Über mich

Samstag, 30. Mai 2020

Korruption im Spital

Ein Whistleblower hat Misstände in der Zürcher Herzchirurgie ausgepackt. Die NZZ berichtete nur nebelhaft. Die Spitalleitung und ein in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht spielen die Sache herunter.

Einmal mehr stellt Insideparadeplatz.ch klar, was Sache ist -  Mauschelei, Wegsehen, Vertuschung, medizinischen Grenzverletzungen, Mafiastrukturen und persönliche Bereicherung. Der Whistleblower wurde in die Wüste geschickt.

All das würde mir die noch vorhandenen Haare zu Berge stehen lassen, hätte ich nicht alles vor 35 Jahren im Berner Tiefenauspital genau so erlebt. Ich stiess dort als Vorstandsmitglied auf ähnliche Zustände. Wie jetzt in Zürich tat die SP-Prominenz alles, um die korrupten Verantwortlichen zu schützen und den Skandal unter dem Deckel zu halten, was dann doch nicht gelang. Die Einzelheiten und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen habe ich für mein Büchlein "Begegnungen mit dem Leibhaftigen" (Tredition 2016) aufgeschrieben, hier ist das entsprechende Kapitel: 

  

Die Sumpfweid

Beim Gerichtsmediziner landen Morde und Selbstmorde. Aber auch ein Arzt, der mit Gewissen und Recht in Schwierigkeiten kommt, darf zum Gerichtsmediziner, ist der doch ein halber Jurist. Ich brauchte seinen Rat.  

Um elf Uhr morgens durfte ich vorsprechen. Mit Zigarette und einem Zweier Weisswein sass der Professor (Prof. Eugen Läuppi) am Schreibtisch. Als Toxikologe - Vergiftungsspezialist - war er bekannt dafür, den süssen Giften dieses Lebens nicht abgeneigt zu sein. Er bot mir Stuhl und Glas an, letzteres lehnte ich ab, und er fragte nach dem Problem.

Ich war ja seit zwei Jahren im Vorstand des Stadtspitals Sumpfweid (eigtl. Tiefenau) von Seldwyla (eigtl. Bern). Der Vorstand überwacht Kosten und den erhaltenen Gegenwert. Das Spital hatte den teuersten Pflegetag im ganzen Land. Als neugebackenes stolzes Vorstandsmitglied wanderte ich durch Spitalgelände und Korridore auf der Suche nach dem Gegenwert. Aber im Wartebereich nur abgeschabte Stühle mit teils zerschlissenen Polstern, Vorhänge mit Flecken, manchmal halb heruntergerissen. Auf dem Vorplatz eine behelfsmässige Holzbaracke für das Labor. Alles erbärmlich und provinziell. Mir verging der Stolz. Wo versickerte das Geld?

Von den Ärzten hörte man, sie hätten Monitore für die Intensivstation beantragt, vom führenden Hersteller Hewlett-Packard. Nach unklaren Verzögerungen standen Apparate eines obskuren deutschen Herstellers da. Oder die Röntgenärzte, die einen Bildverstärker wollten und nicht das modernste Produkt erhielten, sondern ein Occasionsgerät von der Luxusjacht eines saudischen Waffenhändlers. Klärung brachte die Geschichte, die mir ein Kollege erzählte: Der Direktor des Städtischen Behindertenheimes erhielt Besuch von einem Vertreter für Bettwäsche, der ihm sagte: Machen wir es wie in der Sumpfweid, Sie kaufen alles bei uns und schon haben Sie ein neues Auto...

Was wollte man machen? Der Direktor der Sumpfweid (Walter Mamie) regierte das halbe Gesundheitswesen von Seldwyla, er beriet den Sanitätsdirektor von Seldwyla, den vorgesetzten Gesundheitsdirektor des Landes Seldwylien, er beriet andere Spitäler, begleitete und realisierte Bauprojekte für Spitäler und Pflegeheime im ganzen Land. Überdies rüstete er die Luxusjacht eines Saudischen Waffenhändlers mit modernstem medizinischem Gerät auf, das, wenn ersetzt, in der Sumpfweid landete. Bei rauschenden Spitalfesten liess er Champagner strömen, bis eingeladene Politiker, Vorstandsmitglieder und Gewerkschafter nur noch mit glasigem Blick unter den Tischen herumkrochen. Sogar von halbbekleideten Orgien im Therapiebad wurde gemunkelt. Jedenfalls hatte dieser Direktor alle in der Tasche, mit allen war er per Du. So zog ich mich auf die Position zurück, die ich schon als Militärarzt eingenommen hatte: Ich mache Medizin und stecke meine Nase nicht in die Sache von Fourier und Feldwebel. Für das Medizinische musste man sich in der Sumpfweid überhaupt nicht schämen. Der Chefarzt (Prof. Guido Riva) war zwar alt und ein Tessiner, aber die geniale Gründlichkeit in Person.    

Jetzt, bei der Wahl seines Nachfolgers, ging es nicht mit rechten Dingen zu. Die besten Kandidaten wurden eliminiert, zum Beispiel der brillante erste Oberarzt des Universitätsspitals, oder der berühmte junge Arzt aus der Nachbarstadt, der gezeigt hatte, wie man eine tödliche Penicillinnebenwirkung vermeidet, damit hatte er weltweites Aufsehen erregt und Tausenden das Leben gerettet... Keiner von denen wurde gewählt. Gewählt wurde der Patensohn des alten Chefs, der allen nach dem Munde redete, aber immerhin mit Studien für Pharmafirmen Geld ins Spital spülte. 

Der Gerichtsmediziner hatte aufgehört zu trinken, sass jetzt leicht vorgebeugt, er hörte intensiv zu, zog an seiner Zigarette und seine Augen schienen etwas aus ihren Höhlen vorzustehen. Sein Interesse war geweckt, von Berufes wegen war er ja an allem Abartigen und Widerrechtlichen interessiert. Ich fuhr weiter:

Über die dortige Korruption habe ich bisher hinweggesehen. Aber jetzt führt sie dazu, dass nicht der beste als Chefarzt zum Zuge kommt. Für die Qualität der Medizin fühle ich mich zuständig. Das geht doch nicht. Diese Wahl muss man rückgängig machen, den Saustall ausmisten. Was soll ich machen?

Der alte Professor lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck und wackelt leise mit dem Kopf. Dann wieder vorgebeugt, fasst er mich intensiv in die jetzt eindringlich vorquellenden Augen und sagt langsam, jedes Wort einzeln betonend: "Der Direktor der Sumpfweid ist der mächtigste Mann im Seldwyler Gesundheitswesen. Da können Sie überhaupt nichts machen."

Der alte Professor war mir väterlich wohlgesinnt, und sein Rat war weise, gutgemeint und gut. Doch was löste er aus? In der Sonntagsschule, die ich als Kind besuchte, gab es eine alte blecherne Spendenkasse, auf der ein kleiner betender Neger sass. Wenn man eine Münze einwarf, so nickte der dankbar mit dem Kopf. Der Satz des Professors war in mir hinuntergefallen, wie die Münze. Und so reflexartig, wie der kleine Neger nickte kam in mir die Reaktion: Dann probieren wir mal, wir werden ja sehen.

Der Angriff, auf den ich vor einem Jahr verzichtet hatte musste jetzt gefahren werden. Aber wie nur diese Festung knacken, diesen Sumpf trockenlegen?

Vom Spitalvorstand, der hier sozusagen das Parlament spielte war nichts zu erwarten. Es war inzwischen klar, dass die meisten Mitglieder seit Jahren wussten, was gespielt wurde. Irgendwie hatte sie der Spitaldirektor in der Hand. Sie hielten zu ihm und sie hielten dicht. 

