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Freitag, 29. April 2022

VOR DEM KRIEG


Von Tariq Ali

Aus London Review of Books Vol. 44 Nr. 6 · 24. März 2022, übersetzt von Lukas Fierz, veröffentlicht mit Genehmigung von Verlag und Autor.

Der Autor stammt aus Pakistan und ist ein Britischer Journalist, Historiker, Buchautor und Filmemacher. Seine Sichtweise unterscheidet sich oft vom Euro- und US-zentrischen westlichen Mainstream. 

Tariq Ali

Niemand weiß, wie das enden wird.

Putins rücksichtsloses Abenteurertum ist nach hinten hinausgegangen: Er versuchte die USA nachzuahmen auf der Basis seines Bruttosozialproduktes von 1,5 Billionen Dollar, das sogar kleiner ist als jenes von Italien und winzig im Vergleich zu jenem Chinas (14,7 Billionen Dollar). Das war tollkühn. Er erhoffte einen schnellen Sieg im Rahmen einer „Polizeioperation“ im Kolonialstil. Und jetzt erkennt er, dass die Installation eines Marionettenpräsidenten à la Janukowitsch in Kiev Russland dazu zwingen würde, eine massive Militärpräsenz in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Dieses Land, das noch vor zwölf Jahren in eine pro-russische und eine pro-westliche Fraktion zerfiel hat sich inzwischen entschieden zum Westen gewandt.

Auch Biden war nicht gerade vorsichtig. Seine Entscheidung vom vergangenen November, die Nato-Erweiterung weiterzuführen und dabei die Aufnahme der Ukraine einzuleiten – halb hoffend, halb überzeugt, damit Russlands  Vordringen am Dombass und der Krim aufzuhalten -  erwies sich als katastrophaler Fehler. Zwar darf das nicht öffentlich zugegeben werden, aber die Nato-Leitung weiss es ebenso wie die Führer Chinas, Indiens, Vietnams, Pakistans, Bangladeschs, Sri Lankas, Kubas und der anderen Länder, die es unterlassen haben, Russland bei der UNO zu kritisieren. Deren Gesamtbevölkerung macht die Hälfte der Menschheit aus. Die USA werden an anderen Fronten Zugeständnisse machen müssen. Z.B. müssen sie das Russische Öl ersetzen und werden deshalb wohl den von ihnen in einem Putsch eingesetzten und sogar im Westen umstrittenen Präsidenten Venezuelas, Juan Guaidó fallen lassen müssen. Eine Delegation des US-Aussenministeriums hat verhandelt. Auch geheime Gespräche mit dem Iran wurden wieder aufgenommen, sehr zum Ärger Israels.

Die Ursprünge dieses massiven außenpolitischen Versagens sind Gegenstand einer kürzlich erschienenen Studie, «Not One Inch» («Kein Zentimeter»), von M. E. Sarotte, Historiker an der Johns Hopkins-Universität und Mitglied des Council on Foreign Relations (1): «Not one inch» war die Zusicherung über die Begrenzung der NATO-Osterweiterung, die der US-Aussenminister James Baker 1990 an Michael Gorbatchov gegeben hatte.

Die Sowjetunion hatte seit der Befreiung Berlins Truppen in Ostdeutschland stationiert; 1990 waren es 380.000. Gorbatschow war militärisch in einer starken Position, in jeder anderen Hinsicht war er jedoch schwach. Sarotte beschreibt ihn als „idealistischen Visionär“, aber diese Worte treffen nicht wirklich zu. Er war ein wohlmeinender Reformer (Ich war selbst Zeuge der Aufregung, die Glasnost in Russland auslöste – nicht nur in intellektuellen Kreisen und an den Universitäten, sondern auch in Fabriken und unter Bürokraten.), als Weltführer war er jedoch überfordert und westliche Schmeichelei stieg ihm zu Kopf.

Baker spielte diese Schwäche aus und schlug einen Deal vor. Würde die Sowjetunion einem Rückzug aus Ostdeutschland zustimmen, wenn die USA sicherstellen würden, dass die Nato „keinen Zentimeter von ihrer Position nach Osten abweicht“? Am nächsten Tag wiederholte er seine Worte an Gorbatschow in einem Brief an Helmut Kohl: „Wollen Sie lieber ein vereintes Deutschland außerhalb der Nato sehen, unabhängig und ohne US-Streitkräfte, oder bevorzugen Sie ein vereintes Deutschland, das an die Nato gebunden ist, mit der Zusicherung, dass sich die Zuständigkeit der Nato von ihrer derzeitigen Position keinen Zoll nach Osten verschieben würde?».

Was Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher bevorzugten, waren direkte Gespräche mit Gorbatschow, bei denen Kohl versprach, es werde keine Nato-Stützpunkte in der ehemaligen DDR geben. Bis es soweit war, waren Washington und Bonn extrem nervös. Sie konnten nicht glauben, dass die Sowjetunion die DDR ohne etwas Schriftliches ausliefern würde. Gorbatschow hielt seine Seite der Abmachung. Die USA nicht.

