(Aus meinem Büchlein "Begegnungen mit dem Leibhaftigen, Tredition 2016)
Die Patienten für medizinische Gutachten habe ich immer um 10 Uhr oder 10:30 Uhr bestellt und Zeit reserviert bis Mittag. Da konnte man nötigenfalls noch in die Mittagspause arbeiten, ohne Zeitdruck.
Angemeldet war dieser höfliche, ja freundliche ältere Herr
wegen eines Schleudertraumas. Er war auffallend klein, etwas beleibt. Er hatte eine Glatze, leicht abstehende, grosse Ohren und trug einen eleganten grauen Anzug. Zwar sprach er Schweizer Dialekt, aber etwas getragen, singend, mit hochdeutschem Akzent und rollendem R. Trotz seiner Kleinheit strahlte er heitere Selbstsicherheit und Überlegenheit aus. Er war der Patron einer grossen Firma.
Medizinisch war die Sache klar und weiter nicht interessant. Aber man protokollierte halt die Geschichte und machte die Untersuchung, bei der man meist ausser einem steifen Nacken nichts fand.
Jetzt sitzt er vor mir auf der Untersuchungscouch und ich prüfe mit dem Hammer die Sehnenreflexe, rechts, links, alle vorhanden und ganz seitengleich. Aber was ist das hier auf dem linken Vorderarm? Bläulich, eine Nummer, eine tätowierte Nummer, etwas schwierig zu lesen, aber doch, 178453... Man weiss – solche Nummern hatte ich schon zweimal gesehen – solche tätowierten Nummern gab es nur in Auschwitz. Ich fragte vorsichtig, was das sei, und er bestätigte, Auschwitz... Ich beendete die Untersuchung, die Geschichte hatte ich notiert, es war nichts mehr zu tun. Aber dieser Mann wusste mehr als wir… ich musste mehr über ihn herausfinden...
Er hatte sich wieder angezogen und kam aus dem Untersuchungszimmer. Ich sagte ihm, wir seien fertig, ich hätte alles was ich brauche... aber... also... das wisse er ja selber... wir Friedenskinder hätten ja keine Ahnung... ob er mir vielleicht über seine Erfahrungen erzählen wolle... er müsse natürlich nicht, es sei nur für mein persönliches Interesse... Ohne gross zu überlegen meinte er ganz liebenswürdig, das könne er schon machen, setzte sich und fügte an, er gehe sowieso ab und zu in die Schulen, um den Kindern über die damalige Zeit zu berichten. Das sei eine Pflicht.
Was solle er sagen, er stamme aus Polen, seine Eltern seien arme Bauern gewesen, rechtgläubige Juden, er habe neun Geschwister gehabt. Es habe in Polen schon in den Dreissigerjahren Antisemitismus gegeben, für ihn habe das geheissen, dass er von seinen Mitschülern jeden Tag verprügelt worden sei, und zwar, weil er Jesus ermordet habe, so ein Schwachsinn – nach 2000 Jahren…
Sein Vater habe darauf bestanden, dass alle seine Kinder Englisch lernten, man könne nie wissen … Daneben habe er Hebräisch und in der Synagoge die ganze jüdische Tradition gelernt, die Gebete und die heiligen Texte. Nach der Schule habe man ihn in eine Uhrmacherlehre gesteckt. Aber schon bald war für einen Juden Schluss mit Uhrmacherlehre, denn 1939 marschierte Hitler in Polen ein. So sei er mit dreizehn Jahren ins Ghetto von Krakau gekommen. Irgendwie habe er dort überlebt, immer mit Hunger. Seither sei er nicht mehr gewachsen. 1943 habe man ihn nach Auschwitz deportiert – Rampe, Tätowierung, gestreifte Kleider, stundenlange Appelle, Kälte, harte Arbeit, man weiss.
Aber eigentlich sei er erleichtert gewesen, endlich im Konzentrationslager zu sein. Da habe man wenigstens gewusst, woran man sei. Er schaute mich direkt an und fuhr fort, er habe das eben als Aufgabe aufgefasst: Das war jetzt das Spiel, das es zu spielen galt... Sein Vorteil sei gewesen, dass er so jung gewesen sei.
Er habe nicht viel anderes gekannt und sich deshalb besser darauf einstellen können, als die Erwachsenen. Vorher, im Ghetto, dauernd auf der Hut, dauernd in Angst vor der nächsten Razzia, vor der nächsten Selektion,
oft versteckt, dauernd auf der Suche nach Essbarem und jede Minute in Ungewissheit, das sei viel schlimmer gewesen.
