Über mich

Freitag, 10. Mai 2024

Der AHV gehen die Spermien aus

(Erstmals erschienen auf Inside-Paradeplatz am 10.5.2024)


Spermien und Testosteron gehen zurück, mit versicherungstechnischen und gesellschaftlichen Folgen: Zuviel für den Tages-Anzeiger.

Mutter Natur will vom Mann nur eines: Dass er Spermien produziere und in einer fruchtbaren Frau deponiere.

Der Mann als Betrieb. Und die Spermien als Dividende, die zwei- dreimal pro Woche ausgeschüttet wird, normalerweise 50-500 Millionen aufs mal.

Natur braucht Überfluss: Unter 40 Millionen beginnt es mit der Fortpflanzung zu hapern.

Erstmals gesehen hat die (eigenen) Spermien der mikroskopierende Tuchhändler Anthony van Leuwenhoek in Delft. Das war vor dreihundertfünfzig Jahren.

Er betrachtete sie als kleine Tierchen, jedes ein vorgebildetes Menschlein enthaltend.

Man zählt sie wie Blutkörperchen, das kann man seit 150 Jahren. Die Zählung ist keine Meinung, sondern ein Messresultat, das man nicht verändern, nur interpretieren kann.


1992 kam der erste Bericht aus Dänemark über einen dramatischen Spermienrückgang seit circa 1950. Nach Skepsis bestätigte sich der Befund in westlichen Ländern.

Eine Übersicht kam 2017 auf einen Rückgang von rund einem Prozent pro Jahr auf weniger als die Hälfte. Das männliche Sexualhormon Testosteron sinkt parallel. Ungewollt kinderlose Paare werden häufiger.

So wird die männliche Zeugungskraft ab etwa 2045 erlahmen. Für die AHV vernichtend. Ohne Trendumkehr bleibt nur die Hoffnung auf die Retorte, oder auf fruchtbare südländische Migranten.

Immerhin schlafen wir ruhig, wissen wir doch von Frau Dreifuss und Herrn Maillard, dass die AHV gesichert ist. Es lebe der fröhliche Ausbau.

2022 ergaben neueste Befunde eine beschleunigte Abnahme bis auf 2 Prozent im Jahr. Auch in Asien, Afrika und Südamerika. Keine Trendumkehr. Reproduktionsprobleme schon vor 2045.

Und wenig Hoffnung auf fruchtbare südländische Migranten.

In den Medien war neuerdings viel die Rede von der AHV, aber der Spermienrückgang blieb in diesem Zusammenhang weitgehend unerwähnt.

Angesichts der Überbevölkerung ja nicht so schlimm. So könnten wir zur Tagesordnung übergehen, wie bei den Bienen, den anderen Insekten und den Singvögeln.

Immerhin lassen mich drei Fragen nicht los:

1. Wo bleiben die Abtreibungsgegner, nachdem wir über die Hälfte der Spermien killen? Diese enthalten zwar keine Menschlein, sind aber eine Art Vormenschlein. Und wer weiss, vielleicht haben sie sogar eine kleine Seele.

2. Der sinkende Testosteronspiegel spricht für Hormonstörung. Viele Indizien beschuldigen die Weichmacher aus dem Plastik. Sie verfälschen Hormonwirkungen, und wir nehmen sie unter anderem über Milchflaschen und Yoghurtbecher auf.

Das französische Parlament hat sie soeben verboten. Was macht eigentlich unser Parlament, was macht Albert Rösti?

3. Als Arzt und Naturbeobachter war ich ein Leben lang fasziniert, wie Hormone die Organe und das Verhalten steuern. Im Selbstversuch spürte ich mit Cortison oder Testosteron subjektive Effekte.

Wenn jetzt das Testosteron parallel zu den Spermien sinkt: Was macht eine flächendeckende Testosteronsenkung auf das gesellschaftliche Bewusstsein und Verhalten?

Dazu gibt es keine Beweise. Aber ziemlich viele Anhaltspunkte. Die kann man interpretieren, und dazu kann man eine Meinung haben.

Nachdem ich nicht nur spezielle Kenntnisse der Hormonwirkung hatte, sondern auch ein in der Politik geschärftes Bewusstsein für gesellschaftliche Fragen, bildete ich mir ein, dass meine informierte Interpretation und Meinung vielleicht interessiere.

