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Freitag, 20. November 2020

Tabus und infantile Illusionen in der Umweltfrage

(Nach einem Vortrag vom 3.10.2020, zuerst erschienen im Journal21 vom 20.11.2020, update am 26.8.2021)

Prof. John Schellnhuber, der Berater der Deutschen Kanzlerin und des Papstes und der Erfinder des Zweigradziels zeigte uns vor drei Jahren sein Potsdamer Klimainstitut. Am Schluss, in seinem Büro, das einst Einstein benutzt hatte, meinte er zusammenfassend, er sehe nicht, wie die Menschheit sich noch aus dieser Klimafalle befreien könne.

Schellnhuber ist ja oft in den Medien, aber das hatte man von ihm öffentlich nie gehört - Anlass, der Frage nachzugehen, wie ernst es denn tatsächlich sei.

Ich bin kein Klimaspezialist, aber als Arzt beherrscht man sowieso immer nur Teilgebiete und notgedrungenerweise muss man auf verschiedene andere Spezialisten hören und mit ihnen zusammenarbeiten. Auch ist man gewohnt, mit Ungewissheiten umzugehen: Wenn ein Arzt z.B. eine Operation erwägt, so schätzt seine Erfolgsaussichten anhand von Alter, Ernährungs- und Kräftezustand des Patienten, Vorkrankheiten und Moral. Jeder Risikofaktor mindert die Erfolgsaussicht. Man kann nichts genau berechnen, aber das entbindet nicht von einer Abschätzung.  

In der Klimadiskussion wird oft gesagt, wie schwierig es sei, weil man nichts genau wisse. Aber auch hier entbindet die Ungewissheit nicht von einer Abschätzung. Zwar werden wir dabei von allerlei Tabus und Illusionen behindert, aber ich erzähle mal, was ich herausgefunden habe:  

Ich bin in Basel aufgewachsen und dort hängt im Museum der tote Christus, gemalt von Holbein vor 500 Jahren. 

 


Das Bild hat mich als junger Mensch tief beeindruckt und ich hatte es jahrelang über meinem Schreibtisch. Dieser gnadenlos realistische Blick auf unseren Gott, auf seine Passion und auf unser aller Ende. Ich war und bin überzeugt, dass wir unsere Handlungen an dem Moment messen müssen, wo wir selber in diesem Zustand sind. Bis dahin gilt es, das, was wir tun möglichst gut zu tun und keine Zeit zu verlieren. Und schon sind wir beim ersten Tabu, dem Tod. Weil er im vorherrschenden Bewusstsein verdrängt ist, kann vieles, was mit ihm zusammenhängt nicht gesehen werden.


Einige Prinzipien der Medizin... 

Ich habe dann in Zürich Medizin studiert, und da konnte man einige Prinzipien lernen:

  1.      Krankheiten beginnen oft im Geheimen: Erste Krankheitssymptome sind oft nicht der Beginn, sondern den letzte Akt. Ein Trinker oder ein Raucher braucht Jahrzehnte, um Leber oder Lunge zu ruinieren, das geht unbemerkt, weil das Organ kompensieren kann. Wenn dann Gelbsucht oder Atemnot auftritt, geht es nicht mehr viele Jahrzehnte, sondern eher Jahre.
  2.      Krankmachende Faktoren können sich mehr als addierenGemäss einer grossen epidemiologischen Studie tritt z.B. pro Monat bei ca. einem Prozent der Gesamtbevölkerung eine Depression auf. Kommt ein schwerer Belastungsfaktor (Tod eines Familienangehörigen, Kündigung, Krankheit etc.) dazu, so gibt es zwei Prozente mehr, also drei Prozent Depressionen, bei zwei Belastungsfaktoren schon drei Prozent mehr. Bei drei gleichzeitigen Belastungsfaktoren werden schon 24 Prozent depressiv. Plötzlich multiplizieren sich die Risiken (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9824167/).
  3.      Für Patienten und Versicherungen müssen wir oft Prognosen über Jahre und Jahrzehnte machen. Das geht, solange sich Krankheiten treu bleiben: Wenn ein Patient mit Multipler Sklerose nach zehn Jahren nur ganz leicht behindert ist, wird er wohl auch nach weiteren zehn Jahren noch nicht im Rollstuhl sein.  
  4.      Richtungsändernde Verschlimmerungen in Krankheitsverläufen z.B. bei Bluthochdruck oder bei Hochdruck im Auge (Glaucom) erkennt man daran, dass sich plötzlich Höchstwerte in rascher Folge häufen: Damit tritt die Krankheit in ein progressives Stadium ein und entzieht sich u.U. der Kontrolle. 
  5.      Selbstverstärkende Mechanismen können zu hyperakuter Verschlimmerung führen. Das gefürchtete Beispiel dafür ist die Verengung der Aortenklappe, der Klappe der Hauptschlagader. Das Herz erzeugt zunächst mehr Kraft und drückt genug Blut durch die Klappe, die Patienten können sogar Leichtathletik betreiben. Das geht, bis die Klappe so eng ist, dass das Herz nicht mehr genug Blut für seinen eigenen Energiebedarf kriegt, das führt zu Herzversagen und Tod innert Sekunden, Sekundenherztod. Vor solch selbstverstärkenden Mechanismen haben wir Ärzte panische Angst, weil sie unvoraussehbar und unbeherrschbar sind.  
  6.      Es gibt in unserem Beruf Autoritäten. Das sind Ärzte, die wiederholt Diagnosen gestellt haben, die alle anderen verpasst haben. Das spricht sich herum, solche Kollegen haben einen sagenhaften Ruf, und denen glaubt man mit Vorteil, auch wenn man nicht ganz nachkommt. 
  7.      Schummeln gilt nicht. Wenn Patient stirbt kommt der Pathologe oder der Gerichtsmediziner. Die sind gnadenlos. 


...Angewandt auf die Umweltsituation 

1972 wurden wir durch den Bericht des Club of Rome schockiert. Was man damals wusste hat man in einen Grosscomputer gefüttert. Es kam heraus, dass sich die Ökosysteme Mitte des 21. Jahrhunderts destabilisieren werden, wenn wir nicht mit dem Wirtschaftswachstum aufhören und die Bevölkerung auf vier Milliarden stabilisieren. Der Bericht nennt schon den Treibhauseffekt mit der Hoffnung, dass man noch eine Lösung finde. Die Modellrechnungen sagten, dass nicht eine Verknappung an Ressourcen oder an Boden der limitierende Faktor sei, sondern die Umweltverschmutzung. Alle die, wie z.B. Wirtschaftsredaktor Dr. Eisenring von der NZZ behaupten, der Club of Rome habe eine Ressourcenverknappung vorausgesagt und sei deshalb unglaubwürdig (https://www.nzz.ch/meinung/ewiges-wachstum-ist-kein-hirngespinst-ld.1564968), alle, die solches behaupten lügen, oder sie haben den Bericht nicht gelesen. Später hat der Club of Rome mit Hängen und Würgen korrigiert, dass es vielleicht mit einer Erdbevölkerung von 8 Milliarden auch gerade noch gehen könnte, dabei aber ausdrücklich gesagt, dass man die Folgen der menschlichen Aggressivität nicht modellieren könne.   

1988 stellte James Hansen erstmals fest, dass der Treibhauseffekt sich in einer nachweisbaren Erderwärmung zeige und er sagte mit einem noch primitiven Modell die weitere Erwärmung voraus, und zwar bis heute ziemlich genau. Dieser Mann ist eine Autorität. Wenn er heute die offiziellen Prognosen und Massnahmen in Frage stellt, muss das zu höchster Sorge Anlass geben. 

James Hansen wird in Handschellen abgeführt 


Illusionen zur Erderwärmung

Die Pariser Verträge von 2015 wollten die Temperaturerhöhung gegenüber dem vorindustriellen Wert auf 1,5 bzw. 2 Grad limitieren. Und Grüne in der Schweiz und in Deutschland reden noch 2021 davon, dass und wie man dieses Ziel erreichen wolle und da sind wir schon mitten in den Illusionen:  

Erste Illusion: Schon bei Abschluss der Pariser Verträge war klar, dass das 1,5 Grad-Ziel unerreichbar ist. James Hansen - meine Autorität - spricht von einem fake-Abkommen. Bei Einhaltung aller Abmachungen würde dieTemperatur um 2,4 Grad steigen, über Land mehr. Überdies rechnet das Abkommen mit grosstechnischer Abscheidung von CO2 aus der Luft, was James Hansen und andere Experten als illusionär bezeichnen (http://www.columbia.edu/~jeh1/mailings/2018/20181206_Nutshell.pdf, S. 44ff und https://www.nature.com/articles/s41467-018-05938-3). 

Zweite Illusion: Nur eine Minderheit der Staaten hält das Abkommen ein. Damit sind wir gemäss Berechnungen auf einem Weg von 3,2 Grad global bis 2100, d.h. wiederum über Land mehr. 

Soweit die gängigen Voraussagen.

Darüber gibt es die dritte Illusion, nämlich, dass das alles Alarmismus und Hysterie sei.

Noch weiter verbreitet ist die vierte Illusion, dass die bisher gemachten Aussagen die ganze Wahrheit seien. Leider trifft das nicht zu.   

