Angemeldet war dieser höfliche, ja freundliche ältere Herr wegen Schleudertrauma. Er war auffallend klein, etwas beleibt. Er hatte eine Glatze, etwas abstehende, grosse Ohren und trug einen eleganten grauen Anzug. Zwar sprach er Schweizer Dialekt, aber etwas getragen, singend, mit hochdeutschem Akzent und rollendem R. Trotz seiner Kleinheit strahlte er heitere Selbstsicherheit und Überlegenheit aus. Er war der Patron einer grossen Firma.
Medizinisch war die Sache klar und weiter
nicht interessant. Aber man protokollierte halt die Geschichte und machte die
Untersuchung, bei der man meist ausser einem steifen Nacken nichts fand.
Jetzt sitzt er vor mir auf der
Untersuchungscouch und ich prüfe mit dem Hammer die Sehnenreflexe, rechts,
links, alle vorhanden und ganz seitengleich. Aber was ist das hier auf dem
linken Vorderarm? Bläulich, eine Nummer, eine tätowierte Nummer, etwas
schwierig zu lesen, aber doch, 178453... Man weiss - solche Nummern hatte ich
schon zweimal gesehen - solche tätowierten Nummern gab es nur in Auschwitz. Ich
fragte vorsichtig, was das sei, und er bestätigte, Auschwitz... Ich beendete
die Untersuchung, die Geschichte hatte ich notiert, es war nichts mehr zu tun.
Aber dieser Mann wusste mehr als wir... ich musste mehr über ihn
herausfinden...
Er hatte sich wieder angezogen und kam aus
dem Untersuchungszimmer. Ich sagte ihm, wir seien fertig, ich hätte alles was
ich brauche... aber... also... das wisse er ja selber... wir Friedenskinder
hätten ja keine Ahnung,... ob er mir vielleicht über seine Erfahrungen
erzählen wolle… er müsse natürlich nicht, es sei nur für mein persönliches
Interesse... Ohne gross zu überlegen meinte er ganz liebenswürdig, das könne er
schon machen, setzte sich und fügte an, er gehe sowieso ab und zu in die
Schulen, um den Kindern über die damalige Zeit zu berichten. Das sei eine Pflicht.
Was solle er sagen, er stamme aus Polen,
seine Eltern seien arme Bauern gewesen, rechtgläubige Juden, er habe neun
Geschwister gehabt. Es habe in Polen schon in den Dreissigerjahren
Antisemitismus gegeben, für ihn habe das geheissen, dass er von seinen Mitschülern jeden Tag
verprügelt worden sei, und zwar, weil er Jesus ermordet habe, so ein
Schwachsinn – nach 2000 Jahren...
Sein Vater habe darauf bestanden, dass
alle seine Kinder Englisch lernten, man könne nie wissen... Daneben habe er
Hebräisch, und in der Synagoge die ganze jüdische Tradition gelernt, die Gebete
und die heiligen Texte. Nach der Schule habe man ihn in eine Uhrmacherlehre
gesteckt. Aber schon bald war für einen Juden Schluss mit Uhrmacherlehre, denn
1939 marschierte Hitler in Polen ein. So sei er mit dreizehn Jahren ins Ghetto
von Krakau gekommen. Irgendwie habe er dort überlebt, immer mit Hunger. Seit
damals sei er nicht mehr gewachsen. 1943 habe man ihn nach Auschwitz
deportiert, - Rampe, Tätowierung, gestreifte Kleider, stundenlange Appelle,
Kälte, harte Arbeit, man weiss.
Aber eigentlich sei er erleichtert
gewesen, endlich im Konzentrationslager zu sein. Da habe man wenigstens
gewusst, woran man sei. Er schaute mich direkt an und fuhr fort, er habe das
eben als Aufgabe aufgefasst: Das war jetzt das Spiel, das es zu spielen galt...
Sein Vorteil sei gewesen, dass er so jung gewesen sei. Er habe nicht viel anderes
gekannt und sich deshalb besser darauf einstellen können, als die Erwachsenen.
Vorher, im Ghetto, dauernd auf der Hut, dauernd in Angst vor der nächsten
Razzia, vor der nächsten Selektion, oft versteckt, dauernd auf der Suche nach
Essbarem und jede Minute in Ungewissheit, das sei viel schlimmer gewesen.
