Von Tariq Ali
Aus London Review of Books Vol. 44 Nr. 6 · 24. März 2022, übersetzt von Lukas Fierz, veröffentlicht mit Genehmigung von Verlag und Autor.
Der Autor stammt aus Pakistan und ist ein Britischer Journalist, Historiker, Buchautor und Filmemacher. Seine Sichtweise unterscheidet sich oft vom Euro- und US-zentrischen westlichen Mainstream.
Tariq Ali |
Niemand weiß, wie das enden wird.
Putins
rücksichtsloses Abenteurertum ist nach hinten hinausgegangen: Er
versuchte die USA nachzuahmen auf der Basis seines Bruttosozialproduktes von 1,5
Billionen Dollar, das sogar kleiner ist als jenes von Italien und winzig im
Vergleich zu jenem Chinas (14,7 Billionen Dollar). Das war tollkühn. Er erhoffte einen schnellen Sieg im Rahmen einer „Polizeioperation“
im Kolonialstil. Und jetzt erkennt er, dass die Installation eines
Marionettenpräsidenten à la Janukowitsch in Kiev Russland dazu zwingen würde,
eine massive Militärpräsenz in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Dieses Land, das
noch vor zwölf Jahren in eine pro-russische und eine pro-westliche Fraktion
zerfiel hat sich inzwischen entschieden zum Westen gewandt.
Auch Biden war nicht
gerade vorsichtig. Seine Entscheidung vom vergangenen November, die Nato-Erweiterung
weiterzuführen und dabei die Aufnahme der Ukraine einzuleiten – halb hoffend,
halb überzeugt, damit Russlands Vordringen am Dombass und der Krim aufzuhalten
- erwies sich als katastrophaler Fehler. Zwar darf das nicht öffentlich zugegeben werden, aber die Nato-Leitung weiss es
ebenso wie die Führer Chinas, Indiens, Vietnams, Pakistans, Bangladeschs, Sri
Lankas, Kubas und der anderen Länder, die es unterlassen haben, Russland bei
der UNO zu kritisieren. Deren Gesamtbevölkerung macht die Hälfte der Menschheit
aus. Die USA werden an anderen Fronten Zugeständnisse machen müssen. Z.B. müssen
sie das Russische Öl ersetzen und werden deshalb wohl den von ihnen in einem
Putsch eingesetzten und sogar im Westen umstrittenen Präsidenten Venezuelas, Juan Guaidó fallen
lassen müssen. Eine Delegation des US-Aussenministeriums hat verhandelt. Auch
geheime Gespräche mit dem Iran wurden wieder aufgenommen, sehr zum Ärger
Israels.
Die Ursprünge dieses
massiven außenpolitischen Versagens sind Gegenstand einer kürzlich erschienenen
Studie, «Not One Inch» («Kein Zentimeter»), von M. E. Sarotte, Historiker an
der Johns Hopkins-Universität und Mitglied des Council on Foreign Relations (1): «Not
one inch» war die Zusicherung über die Begrenzung der NATO-Osterweiterung, die der
US-Aussenminister James Baker 1990 an Michael Gorbatchov gegeben hatte.
Die Sowjetunion hatte
seit der Befreiung Berlins Truppen in Ostdeutschland stationiert; 1990 waren es
380.000. Gorbatschow war militärisch in einer starken Position, in jeder
anderen Hinsicht war er jedoch schwach. Sarotte beschreibt ihn als „idealistischen
Visionär“, aber diese Worte treffen nicht wirklich zu. Er war ein wohlmeinender
Reformer (Ich war selbst Zeuge der Aufregung, die Glasnost in Russland auslöste
– nicht nur in intellektuellen Kreisen und an den Universitäten, sondern auch
in Fabriken und unter Bürokraten.), als Weltführer war er jedoch überfordert
und westliche Schmeichelei stieg ihm zu Kopf.
Baker spielte diese
Schwäche aus und schlug einen Deal vor. Würde die Sowjetunion einem Rückzug aus
Ostdeutschland zustimmen, wenn die USA sicherstellen würden, dass die Nato
„keinen Zentimeter von ihrer Position nach Osten abweicht“? Am nächsten Tag
wiederholte er seine Worte an Gorbatschow in einem Brief an Helmut Kohl:
„Wollen Sie lieber ein vereintes Deutschland außerhalb der Nato sehen, unabhängig
und ohne US-Streitkräfte, oder bevorzugen Sie ein vereintes Deutschland, das an
die Nato gebunden ist, mit der Zusicherung, dass sich die Zuständigkeit der
Nato von ihrer derzeitigen Position keinen Zoll nach Osten verschieben würde?».