Fünfte Illusion: Viele denken, der Temperaturanstieg sei und bleibe linear. Aber dass er immer schneller geht sieht man von blossem Auge:

Julitemperaturen seit 1880

Sogar das IPCC krankt an dieser Illusion: 2018 verlegte das IPCC den Anstieg um  1,5 Grad von 2100 auf 2040. Sofort kam Einspruch von amerikanischen Klimatologen: Das IPCC hatte vergessen, dass die Treibhausgase ab heute weiter steigen. Damit kommen die 1,5 Grad schon 2030, eine Vorverschiebung von 70 Jahren in einigen Jahren (https://www.nature.com/articles/d41586-018-07586-5). Und das IPCC nimmt als Ausgangswert für die Erwärmung 1850-1900. Dabei hat diese hundert Jahre vorher begonnen, und damit haben wir die 1,5 Grad Erwärmung wahrscheinlich schon jetzt fast erreicht. Mit weiterer Beschleunigung ist zu rechnen.   

Die sechste Illusion ist, dass der Treibhausmechanismus die ganze Story sei. Das wäre schlimm genug, aber es gibt zusätzlich viele positive Rückkoppelungs­mechanismen, welche die Lage verschlimmern. Die gehen zwar langsam, waren aber nach Hansen in der bisherigen Erdgeschichte immer matchentscheidend (http://www.columbia.edu/~jeh1/mailings/2018/20181206_Nutshell.pdf). Und damit, dass diese Rückkopplungen jederzeit zu einem Kippen der Situation führen können wurde das  1,5 bzw. 2-Gradziel überhaupt begründet. Das IPCC rechnet die Rückkopplungen nicht ein, weil sie nicht genau voraussagbar seien. Wie einleitend gesagt machen mir als Arzt solche Rückkopplungen mehr Angst alles andere, weil sie schon einzeln unbeherrschbar werden können, weil sie alle in die falsche Richtung gehen, und weil sie sich nicht nur addieren, sondern möglicherweise auch multiplizieren können. Das kann die Entwicklung auf Jahre verkürzen.  

Die siebte Illusion ist, dass die CO2-Konzentration nur davon abhänge, wieviel wir in die Luft blasen.  Nun wurde der CO2-Ausstoss aber bisher zu knapp einem Drittel vom Ozean aufgenommen, was zwar zu Versauerung und Problemen für die Meerestiere führte, uns aber entlastete. Nur kann ein wärmerer Ozean nicht mehr soviel CO2 aufnehmen (https://www.weforum.org/agenda/2019/03/oceans-do-us-a-huge-service-by-absorbing-nearly-a-third-of-global-co2-emissions-but-at-what-cost). 

Ähnlich die Bäume und die Vegetation an Land und im Ozean: Sie nahmen bisher auch knapp einen Drittel des ausgestossenen CO2 auf. Ein Grossteil der CO2-Kompensationsprogramme funktioniert mit tatsächlichem oder behauptetem Aufforsten. Schon jetzt verlieren wir Wald durch Abholzen und Brände, und mit einem Temperaturanstieg von 4 Grad wird ein grossflächiges Absterben der Bäume vorausgesagt (https://science.sciencemag.org/content/368/6488/261/), wie es jetzt bei den Korallenriffen stattfindet. Damit wird die Vegetation vom CO2-Puffer zum CO2-Produzenten. Der Deutsche Klimapapst Schellnhuber sagt dazu: "Wir töten unsere besten Freunde" (https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/interview-hans-joachim-schellnhuber-klimawandel-100.html). Kompensationen durch Aufforsten werden nichtig und der CO2-Ausstoss wird zum Selbstläufer, selbst bei Netto Null! 

Die achte Illusion war, dass das Eis langsam schmelze. In der Arktis geht es schneller, als gedacht (https://www.weforum.org/agenda/2020/08/arctic-sea-ice-global-warming-climate-change-predictions/). Nach Abschmelzen von Schnee und Eis nimmt die Rückstrahlung der Erde derart ab, dass wir zur Erwärmung noch bis zwanzig Prozent zurechnen können. Das bringt uns bis 2100 nicht auf über 3 sondern auf über 4 Grad, über Land mehr. 

Die neunte Illusion war bis vor wenigen Jahren, dass der Permafrost in Sibirien und anderswo erst gegen Ende des Jahrhunderts auftaue. Er taut schon jetzt (https://www.nationalgeographic.com/environment/2019/08/arctic-permafrost-is-thawing-it-could-speed-up-climate-change-feature/), und seit einigen Jahren sprudelt das Methan dort und anderswo aus erwärmten Böden und steigt in der Atmosphäre rasch an. Methan als kurzlebiges aber sehr starkes Treibhausgas kann die Erwärmung akut beschleunigen und die Selbstverbrennung zu einer Frage von Jahren machen. 

Die zehnte Illusion war, dass das alles sei. Aber neuerdings sagen mehrere Klimamodelle eine Abnahme der Wolkendecke voraus, was die Erwärmung weiter beschleunigen könnte (https://e360.yale.edu/features/why-clouds-are-the-key-to-new-troubling-projections-on-warming). 

Die elfte Illusion ist, dass alles langsam geht. Aber erdgeschichtlich ist das Tempo der jetzigen Veränderungen nie dagewesen. Zehnmal schneller als die schnellsten Veränderungen in den letzten 65 Millionen Jahren (https://news.stanford.edu/news/2013/august/climate-change-speed-080113.html), Tempo zunehmend. Seit 2019 wurden Hunderte von Temperaturrekorden gebrochen, mit mehreren Monatshöchstwerden und 2020 war das wärmste je gemessene Jahr. Als Arzt schaut man eine solche Entwicklung mit grösster Besorgnis an, weil sie den Verdacht auf bösartige Beschleunigung untermauert.  

Zwölfte Illusion: Alles redet vom Klima. Dabei haben wir noch ein zweites Problem, das Artensterben, das ebenfalls in einem Tempo abläuft, das erdgeschichtlich ausserordentlich ist und das für uns genauso bedrohlich ist. Es ist vorerst noch ziemlich unabhängig vom Klima (https://phys.org/news/2020-09-humans-climate-driven-rapidly-mammal.html): Denn die bisherigen Hauptgründe sind Bejagung, sowie Verlust und Vergiftung der Lebensräume durch stetig ausgedehnte menschliche Population und Aktivität. E.O. Wilson, der grosse Biologe, meint, dass man die Hälfte der Erde für "wildlife" reservieren müsste, wenn man das Artensterben aufhalten wolle.  


Wie der Arzt vor der Operation

Die ersten Krankheitssymptome der Erde sind allenthalben zu sehen, Dürren, Brände, Gletscherschwund, Artenverlust. Als Arzt sieht man das nicht als Beginn, sondern als Anfang vom Ende (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html). Die Biosphäre kann nicht mehr kompensieren. 

Und wir sehen eine Vielzahl von ursächlichen Faktoren: CO2, Methan, Wasserdampf, Wolkenverlust, Ozeanversauerung, Pestizide, Verlust von Lebensräumen. Als Arzt weiss man, dass sich die Folgen nicht nur addieren sondern manchmal unvorhersehbar multiplizieren können.  

Was den Arzt vor allem panisch macht sind die mehrfachen selbstverstärkenden Mechanismen: Eisschmelze, Methanfreisetzung, CO2-Freisetzung durch Waldbrände, Waldsterben, Boden- und Ozeanerwärmung. Gegen den Hebel solcher selbstverstärkender Mechanismen hat man schon wenig Handhabe, wenn sie einzeln auftreten (man denke an die Aortenstenose), geschweige denn, wenn sie zusammenwirken und sich möglicherweise noch multiplizieren. Die nachweisliche Beschleunigung der Erwärmung und die neuliche Häufung von Höchstwerten sprechen dafür, dass der Verlauf schon jetzt eine Richtungsänderung zum Schlimmeren nimmt.  

Die 1,5- oder 2-Grad bis 2100 sind leeres Gerede, das Pariser Abkommen ist ein fake, ein falsches Alibi, weil es nicht einmal eingehalten wird. Viele Regierungen verschlimmern die Situation (Russland, Australien, Brasilien, Indien, bisher auch USA). Nur mit grösstem Glück werden wir am Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung von etwas über drei Grad haben, aber auch das ist nicht wahrscheinlich, denn die selbstverstärkenden Feedbacks sind alle schon angesprungen. So reden einige schon von vier, fünf oder mehr Grad. Das heisst über Land immer noch mehr, und das kann die menschliche Zivilisation nicht überleben. Und ein Grossteil der Biosphäre auch nicht. Wenigstens weiss ich jetzt, wieso Schellnhuber keinen Ausweg sieht. 

Schon vier Grad Globalerwärmung heissen für Johan Rockström vom Potsdam Institut bei Berlin, dass die Erde vielleicht noch vier Milliarden Menschen tragen könne, vielleicht auch weniger (https://www.theguardian.com/environment/2019/may/18/climate-crisis-heat-is-on-global-heating-four-degrees-2100-change-way-we-live). Das heisst flächendeckende Kriege, wo alte Muster von Kampf um Lebensraum wiedererwachen werden, um Lebensraum, der immer knapper und schliesslich nicht mehr verfügbar sein wird. 

Dass das alles nicht gesehen werden kann ist zunächst eine Folge der erwähnten Illusionen – in den Worten von Christian Morgenstern’s «Palmström» würde man sagen: «Also schliesst er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf». Aber solches Denken ist undiszipliniert und infantil, man könnte es einem Siebenjährigen verzeihen, nicht einem verantwortlichen Erwachsenen.