Madeleine Albright, Clintons Außenministerin, wird in Sarottes Bericht besonders kritisiert – nicht nur als Kriegstreiberin („Colin, wofür sparen Sie dieses unglaubliche Militär?“), sondern auch, weil sie den amerikanischen Vorteil um jeden Preis erzwingen wollte. Die Nato-Erweiterung habe sich gelohnt, weil sie „von der Ukraine bis in die Vereinigten Staaten“ zeigen würde, dass „das Streben nach europäischer Sicherheit kein Nullsummenspiel mehr sei“.

Man hätte andere Wege beschreiten können. Ein Geheimdienstbericht an die damalige US-Aussenministerin Condoleezza Rice im Jahr 2008 enthielt die folgende Warnung:

Der Eintritt der Ukraine in die Nato ist für die russische Elite (nicht nur Putin) die röteste aller roten Linien. In mehr als zweieinhalb Jahren Gesprächen mit wichtigen russischen Akteuren - von Handlangern in den dunklen Winkeln des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern -  habe ich noch niemanden gefunden, der eine Ukraine in der NATO anders als direkte Herausforderung der Russischen Interessen sehen würde. [Die Verfolgung dieser Strategie] würde einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.

Der Autor? William Burns, inzwischen Direktor der CIA, dessen Aufgabe jetzt darin besteht, die Folgen seines abgelehnten Rates zu bewältigen.

Kritik am Expansionismus ist weder neu noch auf die Linke beschränkt. Thomas Friedman hat in zwei kürzlich erschienenen Kolumnen der New York Times überraschend scharfe Kritik an der US-Politik geübt. In der ersten erzählte er seine Erinnerungen vom 2. Mai 1998:

Unmittelbar nachdem der Senat die Nato-Erweiterung ratifiziert hatte, rief ich George Kennan an, den Architekten von Amerikas erfolgreicher Eindämmung der Sowjetunion. Nachdem Kennan 1926 in das Außenministerium eingetreten war und vor und nach dem zweiten Weltkrieg wiederholt als US-Botschafter in Moskau gedient hatte, war er wohl Amerikas größter Russland-Experte. Obwohl er damals 94 Jahre alt war und eine schwache Stimme hatte, war er scharfsinnig, als ich ihn nach seiner Meinung fragte.

Dann zitiert Friedman die Antwort von George Kennan vollständig:

Ich denke, es ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich negativ reagieren und es wird ihre Politik beeinflussen. Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Dazu gab es keinerlei Anlass. Niemand drohte jemand anderem. Diese Expansion würde die Gründerväter dieses Landes dazu bringen, sich in ihren Gräbern umzudrehen.

Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, obwohl wir weder die Ressourcen noch die Absicht haben, dies ernsthaft zu tun. [Die Nato-Erweiterung] war einfach eine leichtfertige Aktion eines Senats, der kein wirkliches Interesse an Außenpolitik hat. Was mich stört, ist, wie oberflächlich und schlecht informiert die ganze Senatsdebatte war. Besonders störten mich die Hinweise auf Russland als ein Land, das darauf aus ist, Westeuropa anzugreifen.

Verstehen die Leute nicht? Unsere Differenzen im Kalten Krieg bestanden mit dem sowjetischen kommunistischen Regime. Und jetzt kehren wir genau jenen Menschen den Rücken, die die größte unblutige Revolution der Geschichte inszeniert haben, um dieses Sowjetregime zu beseitigen. Und Russlands Demokratie ist so weit fortgeschritten, wenn nicht sogar weiter, als jedes dieser Länder, die wir gerade unterzeichnet haben, um sie gegen Russland zu verteidigen. Natürlich wird es eine schlechte Reaktion aus Russland geben, und dann werden [die Nato-Expansionisten] sagen, dass wir Ihnen immer gesagt haben, dass die Russen so sind – aber das ist einfach falsch.

Putin ist natürlich ein überzeugter Antikommunist, ein Anhänger sowohl von Mutter Russland als auch der orthodoxen Kirche. 2017 weigerte er sich, den 100. Jahrestag der Februar- und Oktoberrevolution zu feiern und sagte einem indischen Zeitungsbesitzer (den ich vor ihrem privaten Treffen in Moskau vorbereitet hatte), dass „diese Revolutionen nicht Teil unserer Agenda sind“. An einer neulichen Pressekonferenz bezeichnete Putin Lenin als den Vater der ukrainischen Unabhängigkeit. Das ist teilweise richtig. Lenin verachtete den großrussischen Chauvinismus und den Nationalismus der Unterdrückernationen. Er feierte die zaristische Niederlage gegen die Japaner, welche die Revolution von 1905 auslöste. Im Juni 1917, an einem kritischen Punkt zwischen den beiden Revolutionen, verurteilte Lenin die Provisorische Regierung dafür, dass sie sich weigerte „die Autonomie und die vollständige Freiheit der Sezession der Ukraine“ zu unterstützen, für ihn eine „elementare demokratische Pflicht“. Später bestand er darauf, dass die Verfassung der Sowjetunion allen Gliedstaaten das Recht auf nationale Selbstbestimmung, d.h. das Recht auf Sezession, einräumt.

