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Montag, 29. April 2024

Die schleichende Kastration der Männerwelt

(Zuerst veröffentlicht in Journal21.ch am 29.April 2024)

Männer stehen unter abnehmender Testosteronwirkung. Das senkt Spermienzahl und die Reproduktionsfähigkeit und wahrscheinlich verwischt es auch die Unterschiede von Sex und Gender.      

Geboren im Jahr 1941, verbrachte ich die frühe Jugend mit Holz- und Blechspielzeugen. Elektrogeräte waren mit Gummi, Textilien oder Keramik isoliert. Konserven kamen im Glas oder unbeschichteten Blechdosen. Fertiggerichte und Plastik gab es nicht. Erst in den Fünfzigerjahren wurden erste Plastikspielzeuge als «hygienisch» vermarktet.

Buben waren noch Buben und prügelten sich. Mädchen kicherten, sie hatten Schürzen und Zöpfe, an welchen wir Buben ziehen konnten. Von Homosexualität hörten wir erst mit Siebzehn. Ein akrobatisch begabter Schulkollege erhielt im Theaterballett eine kleine Rolle. Nach einer Tournee erzählte er uns mit aufgesperrten Augen über die sexuellen Gebräuche: «Alle machen mit allen alles!» Wir wussten nicht, ob das freie Wahl, Sünde oder Verbrechen war.

Hormone und Verhalten 

Gegen Ende des Jahrhunderts wurde klar, dass männliches Verhalten davon abhängt, dass um die Geburt genug Testosteron vorhanden ist. Wenn es dann fehlt oder wenn die Rezeptoren es nicht wahrnehmen können, wird sich das Individuum später nicht als Mann benehmen, auch nicht, wenn es genug Testosteron und einen männlichen Körper hat: Homosexualität ist weder Wahl noch Verbrechen. Sie ist hormonbedingtes Verhaltensmerkmal, welches durch Ärzte oder Gesetze nicht verändert werden kann. Trotz dem Gerede von Geschlechtsrollen als ausschliesslich sozialem Konstrukt gibt es unwiderlegbare Beweise, dass Testosteron nicht nur Potenz und Muskeln fördert, sondern auch Verhaltenseffekte hat, wie etwa Aggressivität, Dominanz, Territorialverhalten oder das Bevorzugen von Ballspiel und Schusswaffen gegenüber Puppen. 

Seit den Siebzigerjahren erschienen Berichte über Störungen der Geschlechtsdifferenzierung bei Fischen und Amphibien. Sie schienen nicht mehr zu wissen, ob sie Männchen oder Weibchen werden wollten, und es kam zu vermehrtem Auftreten von Intersexen. Angeschuldigt werden Hormone und hormonaktive Subtanzen in den Abwässern. Mittlerweile finden sich Störungen sogar in alpinen Gewässern, die nicht mit Abwässern in Kontakt gekommen sind. 

Abnahme der menschlichen Fruchtbarkeit

Und was ist mit uns? Die Spermienzahl der westlichen Männer hat seit Mitte des letzten Jahrhunderts auf weniger als die Hälfte abgenommen – um rund ein Prozent pro Jahr. Alarmierenderweise hat sich diese Abnahme inzwischen weltweit bestätigt und auf bis gegen zwei Prozent pro Jahr beschleunigt (1). Wenn es so weitergeht kann man ausrechnen, dass ab etwa 2045 die natürliche Fortpflanzung des Menschen zunehmend unmöglich wird. Es geht dann nur noch in der Retorte.

Überraschend, dass in den Diskussionen über Bevölkerungsentwicklung und AHV über diesen bekannten Befund kaum ein Wort verloren wird. Und wenn man bedenkt, was für ein Geschrei Gegner und Befürworter der Abtreibung veranstalten, so ist es eigentlich kurios, dass kein Hahn danach kräht, dass wir die Mehrzahl der Spermien killen. Schliesslich sind sie auch Lebewesen.

Nicht nur die Spermienzahl nimmt ab. Auch das Spermavolumen, der männliche Testosteronspiegel und die Fruchtbarkeit von Männern und Frauen gehen in ähnlicher Weise zurück. Die Zahl der ungewollt kinderlosen Paare nimmt ebenso zu wie die der Fertilitätsbehandlungen.

Seit dreissig Jahren beforscht Frau Professor Shanna Swan von der Mount Sinai School of Medicine in New York dieses Problem nach allen Richtungen (2). Aufgrund von Anhaltspunkten aus dem Tierreich machte sie bei Neugeborenen systematische Messungen der Distanz von After zum Geschlechtsteil. Diese Distanz ist testosteronabhängig, und sie ist viel grösser bei Buben und Männern als bei Mädchen und Frauen. Männer mit kleinerem Abstand haben eine kleinere Spermienzahl und geringere Fruchtbarkeit.