Dass uns die Realitätskontrolle derart entglitten ist, hat aber vielleicht noch den tieferen Grund, dass der Tod im Bewusstsein weitgehend tabuisiert ist. So können wir ihn nicht erblicken, obschon er uns ins Auge starrt. Idioten wie Köppel mache ich nicht einmal einen Vorwurf. Wohl eher den Klimatologen, die so tun, wie wenn es einen Ausweg geben würde, obschon sie es anders wüssten. Und den Grünen, die die Probleme nicht zu Ende denken und immer noch vom 1,5 Gradziel faseln, das ist Wählerbetrug.  


Abschied von Tabus

Last but not least kommen wir zum zweiten Tabu: Niemand will die Tatsache sehen, dass wir zu viele sind. Auch das ein Tabu, weil wir Fortpflanzungsmaschinen sind. Fortpflanzung ist uns als heiligstes und oberstes Ziel einprogrammiert. Deshalb möchten sich auch viele - z.B. unsere Grünen - in der Illusion wiegen, dass Verzicht genüge. 

Zugegeben, nur die Wohlhabenden machen die Umweltbelastung. Die zehn Prozent Wohlhabendsten wohl fünfzig Prozent der Verschmutzung, die 50 Prozent der Wohlhabenderen fast den ganzen Rest. Aber ein Grossteil des Ressourcenverbrauchs und der Verschmutzung ist dadurch erzwungen, dass zu viele Menschen in geballten Megastrukturen leben müssen, welche energiefressende Transporte brauchen. 

Einige sehen die Lösung darin, die Privilegien der obersten 10 Prozent zu eliminieren, der Rhetorik nach könnte man sogar schliessen, dass sie am liebsten die obersten 10 Prozent der Privilegierten eliminieren möchten – z.B. mit der Guillotine, nach altem revolutionärem Brauch. Aber auch die halbe Belastung wäre zu viel. Deshalb müsste man die wohlhabendere Hälfte guillotinieren, da wären wir Schweizer schon alle dabei. Aber auch das würde nur nützen, solange die verbleibende Hälfte sich nicht auch vermehren und wohlhabend werden will, mit Industrie, Fleischkonsum, Autos, Flugzeugen, wie es zum Beispiel jetzt gerade in Indien und vielen anderen Staaten geschieht, denn der edle Wilde ist nur eine weitere unserer Illusionen. 

Viele Menschen, die nicht durch Geburtenkontrolle vermieden werden, werden durch Mord, Totschlag, Hunger und Seuchen ihr Leben lassen müssen. Das ist eine weitere Realität, der wir ins Auge schauen müssten. Humaner wären zwei Generationen Einkindfamilie. 

Donnerstag, 5. November 2020

Nicht sein Tod

 Aus dem Buch: "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016

Es läutete an der Tür der früheren Praxis. Draussen standen zwei jüngere Leute, ein Mann und eine Frau. Auf der Strasse sei jemand zusammengebrochen, hier sei doch ein Arzt. Der Arzt war zwar pensioniert, aber er lebte noch dort. 


Was im nächsten Abschnitt folgt, lief innert 30 Sekunden ab: Der alte Arzt ging hinaus, durch den Vorgarten auf den Bürgersteig. Dort stand eine kleine Gruppe von Menschen um einen, der am Boden lag. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, eine kleine Gestalt in einem abgeschabten Anzug. Von seiner Hose zog sich eine Flüssigkeitsspur gegen den Rinnstein. Er hatte wahrscheinlich Urin verloren, das konnte von einem epileptischen Anfall sein. Oder er hatte einen Herzstillstand. Der Arzt kniete nieder, drehte das Gesicht des Liegenden zu sich, es war etwas bläulich. Dann ein Griff in die Hosentaschen, er fand einen Geldbeutel, darin eine Identitätskarte, geboren 1923. Jetzt hatten wir 2010, also war der Mann 87 Jahre alt. In diesem Alter hat bei einem Herzstillstand eine Wiederbelebung auf der Strasse keinen Sinn. Selbst bei einem Erfolg bleiben die Leute fast immer schwer geschädigt und werden zum Pflegefall. Man soll es bleiben lassen. Immerhin, der Arzt wollte wissen, was los war, suchte den Puls an den Handgelenken, am Hals, es hatte nirgends einen Puls. Herzstillstand. Er stand wieder auf, wandte sich an die Umstehenden und erklärte - ganz der gute alte Onkel Doktor - dass es sich um einen Herzstillstand handle. Dass der Mann 87 Jahre alt sei. Und dass in diesem Alter eine Reanimation keinen Sinn mache, weil die Resultate praktisch immer katastrophal seien. 


Ganz leise tönte durch die Luft das DüüDääDüüDää eines Krankenwagens, jemand hatte mit dem Mobiltelefon schon die Ambulanz gerufen. Der Arzt wollte noch sagen, dass man dem alten Mann besser seine Ruhe gönne, so sei es ein schöner und schmerzloser Tod. Aber die Sirene war jetzt laut und schon bog auch das Ambulanzfahrzeug in die Nebenstrasse ein, giftgelb, hochglanzpoliert und blaublitzend, näherte sich rasch und bremste scharf neben der Menschengruppe. 


 

Die Rettungssanitäter, ein mittelalterlicher Mann und eine jüngere blonde Frau mit einem Notfallkoffer sprangen heraus, beide sportlich trainiert und topfit, beide in blitzblanken gelben Leuchtwesten. Sie versicherten sich rasch, dass man von hier telefoniert habe, stürzten sich auf den auf dem Boden liegenden Mann, griffen nach den Pulsen, die sie auch nicht fanden. Die junge Frau begann seinen Brustkorb zu pumpen, um ihn zu reanimieren. Der alte Arzt wäre ihnen gern in den Arm gefallen, aber sie hatten die Uniform der Ordnungsmacht und alle die Umstehenden konnten ja nicht einmal wissen, ob er ein Arzt war. So hielt er sich still. Der Sanitäter schleppte den Defibrillator an, während die Frau weiter pumpte öffnete er das Hemd, machte den Brustkorb frei und klebte die Elektroden an. Der Bildschirm zeigte keine geordnete Herzaktion, also löste man den Elektroschock aus. Danach kein Effekt. Nochmals ein Schock, jetzt zeigte der Bildschirm wieder eine Herzaktion, zwar unregelmässig, aber immerhin, er hatte auch wieder einen unregelmässigen Puls und wurde etwas rosig, blieb aber bewusstlos. Die Frau verschwand im Rettungswagen und kam mit einer Bahre und einer Infusionsflasche zurück. Der alte Mann wurde auf die Bahre gelegt, die Infusion in eine Armvene gesteckt. Dann wurde der alte Mann auf der Bahre von den beiden in die Ambulanz getragen, die junge Frau blieb beim Patienten, der Mann schloss rasch die Hecktüre, grüsste kurz, stieg auf den Fahrersitz und weg brausten sie mit Blaulicht und der Sirene, welche immer leiser wurde. Der ganze Spuk hatte vielleicht drei Minuten gedauert. 


Ja, diese ganze Aktion war höchst professionell und virtuos abgelaufen. Solche Qualität und solches Tempo erreicht man nur mit dauernder Übung. Gleichzeitig hatte die Inszenierung etwas synthetisch Unwirkliches: Die Sanitäter wirkten wie glänzende Lego-Männchen, die mit ihrer Lego-Ambulanz in einer perfekten Legowelt funktionierten. Oder wie Computeranimationen in diesen amerikanischen Filmen, in denen alle Oberflächen so perfekt nachgemacht  sind - virtual reality - und doch bleibt alles unwirklich.

 

Für diese perfekte Legowelt, war das alte abgeschabte Männchen das falsche Objekt. Das Männchen war offenbar bisher selbständig gewesen. Und jetzt wollte im hohen Alter sein Leben zu Ende kommen. Sein Glück war, einem Tod zu begegnen, der alles hatte, was man von einem Tod wünschen konnte: plötzlich, friedlich und schmerzlos. 

 

Aber sie haben ihm seinen Tod weggenommen, seinen Tod hinausgeschoben in die Pflegeabhängigkeit, in ein Pflegeheim. War das der Wunsch dieses Männchens? Hätten wir diesen Wunsch? Hat unser Gesundheitsbudget Geld, um solchen Leerlauf zu bezahlen? 

 

Wenn das Männchen ein Einzelfall wäre, so könnte man darüber hinweggehen. Aber das Männchen ist kein Einzelfall. Es ist Ausdruck einer allgemeinen Philosophie. Der alte Arzt erinnert sich: In jungen Jahren war er zur Ausbildung in der Klinik für Innere Medizin, die damals als die beste galt. Die Direktive dort lautete: "Jeder Herzstillstand wird reanimiert, weil das eine gute Übung für den Assistenzarzt ist". Die gleiche Direktive gilt für die Rettungssanitäter, ob das nun am gegebenen Objekt Sinn macht oder nicht. 

 

Wir werden nicht gefragt.   

Not his Death

(Translation of the story "Nicht sein Tod" from "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016)

The bell rang at the door of the former medical practice. Two younger people were outside, a man and a woman. Somebody had collapsed on the street, they asked for the doctor. The doctor was retired, but he was still living here.