Das Konzentrationslager habe er nur mit
unglaublich viel Glück überlebt. Wie viele Male sei sein Überleben an einem
Fädchen gehangen. Einmal zum Beispiel hätten die Wachen zwei Pflöcke drei Meter
voneinander entfernt in den Boden rammen lassen. Daran wurde eine Querlatte
befestigt, 140 Centimeter über dem Boden. Dann habe man alle Jugendlichen
versammelt und durch dieses Tor getrieben. Diejenigen, welche die Querlatte mit
dem Kopf erreichten oder überragten seien direkt ins Gas gekommen. Sein Glück
sei gewesen, dass er durch den dauernden Hunger im Wachstum zurückgeblieben
war. So sei er nicht ins Gas gekommen. Durch seine Kleinheit hätten ihm auch
die kargen Essensrationen etwas besser gereicht.
Seiner Mutter sei es irgendwie gelungen,
ihm Uhrmacherwerkzeug ins Ghetto schmuggeln zu lassen, welches er ins Lager retten konnte. Damit habe er manchmal
Uhren reparieren und sich eine kleine Zusatzration verdienen können. Nur wegen seiner Kleinheit und seiner Uhrmacherkunst habe er überlebt.
Zur Arbeit hätten sie in Viererkolonnen
aus dem Lager hinaus und danach zurückmarschieren müssen. Besonders am Sabbat,
aber oft auch sonst habe er auf diesen Märschen die rituellen jüdischen Gebete,
Psalmen und Verse vor sich hingemurmelt, ganz leise, höchstens für die Nachbarn
zur rechten und zur linken hörbar, aber nicht für die Wachen. Wie froh sei er gewesen,
dass er sie alle auswendig gekannt habe, diese Verse, die für ihn enorm wichtig
gewesen seien, als Protest und als Selbstbehauptung, das habe ihm und vielen
anderen immer wieder Kraft zum Durchhalten gegeben.
Beim Anrücken der Roten Armee Anfang 1945
sei Auschwitz evakuiert worden mit den Todesmärschen nach Buchenwald, vorbei an
den Leichen derer, die nicht mehr weitergekommen waren, die beidseits der
Strasse lagen, erschossen, erfroren, erschlagen im blutigen Schnee.
In all den Jahren im Ghetto und im
Konzentrationslager habe er nicht ein einziges Mal geweint, egal, was man ihnen
angetan habe. Und dann an einem Frühlingstag sei plötzlich Militärfahrzeuge aufgefahren
vor Buchenwald, auf ihnen ein weisser Stern. Die KZ-Wachen seien plötzlich
nicht mehr dagewesen und amerikanische Soldaten seien hin- und hergegangen. Und
sie, die Gefangenen hätten sich hinter dem Stacheldrahtzaun gedrängt, geschaut
und gewusst, das ist das Ende unseres Leidens, die Befreiung. In diesem Moment
erst hätten ihn die Tränen überwältigt und er habe lange geheult.
Nach der Befreiung habe man bei ihm Typhus
und eine offene Lungentuberkulose festgestellt. Er habe noch 29 Kilogramm
gewogen. Er sei zur Kur nach Seldwyla gebracht worden, ja in die Sumpfweid, so
habe doch das Spital geheissen, und dann in die Berge. Wieder ein Glück, dass
er so klein gewesen sei, denn nur so sei er in diesen Rotkreuz-Kindertransport
gekommen. Man habe allerdings sein Geburtsdatum von 1923 auf 1926 verschieben
müssen, sonst hätte man ihn nicht mitgenommen. Ebenfalls zu seinem Glück
sei soeben das Streptomycin verfügbar geworden, das erste wirksame Medikament
gegen die Tuberkulose. Ohne seine Kleinheit und ohne Streptomycin wäre er einmal
mehr kläglich eingegangen, diesmal an Tuberkulose.
Nach der Heilung sei er in eine
Uhrenfabrik im Norden der Schweiz gekommen, dort konnte er die Uhrmacherlehre
abschliessen und später in dieser Fabrik arbeiten. Ja und dort habe er
halt zugeschaut und immer wieder denken müssen, dass die ihre Arbeit ja auf
eine ganz dumme Art und Weise machten. Dies und das hätte man besser machen
können, oder jenes, wenn man sich nur etwas überlegt hätte...
