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Dienstag, 20. August 2024

Im Kopf der Russen

Tim Marshalls aufschlussreiches Buch „Prisoners of Geography“ enthält ein Kapitel über Russland, in dem er dazu rät, Putin zu vergessen und sich zu fragen, was die einfachen russischen Menschen von ihrem Führer erwarten. 

Der Weg von Hamburg nach Berlin und nach Moskau ist flaches, offenes Land ohne topografische Hindernisse. Diese Tatsache machten sich die westlichen Nachbarn regelmäßig durch Invasionen zunutze: Im 17. Jahrhundert die Schweden, im 18. die Polen, im 19. Napoleon und im 20. Jahrhundert Hitler. Wenn man die kleineren Einfälle (Krim usw.) mitzählt, rechnet Marshall für die Russen etwa eine Invasion oder Aggression pro Generation. 

Adolph Northen: Napoleon in Russland

Dazu kommt, dass Hitlers Invasion mit äußerster Brutalität und Gesetzlosigkeit geführt wurde: Er ließ Millionen russischer Kriegsgefangener ohne Obdach verhungern, er fing Zehntausende unschuldiger ziviler Mädchen und Frauen ein, um sie in den Hunderten von Bordellen, die von der ehrenwerten Wehrmacht betrieben wurden, durch Offiziere und Soldaten missbrauchen zu lassen, nur um sie nach einigen Wochen zu erschießen (deshalb gab es auch keine Klagen von Trostfrauen wie in Korea). Diese Ereignisse haben sich für Generationen in das russische Gedächtnis eingebrannt und begründen ein tiefes Misstrauen gegenüber allen heuchlerischen Erklärungen des Westens über „Menschlichkeit“ oder „Menschenrechte“. Die Russen erwarten von ihrem Führer, dass er sie vor solchem Unheil bewahrt. Solange er das tut, sind sie bereit, sich zu fügen und alles für das Gemeinwohl zu opfern. Und sie haben gerne einen Kordon von Satellitenstaaten oder neutralen Staaten um sich herum. 

Ich habe Russland dreimal und Moldawien zweimal besucht. Aus persönlicher Erfahrung, von Freunden, Bekannten und aus der Lektüre habe ich den Eindruck gewonnen, dass Russland eine im Wesentlichen gesetzlose Zivilisation ist, ohne Trennung von Staat und Religion (sei sie orthodox oder kommunistisch), ohne Gewaltenteilung, und die allein den Gesetzen des Stärkeren und der Korruption und dem obersten Willen des Zaren (sei es Alexander, Lenin, Stalin oder Putin) gehorcht. Russland wird weder an Versprechen glauben noch sie einhalten. 

Kommen wir nun zur EU, deren dominierendes Mitglied Deutschland ist und die als Fortsetzung des Projekts der deutschen Vorherrschaft in Europa, z. B. in Griechenland, verstanden werden kann. Der Europäische Gerichtshof ist nicht demokratisch legitimiert und hat klare Wurzeln in der Nazi-Justiz. Man kann den Russen verzeihen, dass sie misstrauisch sind. 

Dann kommt die NATO: Ein sogenanntes Verteidigungsbündnis, das von demselben Washington kommandiert wird, das Russland „eindämmen“ will, was immer das auch heißen mag. Den Russen ist nicht entgangen, dass das stärkste europäische Mitglied der NATO dasselbe Deutschland ist, das sie vor zwei Generationen so brutal angegriffen hat. Und es ist ihnen auch nicht entgangen, dass die NATO ihre defensive Haltung verlassen hat, indem sie Russlands orthodoxe Brüder in Serbien im Jugoslawienkrieg angegriffen hat, und dass NATO-Mitglieder an der Aggression gegen einige glücklose Diktatoren beteiligt waren, die unvorsichtigerweise auf Atombomben verzichtet hatten (Saddam, Gaddafi). Die Russen werden nie glauben, dass die NATO rein defensiv ist. 

Kiew ist die Gründungshauptstadt Russlands und die Ukraine ist sein Kernland. In diesem Sinne ist die ukrainische Situation für die Russen ein innerrussischer Aufruhr. 

Einige der besten und erfahrensten US-amerikanischen Diplomaten hatten vor der NATO-Osterweiterung gewarnt (Siehe Beitrag: "Vor dem Krieg" auf diesem Blog) während Tim Marshall voraussagte, dass Gespräche und Schritte zur Aufnahme der Ukraine in die NATO ein Kriegsgrund sein würden. Es war eine Dummheit der Amerikaner und der Regierung Biden, auf solche Warnungen nicht zu hören. 

Der Krieg in der Ukraine geht nur aufgrund der Unterstützung durch die NATO weiter. Russland empfindet dies als einen Angriff auf seine Integrität durch denselben alten Nazi-Feind. Wenn die Ukraine auch tiefer auf russischem Territorium interveniert und sogar einmarschiert, wird es schwer vorherzusagen sein, wie der blinde russische Bär reagieren wird. Das sagt auch der ehemalige Generalinspekteur der Deutschen Bundewehr, General a.D. Harald Kujat. 

Was Napoleon über die Russen sagte, kommt einem wieder eigenartig bekannt vor: „Ich schlage sie die ganze Zeit, und das beendet nichts" (“Le les bats toujours et cela ne termine rien“, aus Caulincourts Bericht ‚En traineau avec l'empereur‘, Protokoll seiner Gespräche mit Napoleon während der zwei Wochen, die er mit ihm auf der Flucht von Russland nach Paris verbrachte). 

Und warum diese territoriale Aggression? Wahrscheinlich programmiert Testosteron den männlichen Geist darauf, sein Territorium zu verteidigen und zu erweitern. Das muss wohl einen Vorteil für die darwinistische Auslese haben.

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