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Donnerstag, 29. August 2019

Offener Brief an einen Tagi/BUND-Kolumnisten

Immer wieder stösst man auf Kolumnen und Berichte, die einem aufstossen. Hoffend, dass deren Verfasser zu Denkvorgängen gebracht werden können, schreibe ich diesen manchmal persönlich. Nur ausnahmsweise erhält man eine Antwort. Darum schreiben wir vielleicht lieber offene Briefe, damit wenigstens die übrige Öffentlichkeit erfahren kann, was für Stuss abgesondert wird.

Michael Hermann ist regelmässiger Kolumnist bei BUND und TAGES-ANZEIGER. Er studierte Geografie, Volkswirtschaft und Geschichte an der Universität Zürich und  promovierte am Geografischen Institut der Universität Zürich zum Thema «Werte, Wandel und Raum». Er ist Geschäftsführer des Instituts Sotomo, welches gemäss Eigenwerbung "mit  massgeschneiderten Umfragen umfassende Einblicke in die Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen ermöglicht".  

Dieser Brief ging zuerst direkt an Herrn Herrmann. Er hat nicht reagiert.  



Lieber Herr Herrmann,

Ich lese heute etwas ratlos Ihre Kolumne aus BUND und TAGES-ANZEIGER (26.8.2019) über die bevorstehenden Wahlen: Nach Ihnen "können sich die Grünen nur selber schlagen, mit der für das progressive Spektrum so typischen, flüchtigen, in Trägheit umschlagenden Euphorie". Also die gemein-hämische Haltung gegenüber den Grünen und dem Umweltproblem, die wir seit vierzig Jahren bestens kennen, die den bürgerlichen Chefredaktoren passt und die jede Lösung bisher verunmöglicht hat.
Wie wollen Sie denn das «Geschlagen-sein» bzw. «Nicht-geschlagen-sein» definieren? Die Grünen sind doch ab 1980 in der Umweltfrage angetreten, an der sich seit dem ersten Bericht des Club of Rome nicht viel geändert hat. Die Voraussage war damals ein Kollaps der Ökosysteme ab 2030, falls nicht Massnahmen ergriffen UND die Weltbevölkerung sofort stabilisiert werde. Das Problem wäre damals noch irgendwie lösbar gewesen, aber - in Ihren Worten - "die jutesackbewehrten Grünen wurden als gefährliche Wohlstandsgefährder angesehen". Tatsächlich hatten sie bis Frühjahr 2019 nie eine Breitenwirkung. Das hat erst dank Greta geändert.
Inzwischen ist das Umweltproblem zu grossen Teilen oder wahrscheinlich überhaupt nicht mehr lösbar. Lesen Sie das Buch «Change» von Graeme Maxton oder bei Bendell (https://www.lifeworth.com/deepadaptation.pdf). Somit steht fest: Die Grünen sind geschlagen, ganz gleich, wie das Wahlergebnis ausfallen wird. Sie sind doch nicht nur Politologe, sondern auch Geograph, das sollte Ihnen klar sein.
Einige Stichworte: Der Temperaturanstieg ist hundert Mal rascher als frühere Temperaturanstiege und er beschleunigt sich in den letzten Jahren. Alle Prognosen des IPCC waren viel zu optimistisch, die 1,5 Grad Erwärmung werden nicht – wie einst erhofft - 2100 erreicht und nicht 2050, und auch nicht 2040, sondern schon 2030. Die 2 Grad somit 2040. Dann wird Südeuropa vertrocknen und unfruchtbar und der Mittlere Osten wird grossteils unbewohnbar. Bis 2100 steigt die Temperatur mit Einhaltung der Pariser Verträge um 3,2 Grad, und weil sie bisher nicht eingehalten wurden um 4-5 Grad. Damit kann die Erde vielleicht noch 1 Milliarde ernähren, wenn nicht weniger.
Vielfache Selbstverstärkungsmechanismen (Ungebremster Anstieg der Treibhausgase, Flächenbrände, Methanfreisetzung, verminderte Strahlungreflexion durch Eisschmelze) drohen den Temperaturverlauf explosiv zu machen und die höhere Biosphäre sowie die Menschheit in einer «hothouse earth» auszulöschen. Unterwegs wird zuerst das Finanzwesen zusammenbrechen (die Negativzinsen sind ein getreues Marktabbild der ausweglosen Situation), Ihre «flächendeckende Dienstleistungsgesellschaft» wird sich als überflüssig zersetzen, die Industriegesellschaft redimensioniert, es resultieren ein Heer von Arbeitslosen, soziale Unruhen und Hungersnöte. Migrationen von Milliarden und Kriege sind obligatorisch abzusehen. Die bevorstehenden Wahlen sind dafür ziemlich irrelevant.
Man kann sich fragen, wer die Kalamität zu verantworten hat. Der grosse Journalist Arnold Hottinger sagte mir, es sei auch ein Versagen «von uns» (er meinte Presse und Medien) gewesen. Es ist auch ein Versagen der Wissenschaft, die vielfach nicht klar gesprochen hat.
Ehrlich gesagt wundere ich mich, dass man darüber in den Zeitungen nichts liest. Bei der NZZ bin ich inzwischen zum Schluss gekommen, dass der Abopreis so hoch ist, weil man dafür bezahlt, nichts darüber lesen zu müssen. So kann der brave Bürger ungestört weiter schlafen.
Mit freundlichen Grüssen
Lukas Fierz
Alt-Nationalrat