Ich telefonierte der vorgesetzten Gesundheitsdirektion von Seldwylien und verlangte den Hausjuristen, der mir vom Stadtrat her bekannt war. Ich wurde nur mit seinem Vertreter verbunden, der einen Namen von altem Seldwyler Adel trug, ein Herr de Haberbourg. Ich hörte eine schläfrig-gedehnte Stimme mit französischem Akzent, - worum es gehe? Ich schilderte kurz den Sumpf in der Sumpfweid, die Wahl, und dass jetzt genug Heu drunten sei, die vorgesetzte Behörde müsse handeln. Die schläfrige Stimme zeigte weder Aufregung noch Interesse: Das sei bekannt. Über die Sumpfweid habe man einen Schrank voll Material. Alles, was komme werde dort abgelegt. Aber es werde nichts unternommen. Der Mann leierte weiter: Hier werde sowieso nie etwas unternommen, zum Beispiel dieser Zahnarzt in Oberseldwylien, der seine Patientinnen jeweils mit Lachgas narkotisiert, missbraucht und erst dann behandelt habe, der praktiziere ja auch immer noch.

Später erreichte ich den Hausjuristen, der die Existenz des Schrankes bestätigte und ein Gespräch mit Seldwyliens oberstem Gesundheitsdirektor vermittelte, einem erfahrenen linken Politiker (damals Kurt Meyer). Dieser belehrte mich, dass beim Regieren die Hauptsache das Bewahren von Ruhe und Ordnung sei. Wogen müsse man unter den Teppich kehren, schlafende Hunde nicht wecken und den Rest unauffällig verwedeln. Vom Schrank wollte er nichts wissen und die Seldwyler Lösung des Problems bestand darin, dem de Haberbourg den Telefonanschluss abzustellen und auch jegliche Kompetenz zu telefonischen Auskünften zu entziehen.

Nachdem die Exekutive versagte hätte man an die dritte Gewalt, den Rechtsweg denken können. Aber wen hätte man wegen welchen Tatbestandes einklagen können und mit welcher Legitimation? Das war nebelhaft.

Blieb die vierte Gewalt, die Medien. Wenn man einen Skandal lostreten konnte, so würden Politik und Justiz schon folgen.

Nur wollten die Lokalredaktoren des „Seldwyler Morgenrufes“ (eigtl. Bund) und des „Seldwyler Patrioten“ (eigtl. Berner Zeitung) nichts machen, zu unglaublich schienen die Vorwürfe, zu mächtig die Angegriffenen. 

In diese Blockade kam der Anruf der grossen Zeitung aus der grossen Geldstadt (eigtl. Tages-Anzeiger), die über die kommenden städtischen Wahlen im kleinen Seldwyla berichten wollte. Würden die Ameisenfreunde mit einer eigenen Liste eingreifen?

Ich unterbrach mit meiner brisanteren Geschichte von Sumpf, Gerätehandel, Korruption und getürkter Chefarztwahl. Beim Saudischen Waffenhändler wurde der Redaktor (Niklaus Ramseyer) aufmerksam, denn vor Jahren hatte er über ihn einen grossen Bericht gemacht.

Am nächsten Tag kam alles im Geldstadter Anzeiger auf der Frontseite, dasselbe gleichentags in Radio und Fernsehen, anderntags sogar in der verschlafenen Seldwyler Presse, wo ich mich mit der Aussage zitieren liess, dass die Sumpfweid ein „Tummelplatz für Scharlatane und Betrüger“ geworden sei.

Die Eiterbeule war geöffnet, turbulente Zeiten, Telefone liefen heiss, Untersuchungen auf allen Ebenen.

Der Direktor hatte bei Beschaffungen Prozente kassiert. Und mit dem Geld, das eine uralte Patientin namens Paula Herzig für bedürftige Patienten testamentarisch vermacht hatte war der Direktor mit seiner Frau an die Hundertjahrfeier der Metropolitan-Oper New York geflogen. Der Richter qualifizierte das als «niedere Gesinnung» und das gab Zuchthaus. 

Die Universität fand, dass gewisse wissenschaftliche Untersuchungen des Patensohnes und neuen Chefarztes gar nie stattgefunden hatten, die Resultatbogen enthielten nur Fantasiezahlen. Dafür wurde doppelt Rechnung gestellt, nicht nur an die auftraggebende Pharmafirma, sondern auch an die soziale Krankenkasse der untersuchten Patienten. Der neue Chefarzt wurde auch entfernt.

Der lebenslustige Chirurg, der seine Klinik im Sommerhalbjahr jeweils per Satellitentelefon von der Yacht in der Karibik aus geleitet hatte pensionierte sich freiwillig.

Auch ich bekam mein Fett ab: Vier Mitglieder der Belegschaft klagten mich ein. Mein Fehler war, dass ich alles, was ich an Informationen erfuhr vorzu an den Untersuchungsrichter weiterleitete, aus Angst, vielleicht einmal zusammengeschlagen und ohne Gedächtnis in einem Strassengraben zu enden. Schliesslich hatte man es mit Kriminellen zu tun.

Einige der Informationen waren falsch und das wurde eingeklagt. Eine Meute von vier Seldwyler Spitzenanwälten stand mir vor Gericht gegenüber. Sie plusterten sich im Namen wohlanständiger, gutbürgerlicher Rechtschaffenheit auf, wie die Truthähne. Der neue Chefarzt klagte gegen die Aussage „Sumpfweid als Tummelplatz für Scharlatane und Betrüger“ und blitzte ab. Aber die Oberschwester und ein anderer Beteiligter bekamen Recht und bei ihnen muss ich mich wirklich entschuldigen. Obschon mir ehrenhafte Beweggründe zugestanden wurden, betrug die Busse zehntausend Franken. Schadenfreudig frohlockte einer der Truthähne, dass ich jetzt Kartoffeln fressen könne. Empörte Arztkollegen sammelten innert weniger Wochen das Geld für die Busse. Dagegen wollten die Truthähne auch noch klagen, aber das Zahlen einer Busse für Drittpersonen ist nicht strafbar.  

Einer dieser vier Anwälte vertrat später jahrelang FDP und die wohlanständige, gutbürgerliche Rechtschaffenheit als Richter am obersten Landesgericht.

Wir im Vorstand wählten einen neuen Chefarzt, der uns allen den soliden Eindruck wohlanständiger, gutbürgerlicher Rechtschaffenheit machte.

Neulich kamen jedoch brisante Nachrichten, wiederum aus Geldstadt: Die dortige Feiertagszeitung enthüllte, dass dieser Chefarzt sich für jeden Herzpatienten, den er zur Behandlung an Privatspitäler weiterwies Geld aufs Privatkonto rückvergüten liess, 1005 Franken pro Herzinfarkt und 1072 Franken für einen Herzklappeneingriff. Vor Jahren deswegen von seinem Spitalvorstand zur Rede gestellt habe er eingeräumt, dass dies „rechtliche Fragen und sozialpolitischen Sprengstoff“ aufwerfe. Er zahlte einmalig den fünfstelligen Betrag zurück, den er in diesem Jahr erhalten hatte. Dafür entging er einer Untersuchung oder Meldung an die Gesundheitsdirektion. Von den Zahlungen in den Vorjahren redete niemand. Und Zahlungen liefen danach trotzdem weiter, lediglich auf ein anderes Konto. Merkwürdig.

Der neue Geldstadter Bericht zwang die Seldwyler Gesundheitsdirektion nun doch zu einer Untersuchung. Aber bekanntlich heisst in Seldwyla eine Untersuchung noch lange nicht, dass etwas gefunden werde, selbst wenn etwas zu finden wäre. Und selbst wenn etwas gefunden würde, hätte es ja immer noch Platz in besagtem Schrank. Jedenfalls hat man seither nichts mehr davon gehört. 