Und schickte sie der Meinungsseite des Tages-Anzeigers.

Nur hatte der Meinungsredaktor, für den ich früher gelegentlich geschrieben hatte, das Ressort gewechselt. Dem neuen Redaktor war der Artikel zu lang.

Ich kürzte auf 3’000 Zeichen. Da meinte er, das sei eher für das Wissenschaftsressort.

Der Wissenschaftsredaktor stampfte mich ungespitzt in den Senkel: Für derart unbewiesene Behauptungen stehe seine Zeitung nicht zur Verfügung.

Nur, es war nicht eine Behauptung. Lediglich eine Interpretation bekannter Tatsachen für die Meinungsseite. Klar, sie ging über den heute üblichen und voraussehbaren Chat-GPT-Journalismus hinaus. Ist das wirklich zu gewagt für Zürich?

Wollen wir weiter diskutieren, oder es doch lieber lassen?

Samstag, 4. Mai 2024

EIN ALTER ARZT WUNDERT SICH

(Zuerst erschienen auf Inside Paradeplatz am 4.5.2024)

Ein Gesundheitsystem, das Leistungsausweitung belohnt, erzeugt Leistungsausweitung. Die Prämieninitiative zementiert diesen Irrsinn.

Ich bin ein alter Arzt. Seit 13 Jahren praktiziere ich nicht mehr, kann dafür aussprechen, was andere nur zu denken wagen.

Gemäss Krankenkassenstatistik lagen meine durchschnittlichen Kosten pro abgeschlossener Fall in den Jahren 1980 bis 2011 meist 25 bis 33 Prozent unter dem Durchschnitt der Fachkollegen.

Dabei hatte ich an nichts gespart, mir jede Magnetresonanz-Tomographie und jede denkbare Laboruntersuchung geleistet.

Aber ich hatte mich an die Prinzipien einer „Health Maintenance Organisation (HMO)“ gehalten: Keine unnötigen Kontrollen, möglichst viel per Telefon, keine unbegründeten Zusatzuntersuchungen, keine nachweislich unwirksame Behandlung.

Das schaffte Zeit für Unvorhergesehenes. Notfälle konnten meist unverzüglich gesehen werden.

Aufgrund dieser Erfahrung ist meine erste Überzeugung, dass mindestens ein Fünftel der Gesundheitsausgaben durch unbegründeten Überkonsum entsteht.

Nur war mit diesem Medizinalstil kein grosses Geld zu verdienen. Er war überhaupt nur möglich, weil von Haus aus Geld vorhanden und keine Hypothek zu finanzieren war.

Deshalb ist meine zweite Überzeugung: Das System zwingt die Ärzte zur Überarztung. Schuldzuweisungen gehören zuerst ans System, nicht an die Ärzte.

Tatsächlich wird im grossen Stil Geld verschwendet an Massnahmen, die nachgewiesenermassen nichts bringen:

Seresta, Temesta, Tranxilium, Librium, Valium, Lexotanil als Beruhigungs- und Schlafmittel machen mehr Nebenwirkung als Wirkung und könnten in dieser Indikation ersatzlos gestrichen werden.

Röntgenbilder und Tomographien sind bei Migräne und banalen Kopfschmerzen ebenso sinnlos wie bei banalen Rückenschmerzen.

Auch ohne Operation würden die meisten Fälle von lumbaler Diskushernie, von Tennisellbogen oder schmerzhafter Schultersteife abklingen.

Auf keine Kuhhaut geht, was man mit aussichtslosen, aber hoffnungsvollen Krebspatienten in den letzten Lebensmonaten anstellt, eine Verlängerung eines immer elenderen Lebens mit ungeheuren Kosten.

Es gibt auch Situationen, wo Änderung des Lebensstils mehr bringen würde als Medizin.

Rückenschmerzen reagieren nicht auf Physiotherapie, wohl aber auf Training. Der Altersdiabetes wäre in circa der Hälfte der Fälle durch Körperaktivität und rigorose Gewichtsabnahme heilbar.

Auch erhöhter Blutdruck würde sinken, aber die nötige Motivationsarbeit wird den Ärzten nicht bezahlt – so bleibt man bei der lukrativen, aber wenig wirksamen „Behandlung“.