"Da habe ich eben angefangen, zu
erfinden". Eine Erfindung nach der anderen. Jetzt besitze er ein Portfolio
von zwanzig Patenten. Und dazu eine eigene Fabrik mit über hundert
Angestellten. In dieser Fabrik sei er alles in einem: Entwicklungschef,
Personalchef, Produktionschef, Finanzchef, Verkaufschef, eigentlich Vater und Mutter
und alles zugleich.
Unter den vielen Patenten und Produkten
sei das wichtigste ein Gerät zum Ölen von Uhren. An jedem Uhrenlager müsse ein
winziges, kaum sichtbares Tröpfchen Öl abgesetzt werden. Wenn zu wenig Öl
vorhanden sei, so gehe das Lager kaputt und die Uhr bleibe stehen. Wenn zu viel
vorhanden sei, so laufe das Öl in der Uhr herum und beschädige andere
Bestandteile. Beidemale entstehe für die Fabrik ein teurer Garantiefall, den es
zu vermeiden gelte. So habe er einen Apparat erfunden, der an jedem Uhrenlager
genau die richtige Menge Öl absetze. Ein Tropfen Öl reiche diesem Apparat für
drei Jahre! Ja, sparen und einteilen lerne man schon im Konzentrationslager. Er
produziere diesen Apparat selber in seiner Fabrik, er habe Abnehmer in der
halben Welt.
Dann habe Philips die Kassettenrecorder
auf den Markt gebracht. Dort bestehe genau dasselbe Problem mit dem Öl, nur
seien die Masse und die Mengen zehnmal grösser. Da habe er eben seinen Apparat
entsprechend vergrössert und an die Kassettenrecorderfabriken verkauft.
Er reise sehr viel, auch den Verkauf mache
er selber. Sein Markt umfasse ganz Europa, Osteuropa und Japan. Ja, Amerika
fehle - aber seine Kraft habe dafür nicht mehr gereicht. Wenn er jünger gewesen
wäre, dann hätte er dieses Land wohl auch erobert. Aber jetzt müssten die halt
ohne seine Maschinen auskommen...
Dieser kleine Mann hatte nur eine
Grundschule besucht. Die Zeit, die andere in Oberstufe und Lehre verbringen
hatte er im Ghetto, im Konzentrationslager und im Tuberkulosesanatorium
verloren. Und jetzt diese Karriere. Ein Triumph des Geistes über die widrigsten
Umstände.
Was er mir bis jetzt über die
Konzentrationslager erzählt hatte wusste man ja im Grunde schon. Und seine so
eindrückliche Biographie als Erfinder und Unternehmer war eigentlich auch nicht
das, was ich von ihm wissen wollte. Ich brauchte ihn als Experten.
Es war damals die Zeit, wo die
Nachachtundsechziger-Generation die Institutionen durchwanderte, wo eine neue
Zeit die Koordinatensysteme veränderte. Feministische Theologinnen predigten
weibliche Werte und die Verweiblichung, wenn nicht gar Abschaffung des Mannes.
Friedensforscher wiesen nach, dass es Aggressivität im Grunde genommen gar
nicht gebe, wenn man nur die Armeen abschaffe. Soziologen, Politologen und
Philosophen produzierten Abhandlungen über reflexive Modernisierungsprozesse,
über Sosein, Nichtanderssein und Bedingtheiten, Abhandlungen denen ich nicht
entnehmen konnte, was jetzt gemeint sei. Grüne sahen eine Mission darin, die
Menschen zum Frieden mit der Natur und untereinander zu bringen. Ihnen
schlossen such alte Marxisten an: Wenn schon die Diktatur des Proletariats
nicht mehr möglich war, sollten sich andere Mittel und Wege finden, das Volk zu
seinem Glück zu zwingen. Die gemeinsame Prämisse dieser Bestrebungen war, dass
der Mensch eigentlich gut sei, wenn man ihn nur lasse, dazu bringe oder zwinge.