What follows in the next section took place within 30 seconds: The old doctor went out through the front yard onto the sidewalk. There was a small group of people standing around someone who was lying on the ground, face down, a small figure in a shabby suit. A trail of fluid ran from his trousers against the gutter. He had probably lost urine, perhaps in an epileptic seizure. Or he was in cardiac arrest. The doctor knelt down, turned the face of the person towards him, it was a little bluish. Then a grip in his trouser pockets, he found a purse with an identity card, born in 1923. It was 2010, so the man was 87 years old. At this age, street-resuscitation does not make sense in the event of cardiac arrest. Even if successful, people are almost always permanently impaired and require long term care. One should leave them alone.  Still, the doctor wanted to know what was going on, looked for the pulse on the wrists, on the neck, it had no pulse anywhere. Cardiac arrest. He got up again, turned to the bystanders and explained – as a kind old Uncle Doctor - that this was cardiac arrest. That the man was 87 years old. And that at this age resuscitation made no sense because the results were practically always catastrophic.

The siren of an ambulance sounded very softly through the air, someone had already called with the handy. The doctor still wanted to say that it would be better to give the old man his rest, so it would be a beautiful and painless death. But the siren was loud now and the ambulance was already turning into the side street, bright yellow, highly polished and flashing blue, approaching quickly and then coming to a sharp stop next to our group of people.


Two paramedics, a middle-aged man and a younger blonde woman with an emergency kit jumped out, both athletic and in top form, both in sparkling yellow luminous vests. They quickly made sure that the phone was made from here, rushed to the man lying on the floor, grabbed the pulses that they couldn't find either. The young woman began pumping his chest to reanimate him. The old doctor would have liked to stop them, but they were in the uniform of law enforcement and all those standing by could not even know whether he was a doctor. So he kept quiet. The paramedic dragged the defibrillator on, while the woman continued to pump, he opened the shirt, exposed the chest and stuck the electrodes on. The screen showed no regular heart action, so the electric shock was delivered. After that, no effect. Another shock, now the screen showed a heart action again, irregular, but at least he had an irregular pulse and turned a little pink, but remained unconscious. The woman disappeared into the ambulance and came back with a stretcher and an infusion bottle. The old man was placed on the stretcher, the IV placed in a vein in his arm. Then the old man was carried to the ambulance by the two of them, the young woman stayed with the patient, the man quickly closed the rear door, gave a brief greeting, climbed into the driver's seat and away they roared with flashing lights and the siren got quieter and quieter. The whole haunt might have lasted three minutes.

Yes, this whole performance had been extremely professional and virtuosic. Such quality and speed can only be achieved with constant practice. At the same time, the staging had something synthetically unreal about it: the paramedics looked like shiny Lego men who functioned with their Lego ambulance in a perfect Lego world. Or like computer animations in those American films in which all surfaces are imitated so perfectly - virtual reality - and yet everything remains unreal.

For this perfect Lego world, this shabby old little man was the wrong object. He obviously had been independent so far. And now in very old age his life wanted to come to an end. His luck would have benn to meet a death that had everything one could want from death: sudden, peaceful, and painless.

But they took his death away, postponed his death into care dependency, to a nursing home. Was that what this man wanted? Would we have that wish? Does our health budget have enough money to pay for such idle pastimes?

If this old man were an isolated case it could be ignored. But he is not an isolated case. His case  is the expression of a general philosophy. The old doctor remembers: At a young age he was trained in the internal medicine clinic, which was considered the best at the time in his country. The directive there read: "Every cardiac arrest has to reanimated because interns have to practice". The same directive applies to paramedics, whether this makes sense on the given object or not.

Nobody asks us…

Samstag, 31. Oktober 2020

Knifeless Surgery: Theraclion bets on Varicose Veins with HIFU

 (appeared first on Seeking Alpha, October 31, 2020)

Summary

  • In surgery cutting, one's access to the operative field risks infection and bleeding. Minimally invasive surgery can reduce these risks.
  • Knifeless surgery with highly intense focused ultrasound (HIFU) acts through the intact body surface completely eliminating the risks of knife, access, bleeding, infection and wound care.
  • Theraclion's Sonovein uses HIFU for varicose veins. It is the first non-invasive and painless intervention, a unique selling proposition in a market of five million interventions per year.
  • Knifeless HIFU-surgery is a disruptive innovation like computed tomography or the balloon catheter. Its growth potential is underestimated and undervalued.

Worldwide operative interventions on varicose veins total 5 million a year. Theraclion's (OTCPK:TCLIF) "Sonovein"-device addresses this field with HIFU (highly intense focused ultrasound), a new form of knifeless surgery. Its unique advantages - no incisions, no pain, no scars, no anesthesia, no operating theatre - make for a unique selling proposition which already conquers experts and markets.

Reducing the Risks of Surgery

In surgery the actual procedure - such as removing the gallbladder or appendix - is not very problematic. The danger lies more in creating access to the surgical area, an injury which risks blood loss and infection. There's also the risk of anesthesia. Minimally invasive techniques like endoscopic and robotic surgery reduce but do not eliminate such risks.

HIFU (high-intensity, focused ultrasound), a new technology makes surgical access and knife superfluous in many cases: Ultrasound waves are focused through the intact body surface like through a lens and thereby concentrated at a point inside the body where the tissue is killed by heating up to 85° degrees Celsius. The skin not being opened there is no need for sterility, asepsis, disinfection and wound care, sometimes not even for an operating theatre or anesthesia. This saves time and costs.

HIFU's Many Applications

HIFU is used in many fields: For prostate cancer by French EDAP and US SonaCare, as discussed before. For uterine fibroids and bone metastases by Canadian Profound Medical (OTC:PROF) among others. For high eye pressure (glaucoma) by French Eye Tech Care and for brain disease by Insightec in Israel among others. For a detailed overview, see Focused Ultrasound Foundation's voluminous State of the Field-Report 2020.

Theraclion's start with thyroid and breast tumors

Theraclion is a French company traded in Paris. Those lacking trust in French engineering may be told that Napoleon founded the first technology school ever for his military engineers, the École Polytechnique. Since then, the French never had a lack of brilliant engineering and the École Polytechnique got many copies, e.g. the Massachusetts Institute of Technology.

Theraclion, like EDAP, is part of a French technology cluster which grew around the state laboratory LabTAU (Laboratory for therapeutic applications of Ultrasound) founded 1985 by INSERM (The French National Institute for Health and Medical Research) together with the departments of experimental surgery and of engineering of Lyon university. They used ultrasound for vascular imaging and for crushing of kidney stones. The latter was then miniaturized for prostate cancer and commercialized by EDAP.

Theraclion which was founded in 2004 as a spinoff of EDAP is based in Paris and its "Echopulse" device uses HIFU for safe and efficient removal of benign breast and thyroid nodes, this costing up to 65 percent less than open surgery. The market is not enormous and its map (scroll down to see it) shows only about two dozen installations mostly in Europe.

The scourge of varicose veins

So far, the story is not overwhelming. But now the company has opened another opportunity with its Sonovein system for varicose veins. Some facts of life may explain why this is a really big deal:

Varicose veins affect about 30 percent of all people, more woman than men. Most varicose veins are only a cosmetic nuisance, which moneyed people let treat in private clinics. But they also can lead to swollen legs, bleedings, thrombosis and ugly chronic ulcers which affect about 0.75 percent of the population. Of the ulcers 1/4 remain open despite constant treatment with bandages and compresses which can cost thousands of USD a year. Since 80 percent of these ulcers could be healed by operative interventions Prof. Whiteley estimates that the UK alone wastes billions on ineffective treatments every year.

Older interventional treatments include open surgery or stripping, the latter pulling out the veins with force. Both can lead to a painful and prolonged postoperative recovery with hematoma formation, nerve injury, and infection. The state of the art are minimally invasive therapiesSclerotherapy injects toxic substances into the vein, adverse effects being rare but sometimes severe, e.g. infections, extensive tissue damage, arterial occlusion. This century saw the "endovenous revolution" where radiofrequency or laser is introduced into the vein over a wire or a light guide and acts by heat. This mostly need anesthesia which adds risk. To me as a physician all these techniques never seemed worth the risk in cosmetic indications. E.g. I would not let my wife or my daughter do it.

HIFU as a quantum leap

Theraclion's "Sonovein" is the first completely non-invasive technology for venous disorders. Its HIFU-beam is guided by ultrasound imaging and acts through the intact skin. There is no relevant pain, no infection and no anesthesia. The 30-minute procedure can be performed single-handedly in an ambulatory office setting. A first successful study from the vascular clinics of Dr Alfred Obermayer in Austria led to a CE-mark and was confirmed by Prof. Mark Whiteley, the pioneer of the "endovenous revolution" in the UK who runs the renowned Whiteley clinics for venous diseases: According to him HIFU is a quantum leap and a potentially disruptive technique, see him explain here. Clinical experience led recently to the second-generation "Sonovein S" machine which generates shorter ultrasound pulses (0.5 versus 4-8 sec) and works much faster and without pain.

Sonovein in action: HIFU probe on the right

Are such first studies significant? Sir Austin Bradford Hill the pioneer of medical statistics held that there is not always a need for big series: E.g. when under penicillin the first 10 patients with pneumonia had become afebrile and well within 48 hours no further studies were needed. Similarly, in some dozens of patients treated HIFU was as effective as other endovenous techniques while doing away with asepsis, disinfection, knife, incisions, scars, injections, toxic substances, pain, anesthesia and even an operating theatre. In fact, this is the first technique I would personally accept for cosmetic varicose vein indications as a physician.