Nur müssen wir uns nicht wundern: Wenn wir den Arzt nach Leistungsmenge bezahlen, so wird Leistungsmenge geliefert - „Dont’t ask the barber if you need a haircut.“

Ein dritter Punkt ist der luxuriös aufgeblähte stationäre Sektor: Dass stationäre Operationen die Krankenkassen weniger kosten als ambulante ist ein Zopf, der endlich abgeschnitten gehört.

In meinen Lehrjahren in Paris und London war ich beeindruckt von der Spitzenmedizin, die dort in Gebäuden aus dem 17. und 19. Jahrhundert betrieben wird.

Bei uns dagegen können Spitalprojekte nie zu zahlreich, zu neu, zu gross und zu luxuriös sein, es findet sich dafür immer eine Mehrheit von Ja-Stimmen, was die Baulobby genüsslich ausnützt.

Nur sind unsere Zentrumsspitäler nachgerade von einer derartigen Grösse, dass Mangel an Übersicht, Verantwortungsbereitschaft und Führung häufig zu Doppelspurigkeiten und Leerläufen führen.

Im schlimmsten Fall geraten die Patienten in eine endlose Mühle, in der niemand für sie verantwortlich ist, und sie entgleiten dem Hausarzt, der sie am besten kannte.

Auch ist dem Stimmbürger nicht bewusst, dass in den Einzel- und Doppelzimmern der neuen Paläste die Überwachung viel schlechter gewährleistet ist als in einem Sechserzimmer.

Die absolut beste Überwachung (abgesehen von einer Intensivstation) sah ich in den altväterischen Nightingale Wards in England.

Ein Riesenraum mit 28 Betten, in der Mitte zwei Schreibtische für Ärzte und Schwestern: Bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen wie Herzstillstand, Atemstillstand, Ersticken war Hilfe innert Sekunden zur Stelle, und für junge Ärzte gab es keinen besseren Ort der Ausbildung.

Und bei der Essensverteilung halfen die Patienten, die dazu im Stande waren. Ein Gefühl von Schicksalsgemeinschaft verband alle.

In unseren Privatzimmern liegt man zwar im Luxus, aber wenn es kritisch wird, ist man hilflos und allein.

Jetzt haben wir wieder eine Abstimmung. Die Kostenbremsinitiative will die Kosten dieses verschwenderischen Systems deckeln.

Die Gefahr dabei ist, dass alle Leistungen rationiert werden, die überflüssigen und die notwendigen, ohne Verbesserung der Effizienz oder des Systems.

Und nachdem die Alten auf Kosten der Jungen und ohne eigenen Beitrag sich die 13. AHV-Rente gegönnt haben, soll jetzt die Praemienentlastungs-Initiative dieses verschwenderische Gesundheitssystem mit Steuergeld über Wasser halten, nur damit man die Fehlkonstruktion weiterhin nicht korrigieren muss.

Damit wird jede Verbesserung des Systems verhindert, und irgendwann wird man sich die Augen reiben, wenn man merkt, dass solche Perpetuum mobiles nicht unbegrenzt funktionieren.


Dienstag, 30. April 2024

The insidious castration of all men

Men seem to become less testosterone-driven. This decreases sperm count and threatens reproduction. While this is perhaps not a bad thing it also blurs sex and gender. 

Born in 1941, I spent my early youth with toys made from wood and tin. Electrical appliances were insulated with rubber, textiles or ceramics. Tinned food came in glass or uncoated tin cans. There were no ready meals or plastic. It wasn't until the 1950s that the first plastic toys were marketed as ‘hygienic’.

Boys were still boys and fought with fists. Girls giggled, they had aprons and braids that we boys could pull on. We didn't hear about homosexuality until we were seventeen: An acrobatically gifted schoolmate was given a small role in the theatre ballet. After a tour, he told us about the sexual customs with his eyes wide open: ‘Everyone does everything with everyone!’ We didn't know whether this was a free choice, a sin or a crime.

Hormones and behaviour 

Towards the end of the century, it became clear that male behaviour depends on there being enough testosterone around birth. If it is then absent or if the receptors cannot perceive it, the individual will not behave as a man, even if he later has enough testosterone and a male body: Homosexuality is neither a choice nor a crime. It is a hormone-determined behavioural trait that cannot be changed by doctors or laws. Despite the talk of gender roles as an exclusively social construct, there is irrefutable evidence that testosterone not only promotes virility and muscles, but also has behavioural effects such as aggressiveness, dominance, territorial behaviour or a preference for ball games and firearms over dolls. 