Solche Vorgänge sind nun denn doch schon ein ganz klein bisschen verunsichernd. Konnte es sein, dass man die Eiterbeule umsonst aufgestochen hatte?  Wenn es gelungen war, den korrupten Direktor und den Patensohn aus dem Sattel zu heben, war es auch gelungen, den Geist auszutreiben, der hier regierte? Oder war gegen diesen Geist nichts zu machen? Hatte der alte Professor der Gerichtsmedizin womöglich sogar recht behalten?

Ich bin seither nicht mehr so sicher, dass sich in Seldwyla ein öffentliches Spital ordnungsgemäss betreiben lässt. Und ich bin auch nicht mehr so sicher, ob ich noch einmal antreten würde, gegen die versammelte, wohlanständige, gutbürgerliche Rechtschaffenheit.



Freitag, 10. April 2020

Coronakrise und Umweltkrise: Unterschiedliche Reaktion als Altersfrage?

(erschienen im Tages-Anzeiger vom 9.4.2020. Die Redaktion hat dort allerdings den Titel ohne Rücksprache geändert. Updated am 7.6.2020). 

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Prompte Reaktion auf die Coronavirusepidemie


Das Coronavirus hat bisher (Juni 2020) in fünf Monaten ungefähr soviele Menschen umgebracht, wie der weltweite Strassenverkehr im selben Zeitraum. Im schlimmsten Fall wird die Epidemie zwei Jahre anhalten und die Opferzahlen werden vorübergehend die Grössenordnung der Verkehrstoten erreichen. Aber die Coronatoten werden im Gegensatz zu den Verkehrstoten vor allem alte Leute mit Vorerkrankungen sein, die sowieso in absehbarer Weise das Zeitliche gesegnet hätten. Zusätzlich wird es Kollateralschäden geben, weil wegen verstopften Intensivstationen andere Erkrankte nicht adaequat behandelt werden können. Die Wirtschaft wird eine empfindliche Delle erleiden, danach wird die Welt wieder zur Tagesordnung übergehen, genau wie nach der Grippeepidemie von 1918 oder nach der Finanzkrise. AHV und Pensionskassen werden Finanzverluste erleiden, andererseits durch Übersterblichkeit der Pensionäre etwas entlastet. Das Problem der Überbevölkerung bleibt unbeeinflusst.

Öffentlichkeit und Medien brauchten jeweils nur wenige Wochen bis Monate, um das Problem zu begreifen. Die Wissenschafter erhielten überall eine Plattform, die Reaktion der Politik wurde je nach Informationsstand, Kompetenz und Mut der Entscheidungsträger mehr oder weniger schnell hochgefahren, nicht überall rechtzeitig oder ganz adaequat, aber fast überall in beeindruckendem Ausmass. Die Medien sind zu einem gefühlten Viertel mit diesem Problem beschäftigt. Alle möglichen Szenarien werden ausgebreitet und auf hohem Niveau diskutiert. Der bestehende Grundkonsens wird nur von einigen Trollen und selbsternannten Pseudeoexperten gestört, beide nimmt kein seriöses Medium ernst. 

Und trotz all dieses Wirbels wird die Coronavirusepidemie spätestens im Jahr 2022 Geschichte sein. So what?

Inadequate Reaktion auf die Umweltkrise


Vergleichen wir die Reaktion auf die Klima- und Umweltkatastrophe: Durch Überbevölkerung und Überkonsum werden die Lebensgrundlagen gesprengt. Die Lebensmöglichkeiten für andere Kreaturen schwinden wegen Übernutzung sowie Verlust und Vergiftung von Lebensräumen. Geschädigte Ökosysteme und Monokulturen sind empfindlich auf neue Seuchen. Die Erhöhung der Temperatur durch Treibhausgase wurde schon 1988 durch James Hansen auf Jahrzehnte und bis jetzt zutreffend vorausgesagt. Die Folgen wie Überschwemmungen, Dürre, Hunger, Kriege und Migration zeigen sich schon jetzt.

James Hansen wird polizeilich abgeführt
Aber Öffentlichkeit, Medien und Politik haben auch nach Jahrzehnten nicht begriffen, was auf uns zukommt. Die Wissenschaft wurde im regierungsabhängigen Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) insofern neutralisiert, als sie die matchentscheidenden Feedback-Mechanismen höchstens am Rande erwähnt, welche den offiziell vorausgesagten Temperaturanstieg verdoppeln oder sogar jederzeit unkontrollierbar beschleunigen können. Wer wie der erprobte Experte James Hansen trotzdem ausspricht, was Sache ist (Climate Change in a Nutshell - The gathering storm") wird ignoriert oder polizeilich abgeführt.

Soweit die Wissenschaft überhaupt zu Wort kommt wird sie in einer Flut klimaskeptischen Unsinns ersäuft. Sogar sogenannt "seriöse" Medien verunglimpfen Wissenschaftler als "alarmistisch" und deren begründeten Lösungvorschläge als "extrem". Die Folge ist eine durch Deklarationen wie das Pariser Abkommen getarnte politische Reaktionslosigkeit, die bisher nicht einmal imstande war, die absurden Milliardensubventionen für die Fossilindustrie einzustellen.  

Wieso die unterschiedliche Reaktion?


Wir stellen eine Diskrepanz fest: Die Coronavirusepidemie erhält eine riesige und recht effiziente mediale und politische Reaktion, obschon sie eigentlich ausser den sehr Alten niemanden gross bedroht. Die Umwelt- und Klimakrise erhält dagegen nur eine kleine, verharmlosende und völlig ineffiziente mediale und politische Reaktion, obschon sie in den nächsten Jahrzehnten oder sogar Jahren mit grösster Gewissheit die Existenz unserer Zivilisation, diejenige der Menschheit und von grossen Teilen der Biosphäre bedroht.   

Woher diese groteske Diskrepanz? Das Coronavirus bedroht vor allem die Älteren, also jene Altersgruppe, welche in Anzug und Kravatte, in Verwaltungsräten und Regierungen die Gesellschaft faktisch leitet. Nur sie hat die Schalthebel, um Medien, Politik und Gesellschaft dazu zu bringen, ihr altes Leben und ihre alten Interessen zu verteidigen und das tut sie auch.  

Dagegen spart die Umwelt- und Klimakrise genau diese älteren Entscheidungsträger aus, denn sie werden ja wahrscheinlich sterben, bevor die Probleme akut werden. Deshalb ist für sie das Bequemste ein "weiter so" und den Leidtragenden - der jungen Generation – bleibt nur die Möglichkeit, die «alarmistischen» und «extremen» Einsichten der Wissenschaft in wirkungslosen Protesten zu wiederholen.


Weitere Beiträge zur COVID-Epidemie: 



Samstag, 4. April 2020

Different Reactions to Coronavirus and Climate Crisis: A Question of Age Group?

(appeared first on Ugo Bardi's Blog Cassandra's Legacy, updated 7.6.2020)

Prompt response to an epidemic

So far (June 2020), the coronavirus has killed about as many people in five months as the global traffic does regularly in the same time. Only in the worst case will the epidemic last two years and the order of magnitude of the killed will be comparable to the numbers of road accidents for some time. In contrast to the traffic fatalities, the corona dead will be mainly old people with previous illnesses who would have blessed the time anyway in a foreseeable future. In addition, there will be collateral damage other sick people not being adequately treated because of clogged intensive care units. The economy will suffer a severe dent, after which the world will return to the order of the day, just like after the flu epidemic of 1918 or after the financial crisis. Pension funds will suffer financial losses, but will be somewhat relieved by over-mortality of pensioners. The problem of overpopulation remains unaffected.

The public and the media only needed a few weeks to months to understand the problem. Everywhere the scientists were given a platform, and depending on the level of information, competence and courage of the decision-makers, the political reaction came more or less quickly, not everywhere in time or quite adequately, but finally reaching impressive proportions almost everywhere.