Das Konzentrationslager habe er nur mit unglaublich viel Glück überlebt. Wie viele Male sei sein Überleben an einem Fädchen gehangen. Einmal zum Beispiel hätten die Wachen zwei Pflöcke drei Meter voneinander entfernt in den Boden rammen lassen. Daran wurde eine Querlatte befestigt, 140 Zentimeter über dem Boden. Dann habe man alle Jugendlichen versammelt und durch dieses Tor getrieben. Diejenigen, welche die Querlatte mit dem Kopf erreichten oder überragten seien direkt ins Gas gekommen. Sein Glück sei gewesen, dass er durch den dauernden Hunger im Wachstum zurückgeblieben war. So sei er nicht ins Gas gekommen. Durch seine Kleinheit hätten ihm auch die
kargen Essenrationen etwas besser gereicht.
Noch vor der KZ-Haft sei es seiner Mutter irgendwie gelungen, ihm Uhrmacherwerkzeuge ins Ghetto schmuggeln zu lassen, und die habe man ihm im Lager nicht weggenommen. Damit habe er manchmal Uhren reparieren und sich eine kleine Zusatzration verdienen können. So seien seine Kleinheit und seine Uhrmacherkunst seine Rettung geworden.
Zur Arbeit hätten sie in Viererkolonnen aus dem Lager hinaus und danach zurückmarschieren müs- sen. Besonders am Sabbat, aber oft auch sonst habe er auf diesen Märschen die rituellen jüdischen Gebete,Psalmen und Verse vor sich hingemurmelt, ganz leise, höchstens für die Nachbarn zur Rechten und zur Linken hörbar, aber nicht für die Wachen. Wie froh sei er gewesen, dass er sie alle auswendig gekannt habe, diese Verse, die für ihn enorm wichtig gewesen seien, als Protest und als Selbstbehauptung, das habe ihm und vielen anderen immer wieder Kraft zum Durchhalten gegeben.
Beim Anrücken der Roten Armee, Anfang 1945 sei Auschwitz durch die Nazis evakuiert worden mit Todesmärschen nach Buchenwald, vorbei an den Leichen derer, die nicht mehr weitergekommen waren, die beidseits der Strasse lagen, erschossen, erfroren, erschlagen im blutigen Schnee.
In all den Jahren im Ghetto und im Konzentrationslager habe er nicht ein einziges Mal geweint, egal, was man ihnen angetan habe. Und dann an einem Frühlingstag seien plötzlich Militärfahrzeuge aufgefahren vor Buchenwald, auf ihnen ein weisser Stern. Die KZ-Wachen seien plötzlich nicht mehr dagewesen und amerikanische Soldaten seien hin- und hergegangen. Und die Gefangenen hätten sich hinter dem Stacheldrahtzaun gedrängt, geschaut und gewusst, das ist das Ende unserer Leiden, die Befreiung. Diesen Moment habe er in der Krankenbaracke erlebt, und erst da hätten ihn die Tränen überwältigt und er habe lange geheult.
Nach der Befreiung habe man bei ihm Typhus und eine offene Lungentuberkulose festgestellt. Er habe noch 29 Kilogramm gewogen. Er sei zur Kur nach Seldwyla gebracht worden, ja in die Sumpfweid, so habe doch das Spital geheissen, und dann in die Berge. Wieder ein Glück, dass er so klein gewesen sei, denn nur so sei er in diesen Rotkreuz-Kindertransport gekommen. Man habe allerdings sein Geburtsdatum von 1926 auf 1929 verschieben müssen, sonst hätte man ihn nicht mitgenommen. Ebenfalls zu seinem Glück sei soeben das Streptomycin verfügbar geworden, das erste wirksame Medikament gegen die Tuberkulose. Ohne seine Kleinheit und ohne Streptomycin wäre er einmal mehr kläglich eingegangen, diesmal an Tuberkulose.
Nach der Heilung sei er in eine Uhrenfabrik im Schweizer Jura gekommen, dort konnte er die Uhrmacherlehre abschliessen und später in dieser Fabrik arbeiten. Ja, und dort habe er halt zugeschaut und immer wieder denken müssen, dass die ihre Arbeit ja auf eine ganz dumme Art und Weise machten. Dies und das hätte man besser machen können, oder jenes, wenn man sich nur etwas überlegt hätte...
»Da habe ich eben angefangen, zu erfinden«. Eine Erfindung nach der anderen. Jetzt besitze er ein Portfolio von zwanzig Patenten. Und dazu eine eigene Fabrik mit über hundert Angestellten. In dieser Fabrik sei er alles in einem: Entwicklungschef, Personalchef, Produktionschef, Finanzchef, Verkaufschef, eigentlich Vater und Mutter und alles zugleich.