Since the 1970s, reports have appeared on disorders of sex differentiation in fish and amphibians. They no longer seemed to know whether they wanted to be male or female, and there was an increased incidence of intersexes. Hormones and hormone-active substances in the wastewater are blamed. Disorders are now even found in alpine waters that have not come into contact with wastewater. 

Decline in human fertility

And what about us? The sperm count of Western men has fallen to less than half since the middle of the last century - by around one per cent per year. Alarmingly, this decline has now been confirmed worldwide and has accelerated up to almost two per cent per year (1). If things continue at this rate, it can be calculated that natural human reproduction will become increasingly impossible from around 2045. It will then only be possible in the retort.

It is surprising that hardly a word is said about this well-known finding in the discussions about population development or old age pensions. And when you consider the clamour raised by opponents and supporters of abortion, it is actually strange that nobody cares about the fact that we are killing the majority of sperm. After all, they are living beings too.

It is not only the sperm count that is decreasing. Sperm volume, male testosterone levels and the fertility of men and women are also declining in a similar way. The number of unintentionally childless couples is increasing, as is the number of fertility treatments.

For thirty years, Professor Shanna Swan of the Mount Sinai School of Medicine in New York has been researching this problem in all directions (2). Based on evidence from the animal kingdom, she systematically measured the distance from the anus to the genitals in newborns. This distance is testosterone-dependent, and it is much greater in boys and men than in girls and women. Men with a smaller distance have a smaller sperm count and lower fertility.

However, this difference in the so-called anogenital distance between boys and girls has also decreased in recent decades. The boys are less masculine - an indication that there is also less testosterone effect in unborn boys. Not only fish, but also human beings apparently no longer always know whether they want to become male or female.

Environmental toxins

According to the studies by Professor Swan and others, chemicals that block the testosterone effect or enhance that of the female hormones are responsible for this. Of particular importance to humans are phthalates and bisphenols, which are contained in almost all plastics as plasticisers or hardeners, as well as certain pesticides and fire retardants. Some of these substances are extremely persistent, present everywhere and even in breast milk, and accumulate in the body. Not only do they disrupt hormone balance and sperm production in men, they are also likely to play a role in breast cancer and painful endometriosis in women. 

Professor Swan and toxicologist Professor Wilks from Basel are therefore unanimous in their advice to avoid all food packaged in plastic, be it dairy products, meat, ready meals, frozen food or tinned food in plasticised tins. For milk and yoghurt, this is impossible in many places. Retailers should therefore switch back to glass packaging. Coated pans should be replaced by uncoated iron pans. In France, many of these substances are to be banned from 2026. In the parliamentary debate there, the comparison with the asbestos scandal was quite apt.  

Blurred gender roles

As already mentioned, sex hormones have a formative effect on male and female behaviour. Over the past twenty years, an unprecedented gender debate has emerged about the definition, categorisation, roles and rights of the sexes. It goes right down to the finer points of language. As an old man, this seemed irrelevant and incomprehensible to me for a long time. Like many right-wing politicians former Swiss Federal Councillor Ueli Maurer feels the same way, and he and his like-minded colleagues are fighting against this so-called woke culture.

But if you really think about it: According to the physical findings mentioned, men are subject to a mild but increasing chemical castration across the board, both before and after birth. It cannot be otherwise than that male behavioural patterns are also weakened as a result. And what if many young men become less masculine? Do young women perhaps miss the ‘right’ man? Do traditional gender roles still fit in with the chemically blurred gender types? 

On a subjective level, the young people concerned will deal with their changed state of mind in endless discussions about what it means to be a man or a woman or something in between. That's exactly what we're seeing. 

And the political right, which claim to be fighting this"woke-culture", is actually at the root of it, because they are defending the freedom of the industry to poison our food and environment, e.g. recently in Switzerland by downing the popular initiatives on poison-free drinking water and pesticides - the fox guarding the henhouse... 

(1) Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis of samples collected globally in the 20th and 21st centuries | Human Reproduction Update | Oxford Academic (oup.com)

(2) Shanna Swan, ‘Count Down’, Scribner 2021 


Some other articles in English:

Montag, 29. April 2024

Die schleichende Kastration der Männerwelt

(Zuerst veröffentlicht in Journal21.ch am 29.April 2024)

Männer stehen unter abnehmender Testosteronwirkung. Das senkt Spermienzahl und die Reproduktionsfähigkeit und wahrscheinlich verwischt es auch die Unterschiede von Sex und Gender.      

