Aus dem Buch: "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016
Es läutete an der Tür der früheren Praxis. Draussen standen zwei jüngere Leute, ein Mann und eine Frau. Auf der Strasse sei jemand zusammengebrochen, hier sei doch ein Arzt. Der Arzt war zwar pensioniert, aber er lebte noch dort.
Was im nächsten Abschnitt folgt, lief innert 30 Sekunden ab: Der alte Arzt ging
hinaus, durch den Vorgarten auf den Bürgersteig. Dort stand eine kleine Gruppe
von Menschen um einen, der am Boden lag. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, eine
kleine Gestalt in einem abgeschabten Anzug. Von seiner Hose zog sich eine
Flüssigkeitsspur gegen den Rinnstein. Er hatte wahrscheinlich Urin verloren,
das konnte von einem epileptischen Anfall sein. Oder er hatte einen
Herzstillstand. Der Arzt kniete nieder, drehte das Gesicht des Liegenden zu
sich, es war etwas bläulich. Dann ein Griff in die Hosentaschen, er fand einen
Geldbeutel, darin eine Identitätskarte, geboren 1923. Jetzt hatten wir 2010,
also war der Mann 87 Jahre alt. In diesem Alter hat bei einem Herzstillstand
eine Wiederbelebung auf der Strasse keinen Sinn. Selbst bei einem Erfolg
bleiben die Leute fast immer schwer geschädigt und werden zum Pflegefall. Man
soll es bleiben lassen. Immerhin, der Arzt wollte wissen, was los war, suchte
den Puls an den Handgelenken, am Hals, es hatte nirgends einen Puls.
Herzstillstand. Er stand wieder auf, wandte sich an die Umstehenden und
erklärte - ganz der gute alte Onkel Doktor - dass es sich um einen
Herzstillstand handle. Dass der Mann 87 Jahre alt sei. Und dass in diesem Alter
eine Reanimation keinen Sinn mache, weil die Resultate praktisch immer
katastrophal seien.
Ganz leise tönte durch die Luft das DüüDääDüüDää eines Krankenwagens, jemand
hatte mit dem Mobiltelefon schon die Ambulanz gerufen. Der Arzt wollte noch
sagen, dass man dem alten Mann besser seine Ruhe gönne, so sei es ein schöner
und schmerzloser Tod. Aber die Sirene war jetzt laut und schon bog auch das
Ambulanzfahrzeug in die Nebenstrasse ein, giftgelb, hochglanzpoliert und
blaublitzend, näherte sich rasch und bremste scharf neben der
Menschengruppe.
Die
Rettungssanitäter, ein mittelalterlicher Mann und eine jüngere blonde Frau mit
einem Notfallkoffer sprangen heraus, beide sportlich trainiert und topfit,
beide in blitzblanken gelben Leuchtwesten. Sie versicherten sich rasch, dass
man von hier telefoniert habe, stürzten sich auf den auf dem Boden liegenden
Mann, griffen nach den Pulsen, die sie auch nicht fanden. Die junge Frau begann
seinen Brustkorb zu pumpen, um ihn zu reanimieren. Der alte Arzt wäre ihnen
gern in den Arm gefallen, aber sie hatten die Uniform der Ordnungsmacht und
alle die Umstehenden konnten ja nicht einmal wissen, ob er ein Arzt war. So
hielt er sich still. Der Sanitäter schleppte den Defibrillator an, während die
Frau weiter pumpte öffnete er das Hemd, machte den Brustkorb frei und klebte
die Elektroden an. Der Bildschirm zeigte keine geordnete Herzaktion, also löste
man den Elektroschock aus. Danach kein Effekt. Nochmals ein Schock, jetzt
zeigte der Bildschirm wieder eine Herzaktion, zwar unregelmässig, aber
immerhin, er hatte auch wieder einen unregelmässigen Puls und wurde etwas
rosig, blieb aber bewusstlos. Die Frau verschwand im Rettungswagen und kam mit
einer Bahre und einer Infusionsflasche zurück. Der alte Mann wurde auf die
Bahre gelegt, die Infusion in eine Armvene gesteckt. Dann wurde der alte Mann
auf der Bahre von den beiden in die Ambulanz getragen, die junge Frau blieb
beim Patienten, der Mann schloss rasch die Hecktüre, grüsste kurz, stieg auf
den Fahrersitz und weg brausten sie mit Blaulicht und der Sirene, welche immer
leiser wurde. Der ganze Spuk hatte vielleicht drei Minuten gedauert.
Ja, diese ganze Aktion war höchst professionell und virtuos abgelaufen. Solche
Qualität und solches Tempo erreicht man nur mit dauernder Übung. Gleichzeitig
hatte die Inszenierung etwas synthetisch Unwirkliches: Die Sanitäter wirkten
wie glänzende Lego-Männchen, die mit ihrer Lego-Ambulanz in einer perfekten
Legowelt funktionierten. Oder wie Computeranimationen in diesen amerikanischen
Filmen, in denen alle Oberflächen so perfekt nachgemacht sind - virtual
reality - und doch bleibt alles unwirklich.
Für diese
perfekte Legowelt, war das alte abgeschabte Männchen das falsche Objekt. Das
Männchen war offenbar bisher selbständig gewesen. Und jetzt wollte im hohen
Alter sein Leben zu Ende kommen. Sein Glück war, einem Tod zu begegnen, der
alles hatte, was man von einem Tod wünschen konnte: plötzlich, friedlich und
schmerzlos.
Aber sie haben
ihm seinen Tod weggenommen, seinen Tod hinausgeschoben in die
Pflegeabhängigkeit, in ein Pflegeheim. War das der Wunsch dieses Männchens?
Hätten wir diesen Wunsch? Hat unser Gesundheitsbudget Geld, um solchen Leerlauf
zu bezahlen?
Wenn das
Männchen ein Einzelfall wäre, so könnte man darüber hinweggehen. Aber das
Männchen ist kein Einzelfall. Es ist Ausdruck einer allgemeinen Philosophie.
Der alte Arzt erinnert sich: In jungen Jahren war er zur Ausbildung in der
Klinik für Innere Medizin, die damals als die beste galt. Die Direktive dort
lautete: "Jeder Herzstillstand wird reanimiert, weil das eine gute Übung
für den Assistenzarzt ist". Die gleiche Direktive gilt für die
Rettungssanitäter, ob das nun am gegebenen Objekt Sinn macht oder nicht.
Wir werden
nicht gefragt.
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