Die Bolschewiki einigten sich bald nach der Machtübernahme darauf, Finnland, Polen und der Ukraine die Unabhängigkeit zu gewähren. Dabei wussten sie von den einzigartigen Problemen, die das besondere nationale Gefüge in der Ukraine mit sich brachte: Eingewandertes russisches Proletariat und Bürokratie; ultranationalistische Bauernschaft mit Ressentiments gegenüber polnischen Landbesitzern und Juden). Es war Stalin, der als Kommissar für Nationalitäten nach Finnland reiste, um die Botschaft zu überbringen. Niemand wurde in die Ukraine entsandt, aber der örtliche Sowjet, die Rada, rief eine Volksrepublik aus, allerdings auf der Abicht bestehend „sich nicht von der Russischen Republik zu trennen“. Als andere Sowjets in der ganzen Ukraine entstanden, spaltete sich die nationale Bewegung in jene, die einen separaten Vertrag mit Deutschland (und später mit Frankreich) unterzeichneten, und jene, die im neuen Sowjetstaat blieben. Der russische Bürgerkrieg spaltete das Land ebenso wie der Zweite Weltkrieg. Ukrainische Überläufer zu Hitler sind gut dokumentiert. 1954, ein Jahr nach Stalins Tod, erweiterte Nikita Chruschtschow, der ukrainische Führer der Sowjetunion, unterstützt vom Präsidium, die Ukraine um die Krim. Es war eine emotionale Geste ohne politische Begründung. Nur wenige konnten sich in diesem Zeitpunkt vorstellen, dass die Sowjetunion einmal implodieren könnte.

Das Entstehen einer russischen Friedensbewegung ist eine der ermutigenderen Entwicklungen der letzten Monate. Die meisten westlichen Politiker legen Lippenbekenntnisse zum Mut der jungen Russen ab, die der staatlicher Repression ausgesetzt sind.  Aber auch in England haben sowohl der Premierminister Johnson als auch Oppositionsführer Starmer die Kriegsgegner von „Stop the War“ angeprangert: Putin greift seine Andersdenkenden als Nato-Agenten an, was sie entschieden dementieren. Und hier in England werden die Leute von „Stop the War“ als Putin-Unterstützer verleumdet , wenn sie sich gegen den Expansionsdrang der Nato und gegen ihre Kriege stellen. Sie können kaum anders: Die Nato ist eine Militärorganisation, die die US-Hegemonie in Europa und darüber hinaus bewahren soll. Aber ist das überhaupt nötig?

(1) Not One Inch: America, Russia and the Making of Post Cold-War Stalemate by M.E. Sarotte (Yale, 550 pp., £25, November 2021, 978 0 300 25993 3).



3 Kommentare:

  1. Alles interessant und wahrscheinlich auch korrekt. Aber es nützt uns JETZT einen alten Hut.

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  2. Das Argument des Autors ist vielleicht historisch richtig, aber heute irrelevant. US-Kritiker übertreiben die Bedeutung der NATO so wie die Transatlantiker die Bedeutung von Pipelines übertreiben. — Der Punkt ist der, dass die Ukrainer sich in den letzten 15 Jahren immer fester dazu entschlossen haben, sich von Moskau vollständig zu emanzipieren. So ganz im Sinn von Schillers Tell. So wie die Eeidgenossen sich von Habsbuerg oder die Amerikaner von England losgemacht haben. Das hat mit der NATO so wenig zu tun wie Putins Amgriff mit Nordstream zu tun hat. Es ist ein Revolutionskrieg um nationale Selbstbehauptung. Es ist kein Proxy war. Die Ukrainer sind nicht die Marinette der USA, so wenig wie George Washington eine Marionette Ludwigs xvi war. Leider fällt es sehr vielen „geopolitikern“ sehr schwer, das zuzugeben. Ich vermute, die meisten von ihnen haben ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie. Sie sehen die Welt immer nur aus der Perspektive von metternich, nie aus der von Wilhelm Tell.

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  3. Mein Eindruck von der Reaktion der Russen ist schon übel genug (viel Konformismus mit einer starken Prise Genugtuung), aber die Reaktion der Deutschen macht mich fassungslos. Es geht in ihre Hirne einfach nicht hinein, dass die Ukraine tatsächlich existiert, als Volk, als Staat, der seinen eigenen Willen hat und diesen behaupten will. Und auch bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Und dass dieser Akt der Emanzipation nicht dasselbe ist wie ein „Angriff auf Russland“.

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