Geboren im Jahr 1941, verbrachte ich die frühe Jugend mit Holz- und Blechspielzeugen. Elektrogeräte waren mit Gummi, Textilien oder Keramik isoliert. Konserven kamen im Glas oder unbeschichteten Blechdosen. Fertiggerichte und Plastik gab es nicht. Erst in den Fünfzigerjahren wurden erste Plastikspielzeuge als «hygienisch» vermarktet.

Buben waren noch Buben und prügelten sich. Mädchen kicherten, sie hatten Schürzen und Zöpfe, an welchen wir Buben ziehen konnten. Von Homosexualität hörten wir erst mit Siebzehn. Ein akrobatisch begabter Schulkollege erhielt im Theaterballett eine kleine Rolle. Nach einer Tournee erzählte er uns mit aufgesperrten Augen über die sexuellen Gebräuche: «Alle machen mit allen alles!» Wir wussten nicht, ob das freie Wahl, Sünde oder Verbrechen war.

Hormone und Verhalten 

Gegen Ende des Jahrhunderts wurde klar, dass männliches Verhalten davon abhängt, dass um die Geburt genug Testosteron vorhanden ist. Wenn es dann fehlt oder wenn die Rezeptoren es nicht wahrnehmen können, wird sich das Individuum später nicht als Mann benehmen, auch nicht, wenn es genug Testosteron und einen männlichen Körper hat: Homosexualität ist weder Wahl noch Verbrechen. Sie ist hormonbedingtes Verhaltensmerkmal, welches durch Ärzte oder Gesetze nicht verändert werden kann. Trotz dem Gerede von Geschlechtsrollen als ausschliesslich sozialem Konstrukt gibt es unwiderlegbare Beweise, dass Testosteron nicht nur Potenz und Muskeln fördert, sondern auch Verhaltenseffekte hat, wie etwa Aggressivität, Dominanz, Territorialverhalten oder das Bevorzugen von Ballspiel und Schusswaffen gegenüber Puppen. 

Seit den Siebzigerjahren erschienen Berichte über Störungen der Geschlechtsdifferenzierung bei Fischen und Amphibien. Sie schienen nicht mehr zu wissen, ob sie Männchen oder Weibchen werden wollten, und es kam zu vermehrtem Auftreten von Intersexen. Angeschuldigt werden Hormone und hormonaktive Subtanzen in den Abwässern. Mittlerweile finden sich Störungen sogar in alpinen Gewässern, die nicht mit Abwässern in Kontakt gekommen sind. 

Abnahme der menschlichen Fruchtbarkeit

Und was ist mit uns? Die Spermienzahl der westlichen Männer hat seit Mitte des letzten Jahrhunderts auf weniger als die Hälfte abgenommen – um rund ein Prozent pro Jahr. Alarmierenderweise hat sich diese Abnahme inzwischen weltweit bestätigt und auf bis gegen zwei Prozent pro Jahr beschleunigt (1). Wenn es so weitergeht kann man ausrechnen, dass ab etwa 2045 die natürliche Fortpflanzung des Menschen zunehmend unmöglich wird. Es geht dann nur noch in der Retorte.

Überraschend, dass in den Diskussionen über Bevölkerungsentwicklung und AHV über diesen bekannten Befund kaum ein Wort verloren wird. Und wenn man bedenkt, was für ein Geschrei Gegner und Befürworter der Abtreibung veranstalten, so ist es eigentlich kurios, dass kein Hahn danach kräht, dass wir die Mehrzahl der Spermien killen. Schliesslich sind sie auch Lebewesen.

Nicht nur die Spermienzahl nimmt ab. Auch das Spermavolumen, der männliche Testosteronspiegel und die Fruchtbarkeit von Männern und Frauen gehen in ähnlicher Weise zurück. Die Zahl der ungewollt kinderlosen Paare nimmt ebenso zu wie die der Fertilitätsbehandlungen.

Seit dreissig Jahren beforscht Frau Professor Shanna Swan von der Mount Sinai School of Medicine in New York dieses Problem nach allen Richtungen (2). Aufgrund von Anhaltspunkten aus dem Tierreich machte sie bei Neugeborenen systematische Messungen der Distanz von After zum Geschlechtsteil. Diese Distanz ist testosteronabhängig, und sie ist viel grösser bei Buben und Männern als bei Mädchen und Frauen. Männer mit kleinerem Abstand haben eine kleinere Spermienzahl und geringere Fruchtbarkeit.