Was Kohl und sein
Außenminister Hans-Dietrich Genscher bevorzugten, waren direkte Gespräche mit
Gorbatschow, bei denen Kohl versprach, es werde keine Nato-Stützpunkte in der
ehemaligen DDR geben. Bis es soweit war, waren Washington und Bonn extrem
nervös. Sie konnten nicht glauben, dass die Sowjetunion die DDR ohne etwas
Schriftliches ausliefern würde. Gorbatschow hielt seine Seite der Abmachung.
Die USA nicht.
Madeleine Albright,
Clintons Außenministerin, wird in Sarottes Bericht besonders kritisiert – nicht
nur als Kriegstreiberin („Colin, wofür sparen Sie dieses unglaubliche
Militär?“), sondern auch, weil sie den amerikanischen Vorteil um jeden Preis erzwingen wollte. Die Nato-Erweiterung habe sich gelohnt, weil sie „von der
Ukraine bis in die Vereinigten Staaten“ zeigen würde, dass „das Streben nach
europäischer Sicherheit kein Nullsummenspiel mehr sei“.
Man hätte andere Wege
beschreiten können. Ein Geheimdienstbericht an die damalige US-Aussenministerin Condoleezza Rice im
Jahr 2008 enthielt die folgende Warnung:
Der Eintritt der Ukraine in die Nato ist für
die russische Elite (nicht nur Putin) die röteste aller roten Linien. In mehr
als zweieinhalb Jahren Gesprächen mit wichtigen russischen Akteuren - von
Handlangern in den dunklen Winkeln des Kremls bis hin zu Putins schärfsten
liberalen Kritikern - habe ich noch niemanden gefunden, der eine Ukraine in der
NATO anders als direkte Herausforderung der Russischen Interessen sehen würde. [Die
Verfolgung dieser Strategie] würde einen fruchtbaren Boden für russische
Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.
Der Autor? William
Burns, inzwischen Direktor der CIA, dessen Aufgabe jetzt darin besteht, die Folgen
seines abgelehnten Rates zu bewältigen.
Kritik am
Expansionismus ist weder neu noch auf die Linke beschränkt. Thomas Friedman hat
in zwei kürzlich erschienenen Kolumnen der New York Times überraschend scharfe
Kritik an der US-Politik geübt. In der ersten erzählte er seine Erinnerungen
vom 2. Mai 1998:
Unmittelbar nachdem der Senat die Nato-Erweiterung ratifiziert hatte, rief
ich George Kennan an, den Architekten von Amerikas erfolgreicher Eindämmung der
Sowjetunion. Nachdem Kennan 1926 in das Außenministerium eingetreten war und vor
und nach dem zweiten Weltkrieg wiederholt als US-Botschafter in Moskau gedient
hatte, war er wohl Amerikas größter Russland-Experte. Obwohl er damals 94 Jahre
alt war und eine schwache Stimme hatte, war er scharfsinnig, als ich ihn nach
seiner Meinung fragte.
Dann zitiert Friedman die Antwort von George Kennan
vollständig:
Ich denke, es ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Ich denke, die
Russen werden allmählich ziemlich negativ reagieren und es wird ihre Politik
beeinflussen. Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Dazu gab es keinerlei
Anlass. Niemand drohte jemand anderem. Diese Expansion würde die Gründerväter
dieses Landes dazu bringen, sich in ihren Gräbern umzudrehen.
Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen,
obwohl wir weder die Ressourcen noch die Absicht haben, dies ernsthaft zu tun.
[Die Nato-Erweiterung] war einfach eine leichtfertige Aktion eines Senats, der
kein wirkliches Interesse an Außenpolitik hat. Was mich stört, ist, wie
oberflächlich und schlecht informiert die ganze Senatsdebatte war. Besonders
störten mich die Hinweise auf Russland als ein Land, das darauf aus ist,
Westeuropa anzugreifen.
Verstehen die Leute nicht? Unsere Differenzen im Kalten Krieg bestanden mit
dem sowjetischen kommunistischen Regime. Und jetzt kehren wir genau jenen
Menschen den Rücken, die die größte unblutige Revolution der Geschichte
inszeniert haben, um dieses Sowjetregime zu beseitigen. Und Russlands
Demokratie ist so weit fortgeschritten, wenn nicht sogar weiter, als jedes
dieser Länder, die wir gerade unterzeichnet haben, um sie gegen Russland zu
verteidigen. Natürlich wird es eine schlechte Reaktion aus Russland geben, und
dann werden [die Nato-Expansionisten] sagen, dass wir Ihnen immer gesagt haben,
dass die Russen so sind – aber das ist einfach falsch.