Chances of wider adoption

By 2021 Theraclion will have expanded their user base to 12 academic or leading European institutions, which will refine the technique, generate corroborating studies, train physicians and drive accelerating commercialization in Europe from 2022.

Initial reactions by specialists are enthusiastic. The learning curve for the experienced is minimal, because all previous treatments use ultrasound imaging, and instead of placing a needle, a wire or a light guide one places the HIFU-probe over the vein.

According to the CEO David Caumartin, a super smart physicist and telecommunications engineer, the Sonovein system is placed free of charge under a pay-per-use model (around EU 1,500 for Switzerland), thereby eliminating the hurdle of an initial investment.

There is no insurance coverage yet and costs are higher than for endovenous radiofrequency. However, varicosis is unique, because most cosmetic treatments - a substantial minority - are anyway paid out of pocket.

There are an estimated 5 Million venous procedures per year worldwide, and alone 100,000 in the UK, of which Theraclion wants to conquer a significant part. Awaiting insurance coverage "Sonovein S" has a role as a "premium-treatment" for self-paying customers. In most bigger towns and many hospitals there are vein specialists and in every country there a several specialized clinics each treating hundreds of varicosis patients a year. Patient demand will force them to adopt HIFU if they do not want to lose well-to-do clientele. From medical circles here in Switzerland, one hears of a keen interest. Knifeless surgery without anesthesia is just a unique selling proposition. Insurance coverage is probably a question of time.

The technology had been submitted to the FDA already in 2019. Studies in the US had to be postponed due to COVID but will start in summer 2021 and will be the base for requesting the 510k approval from the FDA. A realistic time frame for sales in the US is 2024.

Financials

Theraclion is a small start-up with ca. 25 employees. Market cap is USD 27 million, yearly loss is USD 4 million and debt USD 7 million. Revenue comes from selling devices, service and disposables, and for "Sonovein S" from pay-per-use. Revenues grew from USD 2 to 3,4 million in the last years. 2019 showed a growth of total revenue of 66 percent and of income of 38 percent. For 2020, it expected sales growth of 30-50 percent. Then came COVID, which however the company weathered rather well: Revenues in the first half of 2020 were 15 percent lower on a y/y basis, but due to early cost containment, operating loss was reduced by 5 percent y/y.

According to the report for first half of 2020, it had cash of EU 1.4 million as of December 31, 2019. During the first half of the year 2020, the company obtained EU 1.4 million under a State Guaranteed Loan (PGE) and an innovation loan from Bpi France, and it also received the EU 1M Research Tax Credit. Given a cautious estimate of system sales in 2020 with a second half expected to be more dynamic than the first, as well as the issuance of tranche 2 of the financing contracted in early 2019, Theraclion considers that it will be able to cover its cash flow needs until mid-2021. In addition, Theraclion obtained an EU 3.6 million credit line in the first half of 2020, which could be activated, if necessary.

A study by CIC market solutions equity research from October 22nd prognosticates a slowly growing thyroid and breast business and a rapid adoption of "Sonovein S" with 12 centers 2021, 20 in 2022 and 40 in 2023 and so on which is realistic. Assuming one center generating 300 procedures a year this amounts to total companywide sales of EU 4,6 million in 2021, 8.4 million in 2022 and 13.6 million in 2023 which should take them to breakeven and profits.

CIC-Market Solutions previously thought that the company might need further financing but now it concludes that it will be able to begin marketing without additional capital. I would agree as long as the COVID epidemic will be brought under control by next spring.

Downsides

Start-ups can go down, but Theraclion rides an emerging international wave of HIFU-adoption and will probably get the resonance and means to survive. COVID remains a danger but it resisted well.

There are no downsides inherent to the technology, which does basically the same as previous methods, just with considerably less inconvenience and adverse effects. Therefore, one can hardly imagine how further growth could be impeded by company-specific factors or factors inside the MedTech and medical ecosystems.

Theraclion has not yet obtained insurance coverage for its venous treatment and is presently limited to the substantial minority of self-payers. HIFU being more expensive than other minimally invasive treatments it has to succeed as a "premium product" which is reasonable given the advantages. FDA-approval can but will probably not be as cumbersome as with previous HIFU applications.

In the domain of veins, Theraclion is protected by patent until 2026. Thereafter it remains the first-mover with solid links to leading experts which will help to convince and maintain users.

Investment Thesis

Theraclion rides the global wave of HIFU-adoption and with "Sonovein S" has a unique selling proposition of painless non-invasive intervention in the enormous venous market. This disruptive breakthrough has low hurdles for adoption and must result in explosive growth of revenue and profits already over the next few years.

Afterthoughts: Risk and investment strategy

Investments must reside in a context, which for us is the following: The growth of world economy is not assured and may give way to shrinkage, causes being economic or belligerent conflicts, environmental and resource problems or other turmoil. Fiat currencies, blue chips and value investments are all at risk of losing value, perhaps sharply and for good. Somewhat better may be real estate, physical precious metals and maybe shares of relatively resistant industries, e.g. health, food and utilities. These may resist inflation but have no growth prospects.

If one looks for real growth one can put a percentage of the available means  into breakthrough adventures as long as one understands them. This may be rewarded by one- or double-digit multiplication. As long as they grow there is no point in much selling or rebalancing - never change a winning horse - except putting minor parts of the profits into other growth candidates or in safer investments. Theraclion and EDAP have further potential, especially after the recent dip. 

Mittwoch, 12. August 2020

Die Lebenden werden die Toten beneiden

(Zuerst publiziert in www.Journal21.ch vom 12.8.2020)

In der New York Review of Books, 20. August 2020 (-> link to original article) bespricht Bill McKibben das Buch «The last warning: Six degrees climate emergency» («Die letzte Warnung: Sechs Grad Klimanotfall») von Mark Lynas, London: 4th Estate, 372 S., 27,99 USD. Hier diese Besprechung in deutscher Übersetzung: 

54 Grad Celsius

Durch COVID bekommen wir einen Begriff von einer umfassenden globalen Krise, die alles stört: Das normale Leben - Lebensmittel einkaufen, Hochzeit halten, zur Arbeit gehen, die Eltern sehen – alles verändert sich dramatisch. Die Welt fühlt sich anders an, und jede Annahme über Sicherheit und Vorhersehbarkeit ist auf den Kopf gestellt: Wirst du einen Job haben? Wirst du sterben? Wirst du jemals wieder mit der U-Bahn fahren oder ein Flugzeug nehmen? Es ist alles anders, als wir jemals gesehen haben.

Der Umbruch durch Covid-19 ist auch eine Art Generalprobe für die globale Erwärmung. Weil die Menschen die physische Funktionsweise des Planeten Erde grundlegend verändert haben, gehen wir einem Jahrhundert von Krisen entgegen, von denen viele gefährlicher sind als das, was wir jetzt durchleben. Hauptfrage ist, ob wir den Temperaturanstieg so eingrenzen können, dass wir diese Krisen wenn auch mit Aufwand und Leid bewältigen können, oder ob unsere Zivilisation überwältigt wird. Letzteres ist eine eindeutige Möglichkeit, wie Mark Lynas neues Buch «Our Final Warning» schmerzlich deutlich macht.

Lynas ist ein britischer Journalist und Aktivist. 2007 veröffentlichte er im Vorfeld der Klimakonferenz in Kopenhagen ein Buch mit dem Titel «Sechs Grad: Unsere Zukunft auf einem heißeren Planeten». Das neue Buch erinnert an die frühere Arbeit, die schon keineswegs fröhlich war. Aber weil Wissenschaftler im letzten Jahrzehnt das Verständnis der Erdsysteme dramatisch verbessert haben, während unsere Gesellschaft dasselbe Jahrzehnt dazu verschwendete, um immer mehr CO2 in die  Atmosphäre zu pusten ist dieses Buch weit, weit dunkler. Lynas stützt sich auf solide Quellen und eine breite Palette veröffentlichter Forschungsergebnisse. Eröffnend sagt er, dass er lange davon ausgegangen sei, dass wir „den Klimawandel wahrscheinlich überleben könnten. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher."

Die Nationen, welche fossile Brennstoffe in großen Mengen verbrauchen, haben die Temperatur des Planeten seit der industriellen Revolution um mehr als ein Grad Celsius angehoben. Die Marke wurde 2015 überschritten, zufällig auch das Jahr, in dem wir in Paris die ersten wirklichen globalen Abkommen über Klimaschutzmaßnahmen erreicht haben. Ein Anstieg um ein Grad klingt nicht nach viel, aber es ist viel: Jede Sekunde fangen der Kohlenstoff und das Methan, die wir abgegeben haben, Wärme ein, die der Explosion von drei Hiroshima-Bomben entspricht. Seit 1959 wird auf dem  Vulkan Mauna Loa in Hawaii die Kohlendioxidkonzentration erfasst. Ende Mai dieses Jahres war ein neues Rekordhoch von etwa 417 ppm CO2, das sind 100 ppm mehr als zur Zeit unserer Ururgrosseltern, und mehr, als es in den letzten drei Millionen Jahren je gegeben hat (ppm = parts per million).