Aber auch dieser Unterschied der sogenannten anogenitalen Distanz zwischen Buben und Mädchen hat sich in den letzten Jahrzehnten verkleinert. Die Buben sind weniger männlich – ein Hinweis, dass auch bei noch ungeborenen Buben weniger Testosteronwirkung vorliegt. Nicht nur Fische, sondern auch menschliche Wesen wissen offenbar nicht mehr immer, ob sie Männchen oder Weibchen werden wollen.

Umweltgifte

Gemäss den Untersuchungen von Professor Swan und anderen sind dafür Chemikalien verantwortlich, welche den Testosteroneffekt blockieren oder denjenigen der weiblichen Hormone verstärken. Für den Menschen bedeutsam sind vor allem Phtalate und Bisphenole, welche als Weichmacher oder Härter in fast jedem Plastik enthalten sind, daneben auch gewisse Pestizide und Brandhemmer. Diese Substanzen sind teils extrem langlebig, überall und sogar in der Muttermilch vorhanden und reichern sich im Körper an. Nicht nur stören sie die Hormonbalance und die Spermienproduktion beim Mann, sie haben wahrscheinlich auch eine Rolle beim Brustkrebs und bei der schmerzhaften Endometriose der Frauen. 

Professor Swan und der Toxikologe Professor Wilks aus Basel raten deshalb übereinstimmend, alle in Plastik abgepackten Nahrungsmittel zu meiden, seien es Milchprodukte, Fleisch, Fertiggerichte, Tiefgekühltes oder Konserven in plastifizierten Büchsen. Bei Milch und Joghurt ist das vielerorts unmöglich. Der Handel sollte deshalb wieder auf Glasverpackungen umsteigen. Beschichtete Pfannen sollte man durch unbeschichtete Eisenpfannen ersetzen. In Frankreich sollen viele dieser Substanzen ab 2026 verboten werden. In der Parlamentsdiskussion fiel dort der durchaus zutreffende Vergleich mit dem Asbestskandal.  

Verwischte Geschlechterrollen

Wie gesagt, haben Sexualhormone prägende Wirkungen auf männliches und weibliches Verhalten. Nun ist seit zwanzig Jahren eine vorher nie gekannte Genderdiskussion entstanden über Definition, Einteilung, Rollen und Rechte der Geschlechter. Sie geht bis in sprachliche Finessen. Mir altem Mann schien das lange irrelevant und unverständlich. Auch Alt-Bundesrat Ueli Maurer geht es so, und er kämpft mit seinen rechten Gesinnungsgenossen gegen diese sogenannte Woke-Kultur.

Aber wenn man richtig überlegt: Männer sind nach den genannten körperlichen Befunden flächendeckend einer zwar milden, aber zunehmenden chemischen Kastration unterworfen, und zwar sowohl vor als auch nach der Geburt. Es kann gar nicht anders sein, als dass dadurch auch männliche Verhaltensmuster abgeschwächt werden. Und was, wenn viele junge Männer weniger männlich werden? Vermissen junge Frauen vielleicht den «richtigen» Mann? Passen althergebrachte Geschlechterrollen noch zu den chemisch verwischten Geschlechtstypen? 

Auf einer subjektiven Ebene wird die betroffene Jugend ihre veränderte Befindlichkeit in endlosen Diskussionen darüber abhandeln, was es heisst, Mann oder Frau oder etwas dazwischen zu sein. Das ist ja genau, was wir beobachten. 

Und Ueli Maurer und seine Genossen zur Rechten, welche vorgeben, diese Woke-Kultur zu bekämpfen, sind eigentlich deren Wurzel. weil sie die Freiheit der Industrie verteidigen, unsere Nahrung und Umwelt zu vergiften, z.B. neulich in den Initiativen zu Trinkwasser und Pestiziden – der Bock, der sich als Gärtner aufspielt. 

(1)  Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis of samples collected globally in the 20th and 21st centuries | Human Reproduction Update | Oxford Academic (oup.com)

(2) Shanna Swan, «Count Down», Scribner 2021 (Deutsche Übersetzung als ebook verfügbar)