An estimated quarter of media content is concerned with this problem. All possible scenarios are expanded and discussed at a high level. The existing basic consensus is only disturbed by some trolls and a few self-proclaimed pseudoexperts, neither of whom are taken seriously by serious media.

And despite all this agitation, the coronavirus epidemic will be history by 2022 at the latest. So what?

Inadequate response to the environmental crisis

Let us compare the reaction to the climate and environmental catastrophe: overpopulation and overconsumption blow up the foundations of life. Space for nonhuman creatures is rapidly disappearing due to overuse and to loss and poisoning of habitats. Damaged ecosystems and monocultures are sensitive to new plagues. An increase in temperature due to greenhouse gases was predicted by James Hansen back in 1988 and his predictions have turned out accurate up to now. The consequences such as floods, droughts, hunger, wars and migration are already apparent.

But even decades later, the public, the media and politics have not understood what will come. Science has been neutralized in the government-dependent Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) which hardly mentions the match-determining feedback mechanisms, which can double the officially predicted temperature rise or even accelerate it uncontrollably at any time. Anyone who, like the tried and tested expert James Hansen, still speaks out what's going on (Climate Change in a Nutshell - The gathering storm ") is ignored or taken away by the police (picture).

And even as far as science has its say, it is drowned in a flood of climate-nonsense. Even so-called "reputable" media denigrate scientists as "alarmist" and their reasoned proposals as "extreme". The result is a lack of political response disguised by declarations such as the Paris Agreement which has not even been able to stop the absurd billion dollar subsidies for the fossil industry.

Why the different reaction?

The coronavirus epidemic is receiving a huge and quite efficient media and political response, even though it doesn't really threaten anyone except the very old. The environmental and climate crisis, on the other hand, receives only a small, trivializing and completely inefficient media and political reaction, although in the coming decades or even years it will most certainly threaten the existence of our civilization, that of humanity and of large parts of the biosphere.

Where can this grotesque discrepancy come from? With the older people, the corona virus threatens exactly the age group that actually leads society, sitting in suits and ties on boards of directors and governments. They have the leverage to get the media, politics and society to defend their old lives and interests and they certainly use it.

In contrast, the environmental and climate crisis is sparing these same older decision-makers, because they are likely to die before the problems become acute. Therefore, the most comfortable thing for them is "business as usual" and the sufferers - the young generation - have little leverage to defend themselves, except repeating the “alarmist” and “extreme” teachings of science in impotent protests.


Some other posts in English:


 


Mittwoch, 1. April 2020

NZZ gegen Virologie

Man erinnert sich mit Wehmut an die alten Zeiten, wo die Wissenschaft in der Neuen Zürcher Zeitung unter der umsichtigen Leitung von Herbert Cerutti ein unangetastetes Reservat hatte. 

Inzwischen stösst man in der NZZ nicht nur im Klimabereich auf allerlei wissenschaftlich Unausgegorenes, so meldet sich jetzt zur Coronakrise auch ein gewisser Reinhard K.Sprenger, Philosoph und Unternehmensberater mit dem steilen Titel: "Virologen regieren die Welt - Politiker gebärden sich als Erfüllungsgehilfen"

Schon der Titel ist falsch: Eine grosse Pandemie erwartet man seit Jahren, und wenn die Virologen wirklich regierten, wäre man besser vorbereitet gewesen. Ein Pandemieplan besteht zwar seit 2004, aber der Chef des Bundesamtes für Gesundheit BAG Dr. med. Thomas Zeltner stellte 2018 in einem Gutachten fest, dass er ungenügend umgesetzt sei mit der Folgerung: "Entsprechend wird man nun vor harte Realitäten gestellt". So hat sich das BAG in der Coronakrise mit seinen untauglichen Faxstatistiken blamiert. Ein Praeventionsgesetz, welches die Krankheitsstatistik schweizweit vereinheitlichen und beschleunigen wollte wurde 2011 von SVP, CVP und Gewerbeverband als eine "Gesundheitsdiktatur" versenkt, welche "eine Büchse der Pandora öffne" (Bild: William Waterhouse (1849-1917): Pandora's Box, 1896).

                                                                                                           
Virologen waren damals nicht beteiligt. Und wenn die Virologen wirklich regierten, wäre man mit Massnahmen gegen das Coronavirus viel schneller gewesen: Man erinnere sich an die frühe Warnung von Prof.Althaus (Bern), der den Verzicht auf Tests "nicht nachvollziehen konnte" und an die dringenden Alarmrufe von Prof.Aguzzi (Zürich) und Prof.Neher (Basel), welche raschere und schärfere Massnahmen forderten. 

In Südkorea ist der erste Coronafall am gleichen Tag aufgetreten wie in den USA. Südkorea hat gemacht, was die Virologie lehrt: Durch flächendeckende Kontrollen und Eingrenzung des Virus blieb es bei 10'000 Infektionen mit 174 Toten, das kostete Millionen. Trumps Resultate in den USA werden Grössenordnungen schlechter sein, mit Kosten von Billionen, und wir liegen irgendwo dazwischen mit Kosten von Milliarden. Wo die Virologen nichts zu sagen haben entstehen Schlamassel und Kosten. 

Um die verschwurbelten Gedankengänge der NZZ-Redaktion besser zu verstehen habe ich den Artikel von Herrn Sprenger dann ganz genau studiert: Sprenger spricht davon, dass "die Politik handlungsfähig bleiben müsse, indem sie das Wechselspiel der gesellschaftlichen Subsysteme moderiere. Dafür brauche sie Urteilskraft und die Fähigkeit der Priorisierung. Diese könne nicht langfristig die Logik der Virologen totalisieren (was immer das heissen mag). Politik müsse insbesondere Spät- und Nebenwirkungen kalkulieren, wie zerstörte Partnerschaften, Firmenkonkurse und irreparable wirtschaftliche Strukturschäden. Für die ganze Gesellschaft bräuchten wir daher Balancen, die alle gesellschaftlich relevanten Aspekte diskutieren und gewichten, nicht nur solche der Virologie..." 

Aber Herr Sprenger kann beruhigt sein, die gesellschaftlich relevanten Aspekte wurden hier alle diskutiert: Nicht die Virologen, sondern die Politik hat den Lockdown beschlossen, weil diesmal die Alten gefährdet sind, diese Alten, welche in Anzug und Kravatte, in Boardrooms und Regierungskabinetten die Welt regieren. Sie schauen gut für sich. 

Und wir können Herrn Sprenger weiter beruhigen: Bei der Umweltkatastrophe, welche ausser diesen regierenden Alten alles bedroht, die meisten Tierarten, Insekten und Meeresbewohner, ja die Zivilisation und die Menschheit, dort wird selbstverständlich nicht auf Fachleute gehört, seien es nun Virologen oder Physiker, sondern zugunsten der Wirtschaft entschieden.  In Sprengers eigenen Worten: "Genau für solche Situationen gibt es Führungskräfte... Menschen, die sich schuldig machen - aus Sicht jener, die anders entschieden hätten... Die, spreche ich es aus, das Dilemma zwischen den Überlebensschancen der Alten und den Zukunftschancen der Jungen entscheiden. Und die - dies vor allem! - in der Inszenierung der Alternativlosigkeit nicht nur einen Anschlag auf die menschliche Intelligenz erkennen, sondern einen auf unsere Freiheit schlechthin." 

Tatsächlich, das Handeln nach Vernunft und Vorsicht ist nicht alternativlos! Man kann auch wissentlich defekte Flugzeuge in den Tod fliegen lassen, abgasmanipulierte Autos und giftige Pestizide vermarkten oder wider besseres Wissen Klimaleugner finanzieren. Dies zu unterbinden wäre wahrlich ein Anschlag auf unsere Freiheit. Das hören die Manager gern, die unsere Welt ruinieren. So wundert nicht, dass sich Reinhard Sprenger auf seiner Website damit rühmt, Beratungsmandate bei sämtlichen DAX-Konzernen in Deutschland gehabt zu haben. Die Resultate sind entsprechend, und die "Führungskräfte" werden ihn gut bezahlt haben. 