Unter den vielen Patenten und Produkten sei das wichtigste ein Gerät zum Ölen von Uhren. An jedem Uhrenlager müsse ein winziges, kaum sichtbares Tröpfchen Öl abgesetzt werden. Wenn zu wenig Öl vorhanden sei,gehe das Lager kaputt und die Uhr bleibe stehen. Wenn zu viel vorhanden sei, laufe das Öl in der Uhr herum und beschädige andere Bestandteile. Beide Male entstehe für die Fabrik ein teurer Garantiefall, den es zu vermeiden gelte. So habe er einen Apparat erfunden, der an jedem Uhrenlager genau die richtige Menge Öl absetze. Ein Tropfen Öl reiche diesem Apparat für drei Jahre! Ja, sparen und einteilen lerne man schon im Konzentrationslager. Er produziere diesen Apparat selber in seiner Fabrik, er habe Abnehmer in der halben Welt.
Ein von Leon Reich/Hormec entwickelter Dosierautomat |
Dann habe Philips die Kassettenrecorder auf den Markt gebracht. Dort bestehe genau dasselbe Problem mit dem Öl, nur seien die Masse und die Mengen zehnmal grösser. Da habe er eben seinen Apparat entsprechend vergrössert und an die Kassettenrecorderfabriken verkauft.
Er reise sehr viel, auch den Verkauf mache er selber. Sein Markt umfasse ganz Europa, Osteuropa und Ja- pan. Ja, Amerika fehle – aber seine Kraft habe dafür nicht mehr gereicht. Wenn er jünger gewesen wäre, dann hätte er dieses Land wohl auch erobert. Aber jetzt müssten die halt ohne seine Maschinen auskommen...
Dieser kleine Mann hatte nur eine Grundschule besucht. DieZeit, die andere in Oberstufe und Lehre verbringen, hatte er im Ghetto, im Konzentrationslager und im Tuberkulosesanatorium verloren. Und jetzt diese Karriere. Ein Triumph des Geistes über die widrigsten Umstände.
Was er mir bis jetzt über die Konzentrationslager erzählt hatte, wusste ich ja im Grunde schon. Und sei- ne so eindrückliche Biographie als Erfinder und Unternehmer war eigentlich auch nicht das, was ich von ihm wissen wollte. Ich brauchte ihn als Experten.
Es war damals die Zeit, wo die Nachachtundsechziger-Generation die Institutionen durchwanderte, wo eine neue Zeit die Koordinatensysteme veränderte. Feministische Theologinnen predigten weibliche Werte und die Verweiblichung, wenn nicht gar Abschaffung des Mannes. Friedensforscher wiesen nach, dass es Aggressivität im Grunde genommen gar nicht gebe, wenn man nur die Armeen abschaffe. Soziologen, Politologen und Philosophen produzierten Abhandlungen über reflexive Modernisierungsprozesse, über Sosein, Nichtanderssein und Bedingtheiten, Abhandlungen, denen ich nicht entnehmen konnte, was jetzt gemeint sei. Grüne sahen eine Mission darin, die Menschen zum Frieden mit der Natur und untereinander zu bringen. Ihnen schlossen sich alte Marxisten an: Wenn schon die Diktatur des Proletariats nicht mehr möglich war, sollten sich andere Mittel und Wege finden lassen, das Volk zu seinem Glück zu zwingen. Die gemeinsame Prämisse dieser Bestrebungen war, dass der Mensch eigentlich gut sei, wenn man ihn nur lasse, dazu bringe oder zwinge.
Dieser Weltsicht stand ich etwas ratlos gegenüber, als einer, der im Weltkrieg die Sirenen gehört hatte, der bei Fliegeralarm in Basel noch mit dem Kindermädchen in Kellereingänge flüchten musste; als einer, der Luftschutzkeller, Rationierung von Heizung und Nahrung, Kälte und Hunger miterlebt hatte; als einer, der in Presse und Wochenschauen mit angesehen hatte, wie sich 1956 die Studenten in Budapest mit primitiven Molotowcocktails den russischen Panzern entgegengeworfen hatten, zuerst erfolgreich, um dann doch niedergewalzt zu werden; als einer, der erlebt hatte, wie der tschechische Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Gesicht des Alexander Dubcek von den gleichen russischen Panzern zerquetscht wurde; als einer, der damals einer tschechischen Flüchtlingsfamilie monatelang Unterschlupf in der eigenen Wohnung gewährt hatte. Als so einer konnte ich dem jetzt immer allgemeingültigeren Friedensdiskurs nicht trauen.