Putin ist natürlich ein überzeugter Antikommunist, ein
Anhänger sowohl von Mutter Russland als auch der orthodoxen Kirche. 2017
weigerte er sich, den 100. Jahrestag der Februar- und Oktoberrevolution zu
feiern und sagte einem indischen Zeitungsbesitzer (den ich vor ihrem privaten
Treffen in Moskau vorbereitet hatte), dass „diese Revolutionen nicht Teil
unserer Agenda sind“. An einer neulichen Pressekonferenz bezeichnete Putin Lenin
als den Vater der ukrainischen Unabhängigkeit. Das ist teilweise richtig. Lenin
verachtete den großrussischen Chauvinismus und den Nationalismus der
Unterdrückernationen. Er feierte die zaristische Niederlage gegen die Japaner, welche
die Revolution von 1905 auslöste. Im Juni 1917, an einem kritischen Punkt
zwischen den beiden Revolutionen, verurteilte Lenin die Provisorische Regierung
dafür, dass sie sich weigerte „die Autonomie und die vollständige Freiheit der
Sezession der Ukraine“ zu unterstützen, für ihn eine „elementare demokratische
Pflicht“. Später bestand er darauf, dass die Verfassung der Sowjetunion allen Gliedstaaten
das Recht auf nationale Selbstbestimmung, d.h. das Recht auf Sezession,
einräumt.
Die Bolschewiki einigten sich bald nach der
Machtübernahme darauf, Finnland, Polen und der Ukraine die Unabhängigkeit zu
gewähren. Dabei wussten sie von den einzigartigen Problemen, die das besondere nationale
Gefüge in der Ukraine mit sich brachte: Eingewandertes russisches Proletariat
und Bürokratie; ultranationalistische Bauernschaft mit Ressentiments gegenüber polnischen
Landbesitzern und Juden). Es war
Stalin, der als Kommissar für Nationalitäten nach Finnland reiste, um die
Botschaft zu überbringen. Niemand wurde in die Ukraine entsandt, aber der
örtliche Sowjet, die Rada, rief eine Volksrepublik aus, allerdings auf der Abicht bestehend „sich nicht von der Russischen Republik zu trennen“. Als andere
Sowjets in der ganzen Ukraine entstanden, spaltete sich die nationale Bewegung in
jene, die einen separaten Vertrag mit Deutschland (und später mit Frankreich)
unterzeichneten, und jene, die im neuen Sowjetstaat blieben. Der russische
Bürgerkrieg spaltete das Land ebenso wie der Zweite Weltkrieg. Ukrainische
Überläufer zu Hitler sind gut dokumentiert. 1954, ein Jahr nach Stalins Tod,
erweiterte Nikita Chruschtschow, der ukrainische Führer der Sowjetunion,
unterstützt vom Präsidium, die Ukraine um die Krim. Es war eine emotionale
Geste ohne politische Begründung. Nur wenige konnten sich in diesem Zeitpunkt
vorstellen, dass die Sowjetunion einmal implodieren könnte.
Das Entstehen einer russischen Friedensbewegung ist eine der ermutigenderen Entwicklungen der letzten Monate. Die meisten westlichen Politiker legen Lippenbekenntnisse zum Mut der jungen Russen ab, die der staatlicher Repression ausgesetzt sind. Aber auch in England haben sowohl der Premierminister Johnson als auch Oppositionsführer Starmer die Kriegsgegner von „Stop the War“ angeprangert: Putin greift seine Andersdenkenden als Nato-Agenten an, was sie entschieden dementieren. Und hier in England werden die Leute von „Stop the War“ als Putin-Unterstützer verleumdet , wenn sie sich gegen den Expansionsdrang der Nato und gegen ihre Kriege stellen. Sie können kaum anders: Die Nato ist eine Militärorganisation, die die US-Hegemonie in Europa und darüber hinaus bewahren soll. Aber ist das überhaupt nötig?
(1) Not One Inch: America, Russia and the Making of Post Cold-War Stalemate by M.E. Sarotte (Yale, 550 pp., £25, November 2021, 978 0 300 25993 3).