Während wir fahren, heizen, beleuchten und bauen, geben wir jährlich etwa 35 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre ab. Momentan nehmen Ozeane und Wälder etwas mehr als die Hälfte davon auf, aber diese Gnade wird in Zukunft nicht anhalten, und auf jeden Fall bedeutet dies, dass wir der Luft jährlich etwa 18 Milliarden Tonnen hinzufügen . Dies ist bei weitem der wichtigste Einflussfaktor  für die Zukunft des Planeten.

Der Schaden, der bei einem Grad Erwärmung angerichtet wurde, ist beunruhigend und liegt in fast allen Fällen über dem, was Wissenschaftler vor dreißig Jahren vorhergesagt hatten (Wissenschaftler sind halt von Natur aus vorsichtig).  Lynas nimmt uns auf eine Horrortour,  von Grönland (wo die Eisschmelze bereits auf dem Niveau liegt, das einst für 2070 vorhergesagt wurde); in die Wälder der Welt (auf der ganzen Welt hat die Dauer der Waldbrandsaison um ein Fünftel zugenommen); in städtische Gebiete in Asien und im Nahen Osten, in denen in den letzten Sommern die höchsten zuverlässig gemessenen Temperaturen auf der Erde gemessen wurden, gegen 54 Grad. Das ist die Welt mit einem Grad Erwärmung, in der ein Gürtel aus gebleichten Korallen über den Tropen zu sehen ist - ein 90-prozentiger Zusammenbruch entlang des Great Barrier Reef, der größten lebenden Struktur des Planeten – oder die entsetzlichen Szenen aus Australien wo im Dezember Menschen ins Meer wateten,  um den Feuerstürmen zu entkommen.

Das wäre einmal die Ausgangsbasis. Wir werden definitiv nicht cooler. Aber betrachten wir jetzt das eigentliche Problem, die zukünftige Entwicklung, welche Wissenschaftler seit vielen Jahren zu vermitteln versuchen, welche aber weder in der Öffentlichkeit noch bei den politischen Führern wirklich angekommen ist. In den Worten von Lynas:

«Auf dem aktuellen Erwärmungspfad könnten wir bereits Anfang der 2030er Jahre zwei Grad Globalerwärmung haben, die drei Grad um Mitte des Jahrhunderts und vier Grad bis 2075. Wenn wir mit positiven Feedbackschleifen Pech haben - vom Auftauen des Permafrosts in der Arktis bis zum Zusammenbruch tropischer Regenwälder - könnten wir bis zum Ende des Jahrhunderts fünf oder  sechs Grad Globalerwärmung erreichen».

Das ist ein lesenswerter Absatz, eine unverbrämte Zusammenfassung der verfügbaren Wissenschaft (eine  Anfang Juli veröffentlichte Studie schätzt, dass wir die 1,5-Grad-Schwelle bis 2025 überschreiten könnten). Diese Sicht ist keinewegs abwegig und sie impliziert eine unvorstellbare Zukunft. Zwei Grad sind nicht doppelt so schlecht wie ein Grad, oder drei Grad dreimal so schlecht. Denn der Schaden nimmt nicht linear mit der Temperatur zu, sondern eher exponentiell, wobei bei steigender Temperatur jederzeit unvorhersehbare Kippunkte drohen. (Anmerkung des Übersetzers: eine bestimmte Globalerwärmung heisst ca. das doppelte oder mehr über den Landmassen, wo die Kühlung durch das Meer entfällt). 

Aber haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt im Pariser Klimaabkommen nicht  verpflichtet, den Temperaturanstieg auf „weit unter“ zwei Grad Celsius und so nahe wie möglich an 1,5 Grad zu halten? Sie taten es - in der Präambel. Aber dann fügten sie ihre tatsächlichen Zusagen Land für Land hinzu. Als Wissenschaftler diese Versprechen zusammenfassten - Emissionen zu senken, erneuerbare Energien aufzubauen, Wälder zu retten - und sie in einen Computer einspeisten, spuckte der die Nachricht aus, dass wir bei Einhaltung des Pariser Abkommens in diesem Jahrhundert auf eine Globalerwärmung um etwa 3,5 Grad zusteuern. Und nicht genug Länder halten die Pariser Versprechen - tatsächlich haben sich unsere USA, die in den letzten zwei Jahrhunderten weitaus mehr Kohlenstoff produziert haben als jedes andere Land, vollständig von den Abkommen zurückgezogen, angeführt von einem Präsidenten, der den Klimawandel als Scherz bezeichnet. Der En-ROADS-Online-Simulator, der von Climate Interactive, einem gemeinnützigen Think Tank, entwickelt wurde, sagt voraus, dass wir in diesem Jahrhundert einen globalen Temperaturanstieg von 4,1 Grad  erwarten können. Alles in allem ist Lynas 'sorgfältige schrittweise Analyse eine direkte Prognose für unsere Zukunft, und gleichzeitig eine Höllentour, es sei denn, wir ergreifen Massnahmen in einem Maßstab, den derzeit nur wenige Nationen planen.

Folgen wir Lynas auf dieser Tour in die Hölle:

Bei einer um zwei Grad erhöhten Globaltemperatur sind sagt die Wissenschaft ziemlich sicher einen im Sommer eisfreien Arktischen Ozean voraus. Schon jetzt hat der Eisverlust im Norden die Wettersysteme dramatisch verändert, den Jetstream geschwächt und die Wetterverhältnisse in Nordamerika und anderswo destabilisiert. 

Bei den zwei Grad könnten 40 Prozent der Permafrostregion abschmelzen, unter massiver Freisetzung von Methan und CO2, was uns näher an die drei Grad bringen würde. Aber wir greifen vor: Zwei Grad werden wahrscheinlich auch den irreversiblen Verlust der Westantarktischen Eisdecke auslösen. Selbst vorsichtige Schätzungen des resultierenden Meeresspiegelanstieges lassen erwarten, dass dadurch 79 Millionen Menschen vertrieben werden. Und der Schutz gefährdeter Städte entlang der Ostküste der USA hinter Deichen und Mauern würde bis zu 1 Million US-Dollar pro Person kosten. Lynas folgert: «Ich vermute, niemand wird mit so hohen Kosten für Deiche bezahlen wollen, und die am stärksten gefährdeten (und ärmsten) Gemeinden werden einfach aufgegeben».

Früher hofften die Forscher, dass eine Erwärmung um zwei Grad die Lebensmittelproduktion tatsächlich leicht steigern könne, aber „jetzt sehen diese rosigen Erwartungen gefährlich naiv aus.“ Lynas zitiert jüngste Studien, in denen vorausgesagt wird, dass zwei Grad die globale Lebensmittelverfügbarkeit um etwa 99 Kalorien pro Kopf und Tag verringern werden – und auch diese Last wird selbstverständlich nicht gleichmäßig oder gerecht verteilt werden.

Städte werden stetig heißer: Die derzeitige Erwärmung bedeutet, dass sich alle Menschen auf der Nordhalbkugel mit einer Geschwindigkeit von etwa 19 km pro Jahr effektiv nach Süden bewegen. Das ist ein halber Millimeter pro Sekunde, was mit bloßem Auge eigentlich leicht zu erkennen ist: „Ein sich langsam bewegendes riesiges Förderband“, das uns „immer tiefer in die Subtropen transportiert, mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Sekundenzeiger einer kleinen Armbanduhr . ”

Aber dieser statistische Durchschnitt maskiert Extreme: Wir können immer stärkere Hitzewellen erwarten, so dass beispielsweise in China Hunderte Millionen Menschen mit Temperaturen umgehen müssen, denen sie noch nie zuvor begegnet sind. Die natürliche Welt wird dramatisch leiden - 99 Prozent der Korallenriffe werden wahrscheinlich sterben: Eine der faszinierendsten (und produktivsten) Ecken der Schöpfung wird auf „abgeflachte, algenbedeckte Trümmer“ reduziert.

Wenn wir darüber hinaus zu drei Grad Globalerwärmung gehen, "wird das unsere Zivilisation bis zum Zusammenbruch belasten." Die drei Grad bringen uns auf ein Niveau globaler Hitze, das noch kein Mensch erlebt hat – letztmals so warm war es vor drei Millionen Jahren im Pleistozän.

In seinem ersten Buch berichtete Lynas, dass Wissenschaftler den Zusammenbruch der Westarktischen Eisdecke bei vier Grad erwarteten. Wie oben ausgeführt erwartet man den Zusammenbruch heute  früher, bei zwei Grad Erwärmung ist er eine tödliche Möglichkeit, bei drei Grad eine Gewissheit. Höhere Meeresspiegel bedeuten, dass Sturmfluten wie der Superstorm Sandy vom Jahr 2012 durchschnittlich dreimal im Jahr zu erwarten sind.

In einer Dreigrad-Welt werden die rekordverdächtigen Hitzewellen von 2019 „als ungewöhnlich kühler Sommer gelten“. Über eine Milliarde Menschen würden in Zonen des Planeten leben, "in denen es unmöglich wird, außerhalb künstlich gekühlter Umgebungen sicher zu arbeiten, selbst im Schatten". Der Amazonas stirbt,  der Permafrost bricht zusammen. Die Veränderung verstärkt sich selber: Bei drei Grad wird die Reflexion des Planeten stark vermindert, weil weißes Eis, das den Sonnenschein zurück in den Weltraum reflektiert, durch blaues Meer oder braunes Land ersetzt wird, das diese Strahlen absorbiert und den Prozess verstärkt.

