmen Möglichkeiten mögen selten und sehr selten sein, aber das wird vor Gericht nicht helfen. Ein oft angeführtes Beispiel ist die Blutung aus dem Enddarm: Weit häufigste und wahrscheinlichste Ursache sind natürlich harmlose Haemorrhoiden, aber was für den Arzt vor allem zählt ist der Dickdarmkrebs. Wenn er diesen übersieht, und nur Haemorrhoiden behandelt, die auch vorhanden sein können, so kann daraus ein Gerichtsfall werden.


Vergessene Schere
Deshalb ist ist die schlimmste Möglichkeit für den Arzt eine dauernde Sorge, wir suchen sie, wir bereiten uns darauf vor und die harmlosen und häufigen Ursachen sind fast eine Nebensache. Dafür haben wir eine Art doppelte Buchführung im Kopf, zwei Algorithmen: Der eine sucht und berechnet dauernd die wahrscheinlichste Möglichkeit von Ursache/Verlauf/Endresultat,  der andere die schlimmste. Im Zweifel geht man von der schlimmeren Möglichkeit aus. Weil die Medizin ein unpräzises und unvorhersehbares Geschäft ist müssen wir uns oft mit Näherungsresultaten begnügen.  

Die Experten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verhalten sich anders: Sie beliefern uns mit einleuchtenden Voraussagen in der Mitte eines angeblichen Wahrscheinlichkeitskorridors. Als Arzt wäre man reflexartig interessierter an den schlimmsten Möglichkeiten. Aber - wie erst letztes Jahr allgemein durchsickerte - vernachlässigt das IPCC mehrere bekannte verschlimmernde Faktoren und Selbstverstärkungsmechanismen (*) und liefert damit nicht einmal den wahrscheinlichsten Verlauf, gar nicht zu sprechen vom schlimmsten, welche jedoch unser Verhalten bestimmen sollten. Das überrascht nicht sehr, ist doch das IPCC ein von Regierungen abhängiges Gremium: Alle Regierungen wollen im Sattel bleiben und deshalb werden Probleme in der Regel nicht voll zugegeben. 
      
Jedermann spricht von Kippmechanismen und dem Punkt ohne Wiederkehr, welche jederzeit eintreten können, wenn sie nicht schon eingetreten sind. Wenn ich die zunehmend beschleunigten Temperaturkurven betrachte, die fast 400 Temperaturrekorde letzten Sommers, den letzten September, Oktober und Mai - die wärmsten je gemessenen - und wenn ich an das Methan denke, das aus Gewässern und auftauendem Permafrost sprudelt, oder an den immer noch steigenden Output von CO2 und SUV's, an das brennende Australien und an das anhaltende Tabu auf Diskussionen über die Bevölkerungsgrösse, so sagen mir meine internen Algorithmen, dass die Auflösung der Zivilisation in den nächsten Dekaden nicht mehr ein worst-case Szenario ist, sondern das wahrscheinlichste. Worst-case wäre, dass alles schon in den nächsten Jahren passiert.  

Wenn man die Haltung und Reaktion der offiziellen Stellen auf die Klimakrise mit den Massstäben misst, die routinemässig auf ärztliches Handeln angewandt werden, so wäre das ein Fall fürs Gericht. Weil es die ganze Welt betrifft und in einer Art Holocaust 2.0 enden wird müsste man sich etwas wie einen Nürnberger Gerichtshof für die ganze Welt überlegen. Nun könnte man einwenden, dass das schlimme Ende noch nicht bestätigt ist.  Aber wenn es bestätigt ist, wird es für Gerichtsverhandlungen zu spät sein.

Um das Thema auf den Tisch zu legen könnte man sich eine gespielte Gerichtsverhandlung vorstellen, ähnlich Ferdinand von Schirachs Theaterstück "Terror": Ankläger wären  Kinder, Tiere, Pflanzen und ihre Vertreter. Angeklagte wären Regierungen, Firmen, Experten usw. Das Publikum wäre die Geschworenen. Vielleicht könnte eine solche Inszenierung das Bewusstsein über die Dringlichkeit der Situation schärfen.      
________________________________________________
(*) Von den IPCC-Prognosen nicht berücksichtigte Selbstverstärkungsmechanismen: 
  1. Das Abschmelzen des Eises vermindert die Erdreflexion was den vorausgesagten Temperaturanstieg um 20 oder mehr Prozent erhöhen kann.
  2. Die Treibhausgase und ihr jährlicher Ausstoss bleiben nicht stabil sondern steigen weiter an, was den Temperaturanstieg gegenüber den Voraussagen weiter beschleunigt. 
  3. Seit vier Jahren steigt das Methan stark an, weiterer Anstieg ist durch Erwärmung von Feuchtgebieten und Permafrost programmiert, im schlimmsten Fall kann das zu fatalem Temperaturanstieg innert weniger Jahre führen.
  4. Die Ur- und Regenwälder gehen weltweit durch Rodung, Trockenheit und Brände zurück und können so immer weniger CO2 binden, strafen zugleich den CO2-Ablasshandel mit Zertifikaten Lügen.
  5. Seit 2019 sagen verschiedene Klimamodelle mit weiterer Erwärmung einen Schwund der Wolkendecke voraus, was die Erwärmung verstärken könnte. 




