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Donnerstag, 5. November 2020

Nicht sein Tod

 Aus dem Buch: "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016

Es läutete an der Tür der früheren Praxis. Draussen standen zwei jüngere Leute, ein Mann und eine Frau. Auf der Strasse sei jemand zusammengebrochen, hier sei doch ein Arzt. Der Arzt war zwar pensioniert, aber er lebte noch dort. 


Was im nächsten Abschnitt folgt, lief innert 30 Sekunden ab: Der alte Arzt ging hinaus, durch den Vorgarten auf den Bürgersteig. Dort stand eine kleine Gruppe von Menschen um einen, der am Boden lag. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, eine kleine Gestalt in einem abgeschabten Anzug. Von seiner Hose zog sich eine Flüssigkeitsspur gegen den Rinnstein. Er hatte wahrscheinlich Urin verloren, das konnte von einem epileptischen Anfall sein. Oder er hatte einen Herzstillstand. Der Arzt kniete nieder, drehte das Gesicht des Liegenden zu sich, es war etwas bläulich. Dann ein Griff in die Hosentaschen, er fand einen Geldbeutel, darin eine Identitätskarte, geboren 1923. Jetzt hatten wir 2010, also war der Mann 87 Jahre alt. In diesem Alter hat bei einem Herzstillstand eine Wiederbelebung auf der Strasse keinen Sinn. Selbst bei einem Erfolg bleiben die Leute fast immer schwer geschädigt und werden zum Pflegefall. Man soll es bleiben lassen. Immerhin, der Arzt wollte wissen, was los war, suchte den Puls an den Handgelenken, am Hals, es hatte nirgends einen Puls. Herzstillstand. Er stand wieder auf, wandte sich an die Umstehenden und erklärte - ganz der gute alte Onkel Doktor - dass es sich um einen Herzstillstand handle. Dass der Mann 87 Jahre alt sei. Und dass in diesem Alter eine Reanimation keinen Sinn mache, weil die Resultate praktisch immer katastrophal seien. 


Ganz leise tönte durch die Luft das DüüDääDüüDää eines Krankenwagens, jemand hatte mit dem Mobiltelefon schon die Ambulanz gerufen. Der Arzt wollte noch sagen, dass man dem alten Mann besser seine Ruhe gönne, so sei es ein schöner und schmerzloser Tod. Aber die Sirene war jetzt laut und schon bog auch das Ambulanzfahrzeug in die Nebenstrasse ein, giftgelb, hochglanzpoliert und blaublitzend, näherte sich rasch und bremste scharf neben der Menschengruppe. 


 

Die Rettungssanitäter, ein mittelalterlicher Mann und eine jüngere blonde Frau mit einem Notfallkoffer sprangen heraus, beide sportlich trainiert und topfit, beide in blitzblanken gelben Leuchtwesten. Sie versicherten sich rasch, dass man von hier telefoniert habe, stürzten sich auf den auf dem Boden liegenden Mann, griffen nach den Pulsen, die sie auch nicht fanden. Die junge Frau begann seinen Brustkorb zu pumpen, um ihn zu reanimieren. Der alte Arzt wäre ihnen gern in den Arm gefallen, aber sie hatten die Uniform der Ordnungsmacht und alle die Umstehenden konnten ja nicht einmal wissen, ob er ein Arzt war. So hielt er sich still. Der Sanitäter schleppte den Defibrillator an, während die Frau weiter pumpte öffnete er das Hemd, machte den Brustkorb frei und klebte die Elektroden an. Der Bildschirm zeigte keine geordnete Herzaktion, also löste man den Elektroschock aus. Danach kein Effekt. Nochmals ein Schock, jetzt zeigte der Bildschirm wieder eine Herzaktion, zwar unregelmässig, aber immerhin, er hatte auch wieder einen unregelmässigen Puls und wurde etwas rosig, blieb aber bewusstlos. Die Frau verschwand im Rettungswagen und kam mit einer Bahre und einer Infusionsflasche zurück. Der alte Mann wurde auf die Bahre gelegt, die Infusion in eine Armvene gesteckt. Dann wurde der alte Mann auf der Bahre von den beiden in die Ambulanz getragen, die junge Frau blieb beim Patienten, der Mann schloss rasch die Hecktüre, grüsste kurz, stieg auf den Fahrersitz und weg brausten sie mit Blaulicht und der Sirene, welche immer leiser wurde. Der ganze Spuk hatte vielleicht drei Minuten gedauert. 


Ja, diese ganze Aktion war höchst professionell und virtuos abgelaufen. Solche Qualität und solches Tempo erreicht man nur mit dauernder Übung. Gleichzeitig hatte die Inszenierung etwas synthetisch Unwirkliches: Die Sanitäter wirkten wie glänzende Lego-Männchen, die mit ihrer Lego-Ambulanz in einer perfekten Legowelt funktionierten. Oder wie Computeranimationen in diesen amerikanischen Filmen, in denen alle Oberflächen so perfekt nachgemacht  sind - virtual reality - und doch bleibt alles unwirklich.