Und dann kommen die vier Grad: Der Mensch als Spezies ist damit nicht vom Aussterben bedroht - noch nicht. Aber die fortschrittliche industrielle Zivilisation mit ihrem ständig steigenden Materialverbrauch, Energieverbrauch und Lebensstandard - das System, das wir Modernität nennen – kommt ins Wanken.

In Orten wie Texas, Oklahoma, Missouri und Arkansas werden die Höchsttemperaturen jedes Jahr höher sein als die 50 und mehr Grad, die man jetzt im Death Valley findet. Drei Viertel der Weltbevölkerung werden „mehr als 20 Tage pro Jahr tödlicher Hitze ausgesetzt sein ” – in New York 50 Tage pro Jahr, in Jakarte alle Tage des Jahres. Ein „Gürtel der Unbewohnbarkeit“ wird durch den Nahen Osten verlaufen, den größten Teil Indiens, Pakistans, Bangladeschs und Ostchinas. Die Ausweitung der Wüsten wird ganze Länder "vom Irak bis nach Botswana" verbrauchen.

Je nach Studie steigt das Risiko von „sehr großen Bränden“ in den westlichen USA zwischen 100 und 600 Prozent; Das Hochwasserrisiko in Indien steigt um das Zwanzigfache. Derzeit ist das Risiko, dass die größten Getreideanbaugebiete aufgrund von Dürre gleichzeitig Ernteausfälle erleiden, „praktisch Null“, aber bei vier Grad „steigt diese Wahrscheinlichkeit auf 86%“. Riesige «marine Hitzewellen“ werden die Ozeane durchkämmen: „Eine Studie geht davon aus, dass die Meerestemperaturen in einer Welt mit vier Grad in vielen tropischen Meeresökoregionen über der thermischen Toleranzschwelle von 100% der Arten liegen werden.“ Das Aussterben an Land und auf See wird sicherlich das schlimmste seit dem Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren sein, als ein Asteroid dazu beitrug, das Zeitalter der Dinosaurier zu beenden. "Der Unterschied", bemerkt Lynas, "besteht darin, dass der" Meteor "diesmal Jahrzehnte im Voraus sichtbar war, aber wir haben uns einfach abgewandt, als er am Himmel immer größer wurde."

Wir werden nicht lange bei Lynas' Beschreibungen darüber verweilen,  was bei fünf oder sechs Grad Globalerwärmung passiert. Diese sind leider nur allzu plausibel -  besonders wenn die Menschheit sich nicht auf eine Kursänderung einigt - aber sie sind pornographisch. Wenn die Erwärmung dieses Ausmass erreicht, werden die Lebenden die Toten wirklich beneiden: Eine Welt, in der die Menschen versuchen, sich nach Patagonien oder vielleicht auf die Südinsel Neuseelands zu drängen, eine Welt, in der massive Monsune den Boden bis zum Felsen wegspülen. wo die Ozeane anoxisch oder völlig ohne Sauerstoff sind. Vergessen wer die Praezedenzfälle der Kreidezeit und der Asteroideneinschläge - bei sechs Grad nähern wir uns dem Schaden, der zu Ende des Perms eintrat, der größten biologischen Katastrophe in der Geschichte des Planeten, als vor 250 Millionen Jahren 90 Prozent der Arten verschwanden. Ist das übertrieben? Nein, denn momentan erhöhen unsere Autos und Fabriken die CO2-Konzentration des Planeten ungefähr zehnmal schneller als die riesigen sibirischen Vulkane, die damals die Katastrophe ausgelöst haben.

Angesichts der Klimakrise ist die Rückkehr zum „Normalen“ kein realisierbares Ziel - niemand wird einen Impfstoff herstellen (*). Das heißt nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben. Tatsächlich haben wir derzeit mehr Optionen als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt, aber wir müssten sie in dramatischem Umfang und mit dramatischer Geschwindigkeit einsetzen.

Zum einen haben die Ingenieure ihre Arbeit gut gemacht. Vor etwa einem Jahrzehnt begann der Preis für erneuerbare Energien zu sinken, und dieser Rückgang beschleunigt sich weiter. Der Preis pro Kilowattstunde Solarenergie ist seit 2010 um 82 Prozent gefallen. In diesem Frühjahr wurde in den sonnigen Wüsten Dubais der Zuschlag für die weltweit größte Solaranlage abgegeben, sie produziert für etwas mehr als einen Cent pro Kilowattstunde. Der Preis für Windkraft ist fast ebenso dramatisch gefallen. Jetzt rasen die Batterien die gleiche Kurve hinunter. In vielen Jahren wird es vielerorts tatsächlich billiger sein, neue Solaranlagen zu bauen, als bereits gebaute und bezahlte Gas- und Kohlekraftwerke weiter zu betreiben. (Das liegt daran, dass die Sonne die Kraft gratis liefert).

Aus diesen Gründen und aufgeschreckt durch Kampagnen setzen sich Investoren für erneuerbare Energien ein. Damit wird auch die Macht der fossilen Brennstoffindustrie geschwächt, die ihre Schlagkraft seit drei Jahrzehnten genutzt hat, um den Übergang zu neuen Energieformen zu blockieren.

Aber die Wirtschaft selbst wird uns nicht schnell genug bewegen. Trägheit ist eine mächtige Kraft - Trägheit und die Notwendigkeit, Billionen an „gestrandeten Vermögenswerten“ aufzugeben: Riesige  Öl- und Gasreserven, die derzeit den Wert von Unternehmen (und von Ländern, die sich wie Unternehmen verhalten – man denke an Saudi-Arabien) stützen, müssten im Boden belassen werden. Infrastrukturen wie Pipelines und Kraftwerke müssten lange vor Ablauf ihrer Nutzungsdauer geschlossen werden. Dieser Prozess würde wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze schaffen als beseitigen, denn fossile Energie ist in der Regel kapitalintensiv, während erneuerbare Energien arbeitsintensiver sind. Aber die politischen Systeme reagieren eher auf drohende Arbeitsplatzverluste als auf ihren möglichen Ersatz. Von den ärmsten Nationen sollte nicht erwartet werden, dass sie für den Übergang so viel bezahlen wie die reichen Nationen: Sie sind bereits belastet mit den horrenden Kosten des Meeresspiegelanstiegs und der Gletscherschmelze, zu deren Verursachung sie kaum beigetragen haben. Auch ohne Führer wie Trump ist der erforderliche Aufwand enorm - genau deshalb blieben die Zusagen der Unterzeichner in Paris so weit hinter den selbst gesetzten Zielen zurück. Und Führer wie Trump scheinen sich zu vermehren: Der Brasilianer Jair Bolsonaro kann die Klimamathematik im Alleingang umschreiben, indem er einfach weiterhin den Amazonas entwaldet. Es wird eine mächtige und andauernde Bewegung erfordern, um den Wandel zu beschleunigen.

Was Lynas 'Buch vielleicht etwas deutlicher hätte machen sollen, ist, wie wenig Spielraum wir haben, um diese Aufgaben zu erfüllen. In einer Coda schreibt er tapfer: „Es ist nicht zu spät, und tatsächlich wird es nie zu spät sein. So wie 1,5 ° C besser als 2 ° C ist, so ist 2 ° C besser als 2,5 ° C, 3 ° C ist besser als 3,5 ° C und so weiter. Wir sollten niemals aufgeben.“ Dies ist zumindest emotional unbestreitbar. Nur machen die von ihm zitierten Studien deutlich, dass zwei Grad Erwärmung Rückkoppelungen erzeugen können, die uns automatisch höher bringen. Ab einem bestimmten Punkt wird es zu spät sein. Die erste dieser Fristen könnte 2030 sein - das Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC)  teilte 2018 mit, dass wir bis zu diesem Datum eine „grundlegende Umgestaltung“ der Energiesysteme benötigen, da sonst die in Paris festgelegten Ziele unerreichbar blieben (Mit „grundlegender Transformation“ war ein Rückgang der Emissionen um 50 Prozent gemeint). Das heißt, die Jahre, in denen wir noch größte Hebelwirkung und Einfluss haben können wir unseren zehn Fingern abzählen.

Die Covid-Pandemie zeigt, wie wichtig der Zeitfaktor in solchen Krisen ist. Südkorea und die USA meldeten die ersten Fälle am selben Januartag. Amerikas Regierung und Präsident verschwendeten den Februar mit Zögern und Twittern. Und jetzt ist Seoul nahe an der Normalität, und in den USA sind wir dem Chaos nahe (An einem einzigen Julitag  meldete Florida mehr Fälle, als Südkorea in der ganzen Pandemie). Und so wie die USA den Februar verplemperten, verplemperten wir für den Planeten dreißig Jahre. Geschwindigkeit ist wichtiger denn je. Die Proteste gegen Black Lives Matter erinnern daran, dass Aktivismus erfolgreich sein kann und dass Umweltbemühungen stark mit anderen Kampagnen für soziale Gerechtigkeit verbunden sein müssen. Der von der Biden-Kampagne im vergangenen Monat angekündigte Klimaplan ist ein glaubwürdiger Start für die notwendigen Anstrengungen.