 

Freitag, 13. März 2020

Wissenschaftszensur bei der NZZ

Die Neue Zürcher Zeitung führt bekanntlich im Feuilleton eine peinliche Kampagne gegen die Klimawissenschaft mit inzwischen mindestens 22 Beiträgen von Nichtfachleuten, aber dort sind  Literaten unter sich, und so gilt: "Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun".

Neulich schrieb in der NZZ ein Kenner, nämlich Dr. Walter Hehl, ehemaliger Leiter des Kundencenters beim legendären IBM-Forschungslabor Rüschlikon, welches zwei Nobelpreise gewonnen hat. Dieser Mann mit grosser Erfahrung in  angewandter Technologie erwähnt unter dem Titel "Klimawandel - die Natur spielt mit" die fatalen Selbstverstärkungsmechanismen der Erwärmung, welche in den Voraussagen des Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC) ignoriert werden z.B:
  • Das Treibhausgas Methan steigt stark an, freigesetzt durch Erwärmung von Feuchtgebieten und Permafrost, durch Landwirtschaft und Fossilindustrie. 
  • Wolken, Eis und Schnee schwinden, dadurch steigt die Wärmeabsorption der Erde.
  • CO2-absorbierende Wälder und Savannen werden durch Wüsten ersetzt. 
  • U.s.w.
Hehl folgert, dass Klimapessimisten wie Jonathan Franzen nicht lächerlich seien, und dass "ein wenig Verzicht in den nächsten fünfzig Jahren" uns nicht retten werde. 


Waldbrand in Australien

Erfreut gratulierte und dankte ich dem Autor in einem kurzen mail mit der Hoffnung, dass auch die NZZ sich jetzt endlich einer faktenbasierten Diskussion stellen werde. Postwendend kam Antwort, dass in der darauffolgenden Woche noch ein zweiter Artikel über die Problematik von technologischen Massnahmen wie Carbon Capture geplant sei.

Verfrühte Freude. Wenige Tage später kam noch ein mail: Den zweiten Artikel werde die NZZ nicht drucken, er sei von der Wissenschaftsredaktion abgelehnt. Auch der erste Artikel sei von der Wissenschaftsredaktion abgelehnt worden. Nur wegen einer redaktionsinternen  Kommunikationspanne sei er erschienen: Hehl hatte den Artikel nicht nur der Wissenschaftsredaktion geschickt, sondern auch einem ihm bekannten Redaktor, der ihn ohne Rücksprache in den Druck gab und dafür von der Redaktion einen Verweis fasste.    

Ein Grund für die Ablehnung der Artikel ist nicht ersichtlich. Sie beleuchten offensichtliche Lücken der mainstream-Berichterstattung. Fehler können höchstens Details betreffen, die man leicht hätte beseitigen können. Und wenn 22 Schwätzer, die nichts verstehen, im Feuilleton schreiben dürfen, so müsste man doch einem Veteran der Schweizerischen angewandten Technologie ohne weiteres eine Plattform geben. 

Bekanntlich bemüht sich die NZZ mit Erfolg, im rechten Spektrum Deutschlands Leser zu fischen, und es mag sein, dass sie sich mit der verzerrten  Klimaberichterstattung bei der Deutschen AfD anbiedern will. Das ist beschämend und unschweizerisch. Und "Denn sie wissen nicht was sie tun" gilt jedenfalls nicht für eine Wissenschaftsredaktion. 







Montag, 9. März 2020

Brief an einen skeptischen Astrophysiker


Cartoon vom Seneca-Blog von Prof. Ugo Bardi (Mitglied des Clubs of Rome, Hauptblog hier: https://cassandralegacy.blogspot.com/)



Lieber Herr Doktor X.Y.,

Es hat mich sehr gefreut, Sie nach meinem Vortrag vom 7.3.2020 in Zürich zu treffen und mit Ihnen über Phänomene und ihre Interpretation zu diskutieren. Ich danke auch für das mail, das Sie mir danach geschrieben haben und in dem Sie sich bezüglich der Klimaerwärmung als Skeptiker bezeichnen, weil das Klima schon immer geändert habe und weil man nichts so genau wissen könne.   

Ja, die Physiker haben vornehmere Ansprüche an die Wahrheit, als wir Barfussmediziner es uns leisten dürfen. Ein Beispiel ist hier: https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928428/up_179_s_10_beisbart_lam_ger.pdf – aber aus meiner Sicht ist solche Leisetreterei zum Haareraufen.

Vielleicht darf ich doch einmal erklären, wie Ärzte funktionieren:  

Als Arzt darf man nicht jedem Verdacht nachgehen. Es gibt dazu eine riesige begründende Literatur. Die Überlegung ist die: Wenn ich ohne Grund 100 Laborbestimmungen oder Röntgenbilder anordne werde ich wegen der Signifikanzregeln auch bei völlig Gesunden 5 abnorme Werte und  somit eine grosse Verwirrung erhalten. Die Maxime lautet deshalb: Man muss sich zu einem Verdacht und zu einer Abklärung zwingen lassen, dazu braucht es irgendeinen harten Befund: Fieber über eine Woche, ein Lymphknoten oder ein Husten, der nach 6 Wochen nicht verschwunden ist, oder Kopfschmerzen, die alles übertreffen, was man jemals gehabt hat. Erst dann klinkt man sich als Arzt ein, um das Medizin-Spiel zu spielen, dafür vollständig.

Zweitens ist ein Arzt rechtlich und gerichtlich verpflichtet, in jeder Situation an die schlimmste Möglichkeit denken.  Die zugehörigen Überlegungen hier: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/11/klimapolitik-als-kunstfehler.html. Natürlich ist man philosophisch gesehen nie über etwas sicher. Aber wie mein Pathologielehrer Prof.E.Uehlinger uns instruiert hat «Was ein Mann ist, entscheidet sich», und dann handelt man danach und behandelt es z.B. wie Krebs. Auch ein Bergführer kann nicht in epistemologischem Agnostizismus verharren, er muss entscheiden und handeln.  

Jetzt haben wir ja schon einige Katastrophenmeldungen erlebt, neue Eiszeit, Waldsterben, Ozonloch etc. Die Nachrichten über die mögliche Klimaerwärmung sind in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre auch zu uns Grünen gedrungen, und zwar vor allem durch die Atomlobby, die A-Werke verkaufen wollte, später durch Al Gore (der ja paradoxerweise die Wahl wegen Ralph Nader verloren hat). Ich dachte bis ca. 2005, dass ich ja nichts merke und man dann schon sehen werde, wie es laufe. Das heisst, ich befand mich im Agnostizismus-Modus des Arztes, der nicht auf jeden Verdacht reagiert, und in dem Sie offenbar noch sind. Das hat mich nicht daran gehindert, ab 1983 die Grünen mitzubegründen und einen Umbau des Steuersystems von der Arbeitsbesteuerung in Richtung Energiebesteuerung zu verlangen. Schliesslich kann man ja proaktiv handeln.