Unsere ältere Generation vor den Achtundsechzigern war in ihrer Jugend überzeugt, dass ein rechter Mann die Pflicht habe, eine Waffe zu beherrschen und in der Armee zu dienen. Wir wollten nicht nur Molotowcocktails haben, wenn man sich denn wehren müsse, sondern Panzerabwehrraketen. Wir leisteten den Militärdienst mit Überzeugung, so grenzenlos stupid er auch organisiert war. Erst nach unserer Zeit drängten sich die jungen Leute in angeblicher Gewissensnot in den Zivildienst. Erst nach unserer Zeit gab es in jeder Rekrutenschule die weinenden Rekruten, welche die Idee, dass eine Waffe – ihre Waffe – töten könnte nicht mehr aushielten. Wir hatten das alles noch nicht gekannt.
Ich hielt es eher mit dem seherhaften Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt, der den Menschen als »Raubaffen« definiert hatte. Da war alles drin: Primitivität, Egoismus, Ungerechtigkeit, Geschicklichkeit und Gewalt.
Und so musste ich von meinem Experten vor allem eines wissen: Was war seine Ansicht? War der Mensch gut?
Er reagierte, wie wenn
er nicht richtig
verstanden hätte? Wie bitte? Ja eben, wiederhole ich, ist der Mensch gut? Er schaute mich an, wie wenn ich ihn gefragt hätte, ob der Mensch zwei Nasen habe, oder ob der Mond aus Käse sei... Dann sagte er sehr bestimmt und fast unwirsch: Aber selbstverständlich nicht, der Mensch ist überhaupt nicht gut. Wie ich auf so eine Idee komme?... Es komme nur auf die Bedingungen an. Wenn es ums Verhungern ging, im Ghetto, habe man sich wegen eines halben Brotstückes totgeschlagen...
Dann fragte ich ihn, ob das Hitler-Regime eine spezifisch deutsche Erscheinung sei, ob es einer besonderen Bosheit dieses Volkes entsprungen sei?... Wiederum ohne Zögern eine sehr bestimmte Antwort: Aber nein, die Deutschen haben einfach Pech gehabt. Das kann jederzeit und überall wieder passieren.
Aufgrund dieser Überzeugung habe er nicht die geringste Schwierigkeit, sich in Deutschland zu bewegen oder dort Geschäfte zu machen. Was er erlebt habe, nehme er keinem Deutschen persönlich übel.
Ich fragte dann weiter nach Verteidigungsfähigkeit und Armee. Ob er diese eher ablehne oder eher unterstütze. Darauf er: Wo denken Sie hin, ich habe jahrelang in Israel gelebt, ohne Armee ist das dort nicht möglich. Aber jetzt sei er schon Jahrzehnte in der Schweiz. Nur könne man auch hier nie sicher sein. Unrecht, Gewalt und Not könnten jederzeit und überall wieder ausbrechen. Selbstverständlich müsse man sich zu wehren wissen. Soweit mein Experte.
Ja, und selbstverständlich werden es jetzt sehr viele besser wissen: Alle die Sonntagsredner, die Bewegten, Milden, Klugen, die mit den weiten Herzen und mit dem alles verstehenden, einfühlsamen Blick.
Aber wer von diesen allen, bitteschön, hat den Teufel nicht nur gesehen, sondern am eigenen Leib im Massstab eins zu eins erlebt?
Ich glaube meinem Experten.
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Der
Experte war Leon Reich (1926-2014), Unternehmer und Gründer der Hormec Technic, Ipsach, Schweiz. Er hat mich ausdrücklich ermächtigt, seine Geschichte mit Namensnennung zu veröffentlichen.
Leon Reich kam mit einem Rotkreuztransport von 370 Kindern und jungen Männern aus Buchenwald über Basel in die Schweiz. Tatsächlich hatten viele ältere Jungen ihr Alter zu tief angegeben, um in den Transport zu kommen. Der Transport verlief chaotisch und die Aufnahme in der Schweiz war nicht nur freundlich (1).
Ein anderer Rotkreuztransport mit ungefähr 270 Konzentrationslagerinsassen, darunter 25 jüdische Kinder aus Buchenwald kam über das Militärspital Herisau in die Schweiz. Dessen damaliger Leiter Prof. A. Hottinger hat in einem zeitnahen Bericht die medizinischen Befunde, die Biographien, die höllischen Erfahrungen und das Verhalten seiner Patienten dargestellt. Es werden anderswo nirgends erwähnte entsetzliche Details der Lagerhaltung beschrieben (2).
Meine Begegnung mit Reich war 1992. Bis 2004 hatte Reich 39 Patente angemeldet.
(1) Madeleine Lerf, »Buchenwaldkinder« – eine Schweizer Hilfsaktion, Chronos-Verlag, Zürich 2010.
(2) A. Hottinger, O. Gsell, E. Uehlinger: Hungerkrankheit, Hungerödem, Hungertuberkulose, Schwabe, Basel 1948.