Malpractice in climate politics

(translated from "Klimapolitik als Kunstfehler", Tages-Anzeiger 9.11.2019, updated 6.7.2020)

From a physicians viewpoint the approach to global warming by the public, by politics and some media and leading climate professionals seems rather strange: From the beginning of his training a physician is made aware that he will go before court and even to jail if found faulty of malpractice. Possible mistakes could be that you miss a grave, a worse or worst condition. These bad possibilities may be rare, but this  will not help you in court. An often cited example is bleeding from the end of the bowel: Most frequently and most probably this is caused by harmless hemorrhoids. But what counts for a physician is the worst case, and this is carcinoma of the bowel. If you do not rule this out before treating haemorrhoids (which indeed also may be there) it may become a case for court. That’s why for a physician in any situation the worst case is of constant concern, we look and prepare for it, and the harmless and most frequent causes are an aside.

Forgotten scissors
Therefore we have so to speak a sort of double bookkeeping in our heads, two algorithms, one permanently calculating the most probable cause/course/outcome and the other one the worst, and in doubt the latter one overriding the first. Medicine being an unprecise and unpredictable business we often have to make do with rough approximations.  

This is in contrast to the behaviour of the experts of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC): They present us with some probable or plausible middle-of the road projections. A physician would be more interested in worst cases. Anyway - as became clear last year - IPCC omits several known aggravating factors and feedback loops (*) and therefore does not even take into account the most probable outcomes, not to speak of the worst, which however really should determine our behaviour. IPCC being a semigovernmental body this is  not at all surprising: all governments want to stay in the saddle, that’s why as a rule they never report the full scandal.

Everybody mentions tipping points and the point of no return which both of course are to be expected anytime if they did not already happen:  If I consider the accelerating temperature curves, last summers nearly 400 broken temperature records and also last September, October and May being the warmest ever measured  as well as the reports about Methane bubbling out of lakes and permafrost, the still rising output of CO2 and SUV’s, the burning Australia and the still general taboo on discussing population size my internal algorithms tell me that the impending dissolution of civilisation in the next few decades is not anymore a worst-case scenario but the most probable one. The worst case would be that it already happens in the next years. If you measure the attitude of official bodies towards such outcomes by the standards routinely applied to physicians this would be a case for court. Because this concerns the whole world and ends in a sort of Holocaust 2.0 one could consider something like a world Nuremberg tribunal. Now one could object that the worst outcomes have not been confirmed yet. But if they will be confirmed it will be too late for a court.

To put the theme on the table one could imagine a mock tribunal (similar to Ferdinand von Schirachs successful drama “Terror") in a theatre. Accusers could be children, animals, plants and their lawyers etc. Defendants could be governments, corporations, experts etc. The public should be the jury. Perhaps such a staging would rise awareness about the urgency of the situation. 
___________________________________________________

(*) Some aggravating mechanisms and feedback loops not accounted for by the IPCC:  

  1. Disapperance ice and snow reduces the reflection of the earth which can increase the predicted temperature raises by 20 or more percent. 
  2. The CO2-concentration and the CO2-immissions are not stable but increase year by year. 
  3. Since several years there is a raise of methane concentration in the air. Sources include warmed wetlands and permafrost, agriculture and fossil industry. In the worst case this can cause a dangerous raise of the temperatures within years or even months. 
  4. Large-scale destruction of rainforests by clearing, drought and wildfires reduces their capacity to bind CO2 and at the same time invalidate the concept of climate certificates by CO2-compensation.
  5. Since 2019 year several climate models predict a reduced cloud cover of the earth with further warming, which could self-reinforce further warming. 



Dienstag, 22. Oktober 2019

Offener Brief an Tagi-Kolumnistin Frau Barbara Bleisch

(aktualisiert 10.12.2019)

Sehr geehrte Frau Bleisch,

Unter dem Titel "Die Politik der Apokalypse" vertreten Sie die Meinung, dass heute und morgen die Welt nicht untergehen werde, auch wenn manche die Apokalypse herbeiredeten:

Als erstes nennen Sie politisch motivierte Apokalyptiker, zu denen Sie die "Extinction Rebellion" zählen. 

