(Erschienen auf Infosperber 15.5.2019, aktualisiert 26.4.2020)
Wir beobachten in der Natur verschiedene Anzeichen von Krankheit. Weil die Anzeichen schon Jahre und Jahrzehnte zunehmen müssen wir von chronischer Krankheit reden: Bienensterben, Insektenschwund, Korallenbleiche, Artenverlust.
Naiverweise könnte man meinen, dass das ja nicht so schlimm sei, weil es erst begonnen habe, weil es noch nicht so lange gehe und weil noch nicht alles tot ist.
Von der Medizin her kommend sieht man das anders. Bei chronischen Krankheiten signalisieren die ersten Symptome oft nicht den Anfang der Krankheit, sondern den Anfang vom Ende, den letzten Akt:
Nehmen wir den Alkoholiker, der sich während Jahrzehnten eine Leberzirrhose angetrunken hat. Und jetzt bekommt er erstmals einen Wasserbauch. Wie unser Pathologielehrer Prof. Uehlinger (1899-1980) zu sagen pflegte signalisiert dieses erste Symptom nicht einen Anfang, sondern damit hebt sich der Vorhang über dem letzten Akt: Wenn der Patient weiter trinkt ist es noch eine Frage von Jahren, nicht mehr von Jahrzehnten.
Dasselbe beim chronischen Nierenversagen z.B. durch Schrumpfniere. Eine Niere bzw. die Hälfte der Nierenfunktion kann man verlieren ohne etwas zu bemerken. Der Organismus hat eine Sicherheitsreserve. Prof. Uehlinger pflegte zu fragen, wieviel man denn verlieren könne, ohne viel zu merken und gab selber die Antwort: Eigentlich können Sie für viele Organe sagen 80 Prozent.
Ähnlich die Situation bei der Lunge. Verlust einer Lunge ist im Alltag nicht bemerkbar. Interessant der Lungenschaden beim Raucher. Früher konnte man den Schaden erst nach Jahrzehnten nachweisen, und wenn einmal die Anstrengungsatemnot auftrat, so wusste man, das ist jetzt der letzte Akt. Seitdem man die Atemwiderstände messen kann weiss man aber, dass dass der Lungenschaden schon in den ersten Jahren des Rauchens beginnt, nur bleibt er unbemerkt, weil er kompensiert werden kann.
Auch am Herzen können Krankheiten wie hoher Blutdruck oder Herzklappenfehler jahrzehntelang symptomlos kompensiert werden, und wenn dann Symptome auftreten ist man schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Bei der Verengung der Aortenklappe (die Klappe der Hauptschlagader) kann der Herztod sogar wie aus heiterem Himmel aus scheinbarer Gesundheit eintreten.
In jedem dieser chronischen Prozesse mobilisiert das biologische System zuerst seine manchmal beträchtlichen Kompensationsmechanismen. Der scheinbare Gesundheitszustand ist das Resultat von Störung und biologischer Kompensation. Jede Krankheitssymptomatik enthält auch Anpassung und deren Versagen. Und wenn dann Symptome auftreten kann das Kippen rasch gehen.
Wir können diese Sicht auf die kranke Natur übertragen: Wenn uns die Bienen wegsterben oder wegen Orientierungsstörungen nicht mehr in den Stock zurückfinden, so ist das nicht der Beginn einer Entwicklung, sondern das Ende. Die Bienen werden seit Jahrzehnten durch Insektenvertilgungsmittel und Pestizide vergiftet. Jedes dieser Gifte wurde einzeln getestet und von Industrie, Prüfstellen und politisch gesteuerten Bundesämtern als "unbedenklich" erklärt. Aber nicht unbedenklich und völlig ungetestet ist die Kombination all dieser Gifte, dieser ganze Giftcocktail, der in der Natur zusammenwirkt. Und der wahre Test ist nicht im Labor, sondern in der Natur: Wenn die Bienen wegzusterben beginnen so könnte das heissen, dass sie schon lang vergiftet wurden, dass ihre vorhandenen Abwehr- und Entgiftungsmechanismen nicht mehr ausreichen und vor allem, dass ihre noch überlebenden Kameraden auch akut gefährdet sind.
Ich habe mich mit einem Grundschüler der vierten Klasse unterhalten. Ich habe ihm gesagt, dass wir in den letzten Jahrzehnten die Hälfte der Bienen verloren hätten. und gefragt, wie lange wir so weitermachen könnten. Seine Antwort: "Nicht mehr lang". Wie lange braucht es noch, bis auch Politiker zu diesem einfachen Schluss kommen?
Ich als Mediziner befürchte, dass das Artensterben nicht der Beginn einer Entwicklung ist, sondern, dass sich damit der Vorhang über dem letzen Akt hebt, die Natur wird abgewürgt. Eine neue Studie in der angesehenen Englischen Zeitschrift Nature kommt zu gleichlautenden Schlüssen. Die Entwicklung könnte schon bis 2040 schlimm herauskommen.
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