 

Für diese perfekte Legowelt, war das alte abgeschabte Männchen das falsche Objekt. Das Männchen war offenbar bisher selbständig gewesen. Und jetzt wollte im hohen Alter sein Leben zu Ende kommen. Sein Glück war, einem Tod zu begegnen, der alles hatte, was man von einem Tod wünschen konnte: plötzlich, friedlich und schmerzlos. 

 

Aber sie haben ihm seinen Tod weggenommen, seinen Tod hinausgeschoben in die Pflegeabhängigkeit, in ein Pflegeheim. War das der Wunsch dieses Männchens? Hätten wir diesen Wunsch? Hat unser Gesundheitsbudget Geld, um solchen Leerlauf zu bezahlen? 

 

Wenn das Männchen ein Einzelfall wäre, so könnte man darüber hinweggehen. Aber das Männchen ist kein Einzelfall. Es ist Ausdruck einer allgemeinen Philosophie. Der alte Arzt erinnert sich: In jungen Jahren war er zur Ausbildung in der Klinik für Innere Medizin, die damals als die beste galt. Die Direktive dort lautete: "Jeder Herzstillstand wird reanimiert, weil das eine gute Übung für den Assistenzarzt ist". Die gleiche Direktive gilt für die Rettungssanitäter, ob das nun am gegebenen Objekt Sinn macht oder nicht. 

 

Wir werden nicht gefragt.   

Not his Death

(Translation of the story "Nicht sein Tod" from "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016)

The bell rang at the door of the former medical practice. Two younger people were outside, a man and a woman. Somebody had collapsed on the street, they asked for the doctor. The doctor was retired, but he was still living here.

What follows in the next section took place within 30 seconds: The old doctor went out through the front yard onto the sidewalk. There was a small group of people standing around someone who was lying on the ground, face down, a small figure in a shabby suit. A trail of fluid ran from his trousers against the gutter. He had probably lost urine, perhaps in an epileptic seizure. Or he was in cardiac arrest. The doctor knelt down, turned the face of the person towards him, it was a little bluish. Then a grip in his trouser pockets, he found a purse with an identity card, born in 1923. It was 2010, so the man was 87 years old. At this age, street-resuscitation does not make sense in the event of cardiac arrest. Even if successful, people are almost always permanently impaired and require long term care. One should leave them alone.  Still, the doctor wanted to know what was going on, looked for the pulse on the wrists, on the neck, it had no pulse anywhere. Cardiac arrest. He got up again, turned to the bystanders and explained – as a kind old Uncle Doctor - that this was cardiac arrest. That the man was 87 years old. And that at this age resuscitation made no sense because the results were practically always catastrophic.

The siren of an ambulance sounded very softly through the air, someone had already called with the handy. The doctor still wanted to say that it would be better to give the old man his rest, so it would be a beautiful and painless death. But the siren was loud now and the ambulance was already turning into the side street, bright yellow, highly polished and flashing blue, approaching quickly and then coming to a sharp stop next to our group of people.


Two paramedics, a middle-aged man and a younger blonde woman with an emergency kit jumped out, both athletic and in top form, both in sparkling yellow luminous vests. They quickly made sure that the phone was made from here, rushed to the man lying on the floor, grabbed the pulses that they couldn't find either. The young woman began pumping his chest to reanimate him. The old doctor would have liked to stop them, but they were in the uniform of law enforcement and all those standing by could not even know whether he was a doctor. So he kept quiet. The paramedic dragged the defibrillator on, while the woman continued to pump, he opened the shirt, exposed the chest and stuck the electrodes on. The screen showed no regular heart action, so the electric shock was delivered. After that, no effect. Another shock, now the screen showed a heart action again, irregular, but at least he had an irregular pulse and turned a little pink, but remained unconscious. The woman disappeared into the ambulance and came back with a stretcher and an infusion bottle. The old man was placed on the stretcher, the IV placed in a vein in his arm. Then the old man was carried to the ambulance by the two of them, the young woman stayed with the patient, the man quickly closed the rear door, gave a brief greeting, climbed into the driver's seat and away they roared with flashing lights and the siren got quieter and quieter. The whole haunt might have lasted three minutes.

Yes, this whole performance had been extremely professional and virtuosic. Such quality and speed can only be achieved with constant practice. At the same time, the staging had something synthetically unreal about it: the paramedics looked like shiny Lego men who functioned with their Lego ambulance in a perfect Lego world. Or like computer animations in those American films in which all surfaces are imitated so perfectly - virtual reality - and yet everything remains unreal.

For this perfect Lego world, this shabby old little man was the wrong object. He obviously had been independent so far. And now in very old age his life wanted to come to an end. His luck would have benn to meet a death that had everything one could want from death: sudden, peaceful, and painless.

But they took his death away, postponed his death into care dependency, to a nursing home. Was that what this man wanted? Would we have that wish? Does our health budget have enough money to pay for such idle pastimes?

If this old man were an isolated case it could be ignored. But he is not an isolated case. His case  is the expression of a general philosophy. The old doctor remembers: At a young age he was trained in the internal medicine clinic, which was considered the best at the time in his country. The directive there read: "Every cardiac arrest has to reanimated because interns have to practice". The same directive applies to paramedics, whether this makes sense on the given object or not.

Nobody asks us…