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Samstag, 4. Mai 2024

EIN ALTER ARZT WUNDERT SICH

(Zuerst erschienen auf Inside Paradeplatz am 4.5.2024)

Ein Gesundheitsystem, das Leistungsausweitung belohnt, erzeugt Leistungsausweitung. Die Prämieninitiative zementiert diesen Irrsinn.

Ich bin ein alter Arzt. Seit 13 Jahren praktiziere ich nicht mehr, kann dafür aussprechen, was andere nur zu denken wagen.

Gemäss Krankenkassenstatistik lagen meine durchschnittlichen Kosten pro abgeschlossener Fall in den Jahren 1980 bis 2011 meist 25 bis 33 Prozent unter dem Durchschnitt der Fachkollegen.

Dabei hatte ich an nichts gespart, mir jede Magnetresonanz-Tomographie und jede denkbare Laboruntersuchung geleistet.

Aber ich hatte mich an die Prinzipien einer „Health Maintenance Organisation (HMO)“ gehalten: Keine unnötigen Kontrollen, möglichst viel per Telefon, keine unbegründeten Zusatzuntersuchungen, keine nachweislich unwirksame Behandlung.

Das schaffte Zeit für Unvorhergesehenes. Notfälle konnten meist unverzüglich gesehen werden.

Aufgrund dieser Erfahrung ist meine erste Überzeugung, dass mindestens ein Fünftel der Gesundheitsausgaben durch unbegründeten Überkonsum entsteht.

Nur war mit diesem Medizinalstil kein grosses Geld zu verdienen. Er war überhaupt nur möglich, weil von Haus aus Geld vorhanden und keine Hypothek zu finanzieren war.

Deshalb ist meine zweite Überzeugung: Das System zwingt die Ärzte zur Überarztung. Schuldzuweisungen gehören zuerst ans System, nicht an die Ärzte.

Tatsächlich wird im grossen Stil Geld verschwendet an Massnahmen, die nachgewiesenermassen nichts bringen:

Seresta, Temesta, Tranxilium, Librium, Valium, Lexotanil als Beruhigungs- und Schlafmittel machen mehr Nebenwirkung als Wirkung und könnten in dieser Indikation ersatzlos gestrichen werden.

Röntgenbilder und Tomographien sind bei Migräne und banalen Kopfschmerzen ebenso sinnlos wie bei banalen Rückenschmerzen.

Auch ohne Operation würden die meisten Fälle von lumbaler Diskushernie, von Tennisellbogen oder schmerzhafter Schultersteife abklingen.

Auf keine Kuhhaut geht, was man mit aussichtslosen, aber hoffnungsvollen Krebspatienten in den letzten Lebensmonaten anstellt, eine Verlängerung eines immer elenderen Lebens mit ungeheuren Kosten.

Es gibt auch Situationen, wo Änderung des Lebensstils mehr bringen würde als Medizin.

Rückenschmerzen reagieren nicht auf Physiotherapie, wohl aber auf Training. Der Altersdiabetes wäre in circa der Hälfte der Fälle durch Körperaktivität und rigorose Gewichtsabnahme heilbar.

Auch erhöhter Blutdruck würde sinken, aber die nötige Motivationsarbeit wird den Ärzten nicht bezahlt – so bleibt man bei der lukrativen, aber wenig wirksamen „Behandlung“.

Nur müssen wir uns nicht wundern: Wenn wir den Arzt nach Leistungsmenge bezahlen, so wird Leistungsmenge geliefert - „Dont’t ask the barber if you need a haircut.“

Ein dritter Punkt ist der luxuriös aufgeblähte stationäre Sektor: Dass stationäre Operationen die Krankenkassen weniger kosten als ambulante ist ein Zopf, der endlich abgeschnitten gehört.

In meinen Lehrjahren in Paris und London war ich beeindruckt von der Spitzenmedizin, die dort in Gebäuden aus dem 17. und 19. Jahrhundert betrieben wird.

Bei uns dagegen können Spitalprojekte nie zu zahlreich, zu neu, zu gross und zu luxuriös sein, es findet sich dafür immer eine Mehrheit von Ja-Stimmen, was die Baulobby genüsslich ausnützt.

Nur sind unsere Zentrumsspitäler nachgerade von einer derartigen Grösse, dass Mangel an Übersicht, Verantwortungsbereitschaft und Führung häufig zu Doppelspurigkeiten und Leerläufen führen.

Im schlimmsten Fall geraten die Patienten in eine endlose Mühle, in der niemand für sie verantwortlich ist, und sie entgleiten dem Hausarzt, der sie am besten kannte.

Auch ist dem Stimmbürger nicht bewusst, dass in den Einzel- und Doppelzimmern der neuen Paläste die Überwachung viel schlechter gewährleistet ist als in einem Sechserzimmer.

Die absolut beste Überwachung (abgesehen von einer Intensivstation) sah ich in den altväterischen Nightingale Wards in England.

Ein Riesenraum mit 28 Betten, in der Mitte zwei Schreibtische für Ärzte und Schwestern: Bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen wie Herzstillstand, Atemstillstand, Ersticken war Hilfe innert Sekunden zur Stelle, und für junge Ärzte gab es keinen besseren Ort der Ausbildung.

Und bei der Essensverteilung halfen die Patienten, die dazu im Stande waren. Ein Gefühl von Schicksalsgemeinschaft verband alle.

In unseren Privatzimmern liegt man zwar im Luxus, aber wenn es kritisch wird, ist man hilflos und allein.

Jetzt haben wir wieder eine Abstimmung. Die Kostenbremsinitiative will die Kosten dieses verschwenderischen Systems deckeln.

Die Gefahr dabei ist, dass alle Leistungen rationiert werden, die überflüssigen und die notwendigen, ohne Verbesserung der Effizienz oder des Systems.

Und nachdem die Alten auf Kosten der Jungen und ohne eigenen Beitrag sich die 13. AHV-Rente gegönnt haben, soll jetzt die Praemienentlastungs-Initiative dieses verschwenderische Gesundheitssystem mit Steuergeld über Wasser halten, nur damit man die Fehlkonstruktion weiterhin nicht korrigieren muss.

Damit wird jede Verbesserung des Systems verhindert, und irgendwann wird man sich die Augen reiben, wenn man merkt, dass solche Perpetuum mobiles nicht unbegrenzt funktionieren.