Aber auch dieser Unterschied der sogenannten anogenitalen Distanz zwischen Buben und Mädchen hat sich in den letzten Jahrzehnten verkleinert. Die Buben sind weniger männlich – ein Hinweis, dass auch bei noch ungeborenen Buben weniger Testosteronwirkung vorliegt. Nicht nur Fische, sondern auch menschliche Wesen wissen offenbar nicht mehr immer, ob sie Männchen oder Weibchen werden wollen.

Umweltgifte

Gemäss den Untersuchungen von Professor Swan und anderen sind dafür Chemikalien verantwortlich, welche den Testosteroneffekt blockieren oder denjenigen der weiblichen Hormone verstärken. Für den Menschen bedeutsam sind vor allem Phtalate und Bisphenole, welche als Weichmacher oder Härter in fast jedem Plastik enthalten sind, daneben auch gewisse Pestizide und Brandhemmer. Diese Substanzen sind teils extrem langlebig, überall und sogar in der Muttermilch vorhanden und reichern sich im Körper an. Nicht nur stören sie die Hormonbalance und die Spermienproduktion beim Mann, sie haben wahrscheinlich auch eine Rolle beim Brustkrebs und bei der schmerzhaften Endometriose der Frauen. 

Professor Swan und der Toxikologe Professor Wilks aus Basel raten deshalb übereinstimmend, alle in Plastik abgepackten Nahrungsmittel zu meiden, seien es Milchprodukte, Fleisch, Fertiggerichte, Tiefgekühltes oder Konserven in plastifizierten Büchsen. Bei Milch und Joghurt ist das vielerorts unmöglich. Der Handel sollte deshalb wieder auf Glasverpackungen umsteigen. Beschichtete Pfannen sollte man durch unbeschichtete Eisenpfannen ersetzen. In Frankreich sollen viele dieser Substanzen ab 2026 verboten werden. In der Parlamentsdiskussion fiel dort der durchaus zutreffende Vergleich mit dem Asbestskandal.  

Verwischte Geschlechterrollen

Wie gesagt, haben Sexualhormone prägende Wirkungen auf männliches und weibliches Verhalten. Nun ist seit zwanzig Jahren eine vorher nie gekannte Genderdiskussion entstanden über Definition, Einteilung, Rollen und Rechte der Geschlechter. Sie geht bis in sprachliche Finessen. Mir altem Mann schien das lange irrelevant und unverständlich. Auch Alt-Bundesrat Ueli Maurer geht es so, und er kämpft mit seinen rechten Gesinnungsgenossen gegen diese sogenannte Woke-Kultur.

Aber wenn man richtig überlegt: Männer sind nach den genannten körperlichen Befunden flächendeckend einer zwar milden, aber zunehmenden chemischen Kastration unterworfen, und zwar sowohl vor als auch nach der Geburt. Es kann gar nicht anders sein, als dass dadurch auch männliche Verhaltensmuster abgeschwächt werden. Und was, wenn viele junge Männer weniger männlich werden? Vermissen junge Frauen vielleicht den «richtigen» Mann? Passen althergebrachte Geschlechterrollen noch zu den chemisch verwischten Geschlechtstypen? 

Auf einer subjektiven Ebene wird die betroffene Jugend ihre veränderte Befindlichkeit in endlosen Diskussionen darüber abhandeln, was es heisst, Mann oder Frau oder etwas dazwischen zu sein. Das ist ja genau, was wir beobachten. 

Und Ueli Maurer und seine Genossen zur Rechten, welche vorgeben, diese Woke-Kultur zu bekämpfen, sind eigentlich deren Wurzel. weil sie die Freiheit der Industrie verteidigen, unsere Nahrung und Umwelt zu vergiften, z.B. neulich in den Initiativen zu Trinkwasser und Pestiziden – der Bock, der sich als Gärtner aufspielt. 

(1)  Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis of samples collected globally in the 20th and 21st centuries | Human Reproduction Update | Oxford Academic (oup.com)

(2) Shanna Swan, «Count Down», Scribner 2021 (Deutsche Übersetzung als ebook verfügbar)

1 Kommentar:

  1. Der Beitrag von Lukas Fierz ist in jeder Hinsicht zutreffend. Er entspricht genau allen Informationen, die mir bisher über des Thema zugekommen sind, sowie eigenen Beobachtungen. Indessen wird die Abkehr von der im Zeichen des Plastik stehenden Wirtschaft viel Mühe und Zeit kosten, und noch viel mehr Zeit wird darauf vergehen, dass der Anteil des Microplastik am irdischen Wasserhaushalt sich vermindert. Die Methode der sexuellen Fortpflanzung hat vor Milliarden Jahren der Evolution eine Beschleunigung ihrer Schritte ermöglicht. Wenn es damit vorbei ist, so ist das kein "Ende", eher eine Alterserscheinung.

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