Meinen Agnostizismus verändert haben nicht Theorien, sondern direkte Beobachtung: Wir haben in Bern ein altes Haus mit einem kleinen Garten. Im letzten Jahrhundert hat man dort im Dachstock geschlafen. Das ist heute im Sommer nicht mehr möglich, es ist zu heiss. Im Garten wächst spontan ein Feigenbaum, der nicht hiehergehört, er hat auch Früchte. Winter mit Schnee, in denen man in der Stadt schlitteln kann, gibt es nicht mehr. Ich kann im Februar im Hemd radfahren, bei Wetter wie früher im April. Im Sommer muss man gewisse Bäume wässern, weil sie sonst sichtbar welken. Im Quartier sind in letzter Zeit mehrere 130 Jahre alte Bäume abgestorben oder vertrocknet. Aus diesen Erfahrungen und aus den Presseberichten im Guardian und anderswo schliesse ich, dass wir eine ganz wesentliche und sich beschleunigende Klimaerwärmung schon haben. Das hat nichts mit Computermodellen oder Rechnungen zu tun, sondern mit persönlicher Erfahrung am eigenen Leib.

Mein Physiker-Papa hat immer gesagt, man solle die unlogarithmierten Kurven ansehen. Wenn etwas sei, so werde man es schon sehen:  



Was mich an dieser Kurve der Julitemperaturen interessiert ist, dass sie nicht einen linearen Anstieg zeigt, sondern einen seit 1980 sich beschleunigenden.

Ich bin, wie gesagt, als Arzt rechtlich darauf verpflichtet, mich mit den schlimmstmöglichen Varianten auseinanderzusetzen. Ich höre von den Physikern, dass das CO2 und die Treibhausgase die Driver der Erwärmung sind. Ich kann das selber nicht beurteilen. Aber das wurde uns schon 1961 im universitären Botanikunterricht als Selbstverständlichkeit mitgeteilt, als noch niemand vom Klima redete. Ich glaube dem Tyndall, Arrhenius, Schellnhuber und seinen Kollegen. Die Gegner des Treibhauseffektes kann ich wenigstens psychopathologisch und als Politiker beurteilen, sie scheinen mir allesamt paranoid, gekauft, dilettantisch, oder senil, oder alles zusammen zu sein.

Auch dass die Treibhausgase steigen kann ich selber nicht beurteilen, aber wegen der Kohle- und Ölverbrennung scheint das self-evident. Ich weiss auch allerlei von der pionierhaften Berner Klima-Arbeitsgruppe: Prof. Houtermans habe ich in den Fünfzigerjahren noch persönlich gekannt, ein grosser Mann von derselben prophetischen Ausstrahlung wie C.G.Jung oder Sandor Veress. Mit Prof.Wanner habe ich korrespondiert, und auch Prof.Stocker bin ich einmal in einer medizinischen Situation begegnet, ohne zu wissen, was er macht, aber ich habe selten im Leben einen derart rasch, klar und intelligent denkenden Menschen gesehen. Auch den Erfinder der Klimageschichte Prof.Christian Pfister habe ich einmal zu gewissen Fragen interviewt. Das sind alles unaufgeregte Wissenschaftler, die mich sehr überzeugen. 

Prof.Oeschger hat nach dem zweiten Weltkrieg als Mitarbeiter von Houtermans die hochempfindliche Methode erfunden, mit der man das Alter von Eisblasen in Eisbohrkernen bestimmt. Er hat den Anstieg der CO2-Konzentration über Jahrzehnte auf 2 Prozent genau vorausgesagt https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928429/up_179_s_14_grafiken_ger.pdf. Natürlich gebe ich Ihnen recht, wenn Sie sagen, dass das Klima immer geändert, und dass es auch früher Warmphasen gegeben habe. Aber dieser Einwand verliert an Gewicht, denn die Berner wiesen nach, dass die Geschwindigkeit des Temperaturanstieges jetzt so rasch ist wie noch nie, und dass die jetzige Warmphase global ist, im Gegensatz zu den früheren: https://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2019/medienmitteilungen_2019/klima_erwaermt_sich_so_schnell_wie_nie_in_den_letzten_2000_jahren/index_ger.html.   

Ich leite daraus ab, dass eine steigende Treibhausgaskonzentration eine sich beschleunigende globale Erwärmung verursacht hat und in aller Wahrscheinlichkeit weiter verursachen wird. Das ist die Arbeitshypothese. Was würde daraus folgen?

In der Medizin haben wir vor sich beschleunigenden Entwicklungen grosse Angst. Wenn Sie eine Hirnhautentzündung mit Meningokokken haben, so verdoppeln sich diese Bakterien alle 20-30 Minuten. Die Folge ist, dass es um Minuten geht. Jede Stunde, die man bis zum Beginn der Therapie verliert kostet einen ziemlichen Prozentsatz Menschenleben. Man wartet deshalb selbstverständlich nicht mit der Behandlung, bis die Diagnose feststeht, sondern behandelt die Möglichkeit und stoppt die Behandlung allenfalls, wenn die Diagnose nicht bestätigt wird. Wenn die Infusion mit den Antibiotica nicht spätestens eine Stunde nach Ankunft im Spital läuft (auch ohne sichere Diagnose!!!) ist das ein einklagbarer Kunstfehler. Diese proaktive Haltung vermisse ich beim Klimaproblem.

Ebenfalls grosse Angst haben wir in der Medizin vor positiven Rückkopplungen. Im Fall der Verengung der Klappe der Hauptschlagader können solche innert Sekunden zum Herztod führen: Jetzt hören wir, dass das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mehrere bekannte Rückkopplungsfaktoren einfach gar nicht einrechnet. Das wundert nicht, denn das IPCC ist regierungsnah und regierungsnahe Organisationen bagatellisieren die Probleme grundsätzlich (siehe mein Bericht "Die Sumpfweid" in meinem Büchlein «Begegnungen mit dem Leibhaftigen», Tredition 2016):

  • Das IPCC rechnet nicht ein, dass die CO2-Konzentration weiter steigt. Das ist doch ziemlich elementar. Damit kriegen wir die 1,5 Grad global schon 2030 (nicht 2040, wie vom IPCC vorausgesagt).  Es hatte einen überzeugenden Artikel von drei Klimatologen darüber im Nature.
  • Das IPCC rechnet die verminderte Strahlungsreflexion durch Eis- und Schneeverlust nicht ein, auch das elementar. Ich sehe keinen Grund, den Voraussagen des führenden Eisexperten Wadhams (Buch "The End of Ice") nicht zu trauen, der meint, dass dadurch die Erwärmung bis 50 Prozent stärker ausfallen könne. 
  • Das IPCC rechnet die Methan-Freisetzung aus Feuchtgebieten und Permafrost nicht ein, obschon das Potential von Methan ja katastrophal ist. Zudem taut der Permafrost offenbar ca. 70 Jahre früher auf, als gedacht.
  • Die Grosswälder werden bald von CO2-Absorbenten zu Emittenten. 
  • Nach neuesten Modellrechnungen könnte die Wolkendecke der Erde abnehmen, was die Erwärmung auch befördert.

Ich komme zurück zu Ihrer Skepsis: Tatsächlich ist alles unsicher, aber überall, wo wir in den letzten Jahren mehr gelernt haben, als vorher, ist es schneller und schlimmer geworden. In meinem einfachen Medizinerverständnis sagt das IPCC nur die halbe Wahrheit, vernachlässigt die gefährlichen Rückkopplungen und es wird wahrscheinlich doppelt so schnell gehen, wenn nicht schneller (mehr dazu: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/und-was-wenn-wir-uns-nicht-retten-konnen.html).

Darüber bin ich natürlich auch nicht sicher, aber diese Deutung scheint mir im Moment die wahrscheinlichste und die, an der man sich praktisch auszurichten hätte. Die meisten Berichte, Gremien und Spezialisten (IPCC, amerikanische Klimatologen, Schellnhuber, Tom Payne, Oxford) sprechen auch davon, dass irgendwann irreversible «Tipping points» auftreten können. Das war ja der Hauptgrund, wieso die Pariser Verträge die Erwärmung auf 1,5-2 Grad begrenzen wollten.  Schellnhuber hat uns ausgerechnet, dass die Eisschmelze den Meeresspiegel nicht nur um einige Meter sondern eine Grössenordnung mehr erhöhen könne. Das braucht Zeit, aber ich sehe auch keinen Grund, ihm nicht zu glauben.    