Dieser Weltsicht stand ich etwas ratlos
gegenüber als einer, der im Weltkrieg die Sirenen gehört hatte, der bei
Fliegeralarm in Basel noch mit dem Kindermädchen in Kellereingänge flüchten
musste; als einer, der Luftschutzkeller, Rationierung von Heizung und Nahrung,
Kälte und Hunger miterlebt hatte; als einer, der in Presse und Wochenschauen
mitangesehen hatte, wie sich 1956 die Studenten in Budapest mit primitiven
Molotowcocktails den Russischen Panzern entgegengeworfen hatten, zuerst
erfolgreich, um dann doch niedergewalzt zu werden; als einer, der erlebt hatte,
wie der Tschechische Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Gesicht des Alexander
Dubcek von den gleichen russischen Panzern zerquetscht wurde; als einer, der
damals einer tschechischen Flüchtlingsfamilie monatelang Unterschlupf in der
eigenen Wohnung gewährt hatte. Als so einer konnte ich dem jetzt immer
allgemeingültigeren Friedensdiskurs nicht trauen.
Unsere ältere Generation vor den
Achtundsechzigern war in ihrer Jugend überzeugt, dass ein rechter Mann die
Pflicht habe, eine Waffe zu beherrschen und in der Armee zu dienen. Wir wollten
nicht nur Molotowcocktails haben, wenn man sich denn wehren müsse, sondern
Panzerabwehrraketen. Wir leisteten den Militärdienst mit Überzeugung, so
grenzenlos stupid er auch organisiert war. Erst nach unserer Zeit drängten sich
die jungen Leute in angeblicher Gewissensnot in den Zivildienst. Erst nach
unserer Zeit gab es in jeder Rekrutenschule die weinenden Rekruten, welche die
Idee, dass eine Waffe - ihre Waffe - töten könnte nicht mehr aushielten. Wir hatten
das alles noch nicht gekannt.
Ich hielt es eher mit dem seherhaften
Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt, der den Menschen als
"Raubaffen" definiert hatte. Da war alles drin: Primitivität,
Egoismus, Ungerechtigkeit, Geschicklichkeit und Gewalt.
Und so musste ich von meinem Experten vor
allem eines wissen: Was war seine Ansicht? War der Mensch gut?
Er reagierte, wie wenn er nicht richtig
verstanden hätte? Wie bitte? Ja eben, wiederhole ich, ist der Mensch gut? Er
schaute mich an, wie wenn ich ihn gefragt hätte, ob der Mensch zwei Nasen habe,
oder ob der Mond aus Käse sei... Dann sagte er sehr bestimmt und fast unwirsch:
Aber selbstverständlich nicht, der Mensch ist überhaupt nicht gut. Wie ich auf
so eine Idee komme?... Es komme nur auf
die Bedingungen an. Wenn es ums Verhungern ging, im Ghetto, habe man sich wegen
eines halben Brotstückes totgeschlagen…
Dann fragte ich ihn, ob das Hitler-Regime
eine spezifisch deutsche Erscheinung sei, ob es einer besonderen Bosheit dieses
Volkes entsprungen sei?... Wiederum ohne Zögern eine sehr bestimmte Antwort:
Aber nein, die Deutschen haben einfach Pech gehabt. Das kann jederzeit und
überall wieder passieren.
Aufgrund dieser Überzeugung habe er nicht
die geringste Schwierigkeit, sich in Deutschland zu bewegen oder dort Geschäfte
zu machen. Was er erlebt habe, nehme er keinem Deutschen persönlich übel.
Ich fragte dann weiter nach
Verteidigungsfähigkeit und Armee. Ob er diese eher ablehne oder eher
unterstütze. Darauf er: Wo denken Sie hin, ich habe jahrelang in Israel gelebt,
ohne Armee ist das dort nicht möglich. Aber jetzt sei er schon Jahrzehnte in
der Schweiz. Nur könne man auch hier nie sicher sein. Unrecht, Gewalt und Not
könnten jederzeit und überall wieder ausbrechen. Selbstverständlich müsse man
sich zu wehren wissen. Soweit mein Experte.
Ja, und selbstverständlich werden es jetzt
sehr viele besser wissen: Alle die Sonntagsredner, die Bewegten, Milden, Klugen,
die mit den weiten Herzen und mit dem alles verstehenden, einfühlsamen Blick.
Aber wer von diesen allen, bitteschön, hat
den Teufel nicht nur gesehen, sondern am eigenen Leib im Massstab eins zu eins
erlebt?
Ich glaube meinem Experten.