Dann gebe es die endzeitbegeisterten Naturalistiker des "Voluntary Human Extinction Movement", welche die Natur durch Reduktion der Menschenzahl zu retten versuchten.

Im Schlepptau der Naturalisten sammelten sich die nihilistischen Apokalyptiker, die man auch als «Nach-mir-die-Sintflut-Zyniker» bezeichnen könnte. 

Spätestens hier lägen sich die Weltuntergangspropheten in den Haaren. Denn bemühten die einen die apokalyptische Rhetorik, um die Menschen zum Handeln zu animieren, diene sie den anderen zur Rechtfertigung ihrer Untätigkeit.

Dann holen Sie zum Rundumschlag aus: Diese Zuspitzung auf die Apokalypse sei ungenau. Die Endzeit werde nicht heute oder morgen kommen, sondern in Raten: mit Wassermangel, Feuersbrünsten, Stürmen; mit Ernteausfällen, Migrationsströmen, Bürgerkriegen. Wer die Frage auf «Überleben oder Aussterben», auf «Sein oder Nichtsein» reduziere, werde ihr nicht gerecht. Die Frage laute vielmehr: «Wie sein» angesichts dessen, dass sich unsere Lebenszusammenhänge gewaltig verändern werden.


Sehr geehrte Frau Bleisch, sind Sie sich dessen wirklich so sicher? Sollten wir nicht vor der Rhetorik die Fakten klären? 

Unbestreitbar werden die Treibhauskonzentrationen jährlich grösser. Entsprechend ist eine Beschleunigung der Erderwärmung zu erwarten und auch zu beobachten. Dazu hier ein Bericht der angesehenen BBC, den ich so in der hiesigen Presse nicht gesehen habe: https://www.bbc.com/news/science-environment-49773869

Alle Voraussagen des IPCC und der orthodoxen Wissenschaft zur Erderwärmung waren viel zu optimistisch, wie dem ebenfalls angesehenen Scientific American zu entnehmen ist:   

Nicht nur hat der diesjährige Sommer weltweit fast 400 Temperaturrekorde gebrochen  https://www.bbc.com/news/science-environment-49753680), auch dieser September war der heisseste je gemessene: https://www.washingtonpost.com/weather/2019/10/04/earth-just-experienced-its-hottest-september-heads-record-books/.

Der auftauende Permafrost und die wärmeren Böden setzen CO2 frei und und vor allem das dreissigfach potentere Treibhausgas Methan, welches seit wenigen Jahren stark ansteigt:
https://edition.cnn.com/2019/10/12/us/arctic-methane-gas-flare-trnd/index.html.

Last but not least schwindet mit dem Eis auch die Rückstrahlung der Erde, was die Erderwärmung gegenüber den üblichen Prognosen auch um 20 oder mehr Prozent erhöhen kann. 

Das alles ist keine apokalyptische Rhetorik, sondern es sind verifizierbare Fakten, aus denen eine weitere und selbstverstärkende Beschleunigung der Temperaturerhöhung zu erwarten ist. Die Frage ist nur noch, wie rasant die Beschleunigung gehen werde: Vor einigen Jahren hat man noch von einem Mehrgenerationenproblem gesprochen. Neuerdings sah es eher so aus, wie wenn es ein Problem von wenigen Jahrzehnten bzw. einer Generation werden könnte. Wenn allerdings die Selbstverstärkung durch Methanfreisetzung jetzt im Ernst anspringt, wie es eigentlich zu erwarten ist, so kann das Ende auch eine Frage von Jahren oder sogar von nur Monaten werden, wie die sehr gut informierte Catherine Ingram hier darlegt: 
https://www.catherineingram.com/facingextinction/

Was das alles – auch philosophisch oder theologisch  - heissen könnte habe ich hier zusammenzufassen versucht: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/und-was-wenn-wir-uns-nicht-retten-konnen.html.

Wenn Sie das jetzt als apokalyptische Rhetorik abtun, so muss ich einwenden, dass ich diesen Essay vier renommierten Klimawissenschaftlern vorgelegt habe, niemand hatte Einwände. Der Deutsche Klimapapst Prof.John Schellnhuber schrieb mir dazu: «Dein Zorn und Deine Verzweiflung sind wissenschaftlich leider nicht von der Hand zu weisen». Er hat mir übrigens schon vor über zwei Jahren gesagt, dass er keinen Ausweg aus dieser Falle mehr sehe.

Und in dieser Sachlage wäre jetzt wirklich die Sternstunde der Philosophin bzw. der Theologin gefragt und gefordert. 

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz, Alt-Nationalrat



P.S. Wie fast alle NZZ-Leitartikler hat auch Frau Bleisch auf dieses zuerst ihr direkt gesandte mail nicht reagiert.