Wenn es nur das wäre: Wir hatten früher in jeder Wohnung Fliegen und Fliegenschisse an den Fenstern. Diese Fliegen gibt es seit Jahren nicht mehr. Wir hatten immer viele Spinnen im Haus, die Spinnen gibt es seit diesem Jahr nicht mehr. Autoscheiben waren früher im Sommer voll Insekten, das ist nicht mehr so. Das sind persönliche Erfahrungen, keine Theorien. Sie decken sich mit den Berichten darüber, dass wir die Bienen, Insekten, Singvögel etc. verlieren. Grössenordnungsmässig geht es für viele Arten nicht um Prozente sondern um ca. 50 Prozent und mehr, z.B. für die Bienen. Auch hier haben wir aus der Medizin Vorstellungen, die ich hier zusammengefasst habe: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html. Das Fazit: wenn Symptome beginnen ist das oft nicht der Anfang, sondern das Ende des Krankheitsverlaufes.

Dieser Artenverlust hat teils mit Klima, teils mit Giften, aber vor allem auch mit Verlust von Lebensräumen zu tun, und dafür ist der Hauptdriver die Bevölkerungsvermehrung der Menschen. Das Thema ist durch die Gutmenschen und die Grünen tabuisiert und man wird als Faschist bezeichnet, wenn man es anspricht. Aber wenn die Umweltbelastung (U) sich aus ProKopf-Konsum (KK) mal Population (P), dividiert durch Effizienz der Produktion (E) zusammensetzt so ist es doch absurd, dass man den Faktor P nicht diskutieren darf. Das wäre wie wenn man bei e=mv2, die Masse oder die Geschwindigkeit nicht diskutieren bzw. variieren dürfte.    

Das IPCC sagt eine Temperaturerhöhung von 4-5 Grad bis 2100 voraus. Schon damit wird man an vielen Orten der Erde physisch nicht mehr leben können (wet bulb temperature). Die Nahrungsmittelproduktion wird dadurch limitiert. Rockström der neue Chef des Potsdam-Instituts ist nicht sicher, ob eine 4 Grad wärmere Erde noch acht Milliarden Menschen oder auch nur die Hälfte davon wird ernähren können wird. Und vielleicht ist die IPCC-Prognose ja nur die halbe Wahrheit…

Die Klimajugend sieht den Puck nicht so, glaubt noch grossteils den Voraussagen des IPCC, glaubt an Klimagerechtigkeit und meint, etwas machen zu können.

Da man – wie Sie richtig sagen – ausser Alibimassnahmen nichts unternehmen wird, wird höchstwahrscheinlich alles in einer Apokalypse enden mit gegenseitigem Totschlagen, Verhungern und Seuchen (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/die-fragilitat-von-menschenrechten-und.html). Es gibt mehrere Leute, die denken, dass das bald deutlich werden könnte (Bardi I, Franzen USA, Servigne F, Bendell UK, Scranton USA, Bringhurst und Zwicky CA, Andrew Glickson AU). Im übrigen genügt es ja, in den Mittleren Osten, nach Afrika oder nach Mittelamerika zu blicken, um den Beginn schon zu sehen. 

Mein 2006 verstorbener Vater, Physikprofessor an der ETH, der wie ich Ihnen erzählt habe sehr gut in Fermi-Rechnungen war, hat geschätzt, dass der Kollaps ab ca. 2020 beginnen werde. Er meinte, dass man sich in diesem Zeitpunkt natürlich um einige Jahre oder höchstens wenige Jahrzehnte täuschen könne. Aber wenn es einmal beginne, werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch gehen (Jahre). Das deckt sich mit den Ansichten von Prof.Ugo Bardi, der das als «Seneca-Cliff» bezeichnet. 

Wenn ich berücksichtige, dass wir jetzt den wärmsten je gemessenen September, Oktober, Januar und Winter gehabt haben und dass Wälder grossflächig abbrennen, so könnte der zu erwartende Runaway tatsächlich begonnen haben, und mein Vater sogar noch recht behalten. Wenn das auch nicht sicher ist, so werden wir es in wenigen Jahren wissen.  

Gescheiter wäre es, Einkindfamilien zu haben, das Fliegen und das Autofahren einzustellen, alle Häuser auf Nullenergie zu isolieren, und die Wirtschaft auf Sustainability und Degrowth
auszurichten. Damit könnte man sofort beginnen und dann hätten wir vielleicht noch eine Chance. Aber seit 40 Jahren geschieht nichts, Presse, Ingenieurvereinigungen, Wirtschaftsführer faseln weiter von Wachstum, SUVs werden verkauft, Autobahnen und Flughäfen werden ausgebaut, die Wissenschaftler üben sich in vornehmem Agnostizismus, wollen weiter forschen, weil man nicht genug wisse, und die NZZ publiziert einen bagatellisierenden Artikel nach dem anderen: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/nzz-gegen-wissenschaft.html .  

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz

Donnerstag, 5. März 2020

Die Prometheische Illusion

Neulich hat der Deutschlandfunk die Geigerin Patricia Kopatchinskaja (1,2) und andere Musiker angefragt, einen Brief an Ludwig van Beethoven zu schreiben. Mit ihrer Erlaubnis drucken und kommentieren wir ihren Brief hier:

Lieber Ludwig,

Du Titan und Schöpfer unter den Menschen. Wir, die Bürger der freien Republiken, haben Dich als Gipfel aller Monumente in unseren Konzertsäle und auf unzähligen Konserven unwiderruflich einbetoniert. Niederkniend vor Deiner Musik repetieren wir sie wie ein Mantra. Oh Du Leuchtturm, der alle erblinden lässt!

Man fürchtete Dich, aber längstens bist Du totgespielt, mit Lorbeer bekränzt, eingereiht im Friedhof unserer großartigen Vergangenheit.

Prometheus war die Hoffnung Deiner Zeit, Sinnbild von Erfindungsdrang und Emanzipation der Menschen aus Untertanen- und Gottesgnadentum, Sinnbild für Herrschaft von Vernunft und Menschenrechten. Er war Dein Held.


Wir, die Menschen aus Lehm, die anfangs so dumm und fühllos waren, uns hast Du das den Göttern geraubte Feuer gebracht, von Musen und Apoll lernten wir Musik und Tanz, Vernunft und Einsicht auf dem Parnass. Und Melpomene, die Muse des Trauerspiels, lehrte uns wie der Tod die Tage der Menschen beendet.

Und willst Du wissen, wie es mit uns, den Geschöpfen des Prometheus weitergegangen ist? Wir waren fleißig und fruchtbar und haben uns zur Unzahl vermehrt. Wir haben die uns gelehrte Vernunft benutzt, um das uns geschenkte Feuer einzusetzen für Wärme, Kraft, Komfort und Überfluss der Neuzeit. Nichts ist genug. Die Natur wird erwürgt. Auch unserer Vernunft ist nicht genug, der Einsicht zu folgen, dass Feuer immer weiter Feuer gebiert, von Kalifornien, Australien, Sibirien, bis zur Arktis, bis Feuer die Hoffnung und die Tage der Menschheit beschließt.

Und wir sehen ein, Prometheus und wir, seine Geschöpfe, die meinten, des Zeus nicht achten zu müssen, wir waren doch keine Götter. War der Feuerbringer wirklich der Titan Prometheus oder nicht eher eine Ausgeburt der Hölle, Lucifer?

Hahaha-Haaa...

Liebe Grüße ins Jenseits

Patricia Kopatchinskaja



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Hier liest Patricia ihren Brief (Bild anclicken für Audio): 


Und hier noch etwas Hintergrund:  

Johann Wolfgang von Goethe schrieb sein Gedicht "Prometheus" zwischen 1772 und 1774, er war in seinen frühen Zwanzigerjahren. Dieses Gedicht fasst die Hoffnungen einer Epoche zusammen: Prometheus der revolutionäre Titan achtet der Götter nicht, indem er sein Schicksal in die eigene Hand nimmt und nach seinem eigenen unabhängigen Bild menschliche Geschöpfe schafft, vermeinend, damit Zeus und die Götter als unbedeutende Fussnote der Geschichte hinter sich zu lassen. 

Hier ist die unsterbliche Rezitation von Alexander Moissi (1912): 



Und so lautet das Gedicht: 


Prometheus


Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider
Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
Bald danach kam die Französische Revolution. Ihr erster Konsul - Napoleon Buonaparte - wurde von vielen als der moderne Prometheus angesehen, der die von Kirche und Königen geknebelte Menschheit mit neuen Gesetzen in eine emanzipierte Zukunft führen werde. 
   
Damals schrieb Beethoven die Musik für das Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" (1801), welches solche Ideen auf die Bühne stellte, so wie in Patricias Brief beschrieben. Material aus dieser Bühnenmusik wird später in fast allen Symphonien Beethovens wieder auftauchen, vor allem in der "Eroica" (1802/3), welche ursprünglich Buonaparte gewidmet war. Als sich allerdings Napoleon unbescheidenerweise selber zum Kaiser krönte (1804) kratzte Beethoven die handschriftliche Widmung von seinem Manuskript weg. Allerdings kann die "Eroica" immer noch als eine Art Prometheus-Symphonie verstanden werden. Und das gesamte Werk Beethovens, bis zu seiner Neunten Symphonie, verkörpert seine (und unsere) Hoffnung auf eine aufgeklärte und humanistische Welt. 

Und jetzt, ein Vierteljahrtausend nach Beethovens Geburtstag, feiert und bestätigt einstimmiger und unendlicher Jubel Beethovens überragende Grösse für Menschheit und Menschlichkeit, das ganze auch eine Selbstbeglückwünschung zu unserem Fortschritt unter den Beethovenschen Idealen. Wenn auch ein Teil dieses Jubels seine Berechtigung haben mag, so bleiben Skepsis und sogar Sorge, z.B. hat Wreblowski (3) gewisse Zweifel bezüglich der Natur von Prometheus diskutiert. Im Rückblick auf die zwischenzeitliche Entwicklung fühlte sich Patricia Kopatchinskaja veranlasst, diese Sorgen in ihrem Brief zu artikulieren.

Weitere Angaben: 

(1) Patricias Website: https://www.patriciakopatchinskaja.com/
(2) Patricias Facebook: https://www.facebook.com/patriciakopatchinskaja/
(3) Z.Wreblowski:Lucifer and Prometheus, Routledge and Kegan Paul Ltd,1952,IBSN 0415-20948-X

Montag, 17. Februar 2020

The Promethean Illusion

Recently Deutschlandfunk asked the violinist Patricia Kopatchinskaja (1,2) to write a letter to Beethoven. With her permission we reprint her letter here:

Dear Ludwig,

You titan and creator among men. We, the citizens of the free republics, have irrevocably cast you as the top of all monuments in our concert halls and on countless recordings. Kneeling before your music, we repeat it like a mantra. Oh you lighthouse that blinds everyone!

You were feared, but in the meantime you have almost been played to death, wreathed with laurel, and safely placed in the cemetery of our glorious past.

Prometheus was the hope of your time, symbol of invention and of emancipation from the tyranny of church and kings, symbol of the rule of reason and human rights. It was Prometheus who stole the fire from the Gods and brought it down to earth. He was your hero.

We, the creatures made by Prometheus out of clay, we were so stupid and numb at first, but you brought us to Parnassus, where from the Muses and Apollo we learned music and dance, reason and insight. And Melpomene, the muse of tragedy, taught us how death ends people's days.


Do you want to know what has happened to us, to thy creatures of Prometheus?


We were hardworking and fruitful and have procreated innumerably. We have used the reason taught to us to use your fire for warmth, force, comfort and the affluence of modern times. Nothing is enough. Nature is strangled. Nor is our reason sufficient to follow the insight that fire continues to give birth to fire, from California, Australia, Siberia, up into the Arctic, until fire will end the hopes and days of mankind.

And we finally have to realise that Prometheus and we, his creatures who thought that we did not have to respect Zeus, we were not gods. And was the bringer of fire really the titan Prometheus or was he not rather a creature from hell - Lucifer?

Greetings into afterlife!

Patricia Kopatchinskaja

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Hear Patricia read the letter in German (click picture for audio): 




And now, if you allow for some background: 

Johann Wolfgang von Goethe wrote the poem "Prometheus" between 1772 and 1774, then being in his early twenties. This poem sums up the hope of an epoch: Prometheus the revolutionary titan disregards the gods by taking his fate in his own hands and by creating mankind after his own independent image, leaving Zeus and the gods behind as supposedly irrelevant footnotes to history.

Here is the immortal recitation by Alexander Moissi (in German, 1912): 



And here the poem in English:

Prometheus
Cover your heaven, Zeus,
With cloudy vapours,
And test your strength, like a boy
Beheading thistles,
On oaks and mountain peaks;
Yet you must leave
My earth alone,
And my hut you did not build,
And my hearth,
Whose fire
You envy me.
I know nothing more paltry
Beneath the sun than you, gods!
Meagrely you nourish
Your majesty
On levied offerings
And the breath of prayer,
And would starve, were
Not children and beggars
Optimistic fools.
When I was a child,
Not knowing which way to turn,
I raise my misguided eyes
To the sun, as if above it there were
An ear to hear my lament,
A heart like mine,
To pity me in my anguish.
Who helped me
Withstand the Titans’ insolence?
Who saved me from death
And slavery?
Did you not accomplish all this yourself,
Sacred glowing heart?
And did you not – young, innocent,
Deceived – glow with gratitude for your deliverance
To that slumber in the skies?
I honour you? Why?
Did you ever soothe the anguish
That weighed me down?
Did you ever dry my tears
When I was terrified?
Was I not forged into manhood
By all-powerful Time
And everlasting Fate,
My masters and yours?
Did you suppose
I should hate life,
Flee into the wilderness,
Because not all
My blossoming dreams bore fruit?
Here I sit, making men
In my own image,
A race that shall be like me,
That shall suffer, weep,
Know joy and delight,
And ignore you
As I do!
(Translation by Richard Stokes, author of The Book of Lieder, Faber, 2005) 

Soon afterwards came the French Revolution. Its first Consul - Napoleon Buonaparte - was then considered by many as the New Prometheus who by creating modern laws led mankind out of serfdom under kings and church into an emancipated future. 

It was then that Beethoven wrote the music for the Ballet "The creatures of Prometheus" (1801) which put such ideas on stage in the form outlined by Patricias letter. Material from this music would reappear in all his symphonies, especially in the Eroica (1802-03) originally dedicated to Buonaparte. However, when Napoleon immodestly crowned himself to be emperor (1804) Beethoven erased his handwritten dedication from the manuscript. But one still 
can understand the Eroica as a sort of Promethean symphony. And the whole work of Beethoven up to his ninth symphony sums up his (and our) hope for an enlightened and humanistic world. 

And now a quarter of a millenium after Beethovens birthday there reigns unanimous and unending exuberance of praise, affirming and confirming Beethovens towering greatness for humankind and humanity, the whole being also somehow selfgratulatory for our own human progress made under the Beethovenian ideals. But while much of this praise may be justified there remains some scepticism and even sorrow, e.g. there are some doubts concerning the nature of Prometheus  as discussed by Wreblowski (3). With the benefit of hindsight Patricia felt compelled to articulate these concerns in her letter.