Die Pandemie gibt auch einen tauglichen Masstab dafür, wie viel wir ändern müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. In diesem Frühjahr haben wir «business as usual» eine Zeit lang beendet, fast auf der ganzen Welt - und unseren Lebensstil weitaus mehr verändert, als wir je für möglich gehalten hatten. Wir haben aufgehört zu fliegen, haben aufgehört zu pendeln, haben viele Fabriken gestoppt. Im Endeffekt sind die Emissionen gesunken, aber nicht so stark, wie man hätte erwarten können: Nach vielen Berechnungen kaum mehr als 10 oder 15 Prozent. Das deutet darauf  hin, dass der größte Teil der Faktoren, die unsere Erde zerstören, fest in unseren Systemen eingebaut und verdrahtet sind. Nur wenn wir diese Systeme angreifen - indem wir die mit fossilen Brennstoffen betriebenen Eingeweide herausreißen und durch erneuerbare Energien und weitaus effizientere  Techniken ersetzen, können wir die Emissionen so weit senken, dass wir eine Chance haben. Und zwar – das macht Lynas leider klar - nicht die Chance, die globale Erwärmung zu stoppen. Aber wenigstens eine Chance, zu überleben.

(*) Einige fordern "Geoengineering"-Lösungen für die globale Erwärmung - Techniken wie das Sprühen von Schwefeldioxid in die Atmosphäre, um die einfallenden Sonnenstrahlen zu blockieren. Das würde nichts dazu beitragen, die andere schlimme Krise zu verlangsamen, die durch den Kohlenstoffstoß verursacht wird: Die Versauerung der Ozeane. Und man könnte damit durchaus neue Formen des Chaos anrichten.

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Übersetzung: Lukas Fierz, Bern.

Veröffentlicht mit Genehmigung New York Review of Books.

Link zum Originalartikel: https://www.nybooks.com/articles/2020/08/20/climate-emergency-130-degrees/

 

 

Samstag, 30. Mai 2020

Korruption im Spital

Ein Whistleblower hat Misstände in der Zürcher Herzchirurgie ausgepackt. Die NZZ berichtete nur nebelhaft. Die Spitalleitung und ein in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht spielen die Sache herunter.

Einmal mehr stellt Insideparadeplatz.ch klar, was Sache ist -  Mauschelei, Wegsehen, Vertuschung, medizinischen Grenzverletzungen, Mafiastrukturen und persönliche Bereicherung. Der Whistleblower wurde in die Wüste geschickt.

All das würde mir die noch vorhandenen Haare zu Berge stehen lassen, hätte ich nicht alles vor 35 Jahren im Berner Tiefenauspital genau so erlebt. Ich stiess dort als Vorstandsmitglied auf ähnliche Zustände. Wie jetzt in Zürich tat die SP-Prominenz alles, um die korrupten Verantwortlichen zu schützen und den Skandal unter dem Deckel zu halten, was dann doch nicht gelang. Die Einzelheiten und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen habe ich für mein Büchlein "Begegnungen mit dem Leibhaftigen" (Tredition 2016) aufgeschrieben, hier ist das entsprechende Kapitel: 

  

Die Sumpfweid

Beim Gerichtsmediziner landen Morde und Selbstmorde. Aber auch ein Arzt, der mit Gewissen und Recht in Schwierigkeiten kommt, darf zum Gerichtsmediziner, ist der doch ein halber Jurist. Ich brauchte seinen Rat.  

Um elf Uhr morgens durfte ich vorsprechen. Mit Zigarette und einem Zweier Weisswein sass der Professor (Prof. Eugen Läuppi) am Schreibtisch. Als Toxikologe - Vergiftungsspezialist - war er bekannt dafür, den süssen Giften dieses Lebens nicht abgeneigt zu sein. Er bot mir Stuhl und Glas an, letzteres lehnte ich ab, und er fragte nach dem Problem.

Ich war ja seit zwei Jahren im Vorstand des Stadtspitals Sumpfweid (eigtl. Tiefenau) von Seldwyla (eigtl. Bern). Der Vorstand überwacht Kosten und den erhaltenen Gegenwert. Das Spital hatte den teuersten Pflegetag im ganzen Land. Als neugebackenes stolzes Vorstandsmitglied wanderte ich durch Spitalgelände und Korridore auf der Suche nach dem Gegenwert. Aber im Wartebereich nur abgeschabte Stühle mit teils zerschlissenen Polstern, Vorhänge mit Flecken, manchmal halb heruntergerissen. Auf dem Vorplatz eine behelfsmässige Holzbaracke für das Labor. Alles erbärmlich und provinziell. Mir verging der Stolz. Wo versickerte das Geld?

Von den Ärzten hörte man, sie hätten Monitore für die Intensivstation beantragt, vom führenden Hersteller Hewlett-Packard. Nach unklaren Verzögerungen standen Apparate eines obskuren deutschen Herstellers da. Oder die Röntgenärzte, die einen Bildverstärker wollten und nicht das modernste Produkt erhielten, sondern ein Occasionsgerät von der Luxusjacht eines saudischen Waffenhändlers. Klärung brachte die Geschichte, die mir ein Kollege erzählte: Der Direktor des Städtischen Behindertenheimes erhielt Besuch von einem Vertreter für Bettwäsche, der ihm sagte: Machen wir es wie in der Sumpfweid, Sie kaufen alles bei uns und schon haben Sie ein neues Auto...

Was wollte man machen? Der Direktor der Sumpfweid (Walter Mamie) regierte das halbe Gesundheitswesen von Seldwyla, er beriet den Sanitätsdirektor von Seldwyla, den vorgesetzten Gesundheitsdirektor des Landes Seldwylien, er beriet andere Spitäler, begleitete und realisierte Bauprojekte für Spitäler und Pflegeheime im ganzen Land. Überdies rüstete er die Luxusjacht eines Saudischen Waffenhändlers mit modernstem medizinischem Gerät auf, das, wenn ersetzt, in der Sumpfweid landete. Bei rauschenden Spitalfesten liess er Champagner strömen, bis eingeladene Politiker, Vorstandsmitglieder und Gewerkschafter nur noch mit glasigem Blick unter den Tischen herumkrochen. Sogar von halbbekleideten Orgien im Therapiebad wurde gemunkelt. Jedenfalls hatte dieser Direktor alle in der Tasche, mit allen war er per Du. So zog ich mich auf die Position zurück, die ich schon als Militärarzt eingenommen hatte: Ich mache Medizin und stecke meine Nase nicht in die Sache von Fourier und Feldwebel. Für das Medizinische musste man sich in der Sumpfweid überhaupt nicht schämen. Der Chefarzt (Prof. Guido Riva) war zwar alt und ein Tessiner, aber die geniale Gründlichkeit in Person.    

Jetzt, bei der Wahl seines Nachfolgers, ging es nicht mit rechten Dingen zu. Die besten Kandidaten wurden eliminiert, zum Beispiel der brillante erste Oberarzt des Universitätsspitals, oder der berühmte junge Arzt aus der Nachbarstadt, der gezeigt hatte, wie man eine tödliche Penicillinnebenwirkung vermeidet, damit hatte er weltweites Aufsehen erregt und Tausenden das Leben gerettet... Keiner von denen wurde gewählt. Gewählt wurde der Patensohn des alten Chefs, der allen nach dem Munde redete, aber immerhin mit Studien für Pharmafirmen Geld ins Spital spülte. 

Der Gerichtsmediziner hatte aufgehört zu trinken, sass jetzt leicht vorgebeugt, er hörte intensiv zu, zog an seiner Zigarette und seine Augen schienen etwas aus ihren Höhlen vorzustehen. Sein Interesse war geweckt, von Berufes wegen war er ja an allem Abartigen und Widerrechtlichen interessiert. Ich fuhr weiter:

Über die dortige Korruption habe ich bisher hinweggesehen. Aber jetzt führt sie dazu, dass nicht der beste als Chefarzt zum Zuge kommt. Für die Qualität der Medizin fühle ich mich zuständig. Das geht doch nicht. Diese Wahl muss man rückgängig machen, den Saustall ausmisten. Was soll ich machen?

Der alte Professor lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck und wackelt leise mit dem Kopf. Dann wieder vorgebeugt, fasst er mich intensiv in die jetzt eindringlich vorquellenden Augen und sagt langsam, jedes Wort einzeln betonend: "Der Direktor der Sumpfweid ist der mächtigste Mann im Seldwyler Gesundheitswesen. Da können Sie überhaupt nichts machen."

Der alte Professor war mir väterlich wohlgesinnt, und sein Rat war weise, gutgemeint und gut. Doch was löste er aus? In der Sonntagsschule, die ich als Kind besuchte, gab es eine alte blecherne Spendenkasse, auf der ein kleiner betender Neger sass. Wenn man eine Münze einwarf, so nickte der dankbar mit dem Kopf. Der Satz des Professors war in mir hinuntergefallen, wie die Münze. Und so reflexartig, wie der kleine Neger nickte kam in mir die Reaktion: Dann probieren wir mal, wir werden ja sehen.

Der Angriff, auf den ich vor einem Jahr verzichtet hatte musste jetzt gefahren werden. Aber wie nur diese Festung knacken, diesen Sumpf trockenlegen?

Vom Spitalvorstand, der hier sozusagen das Parlament spielte war nichts zu erwarten. Es war inzwischen klar, dass die meisten Mitglieder seit Jahren wussten, was gespielt wurde. Irgendwie hatte sie der Spitaldirektor in der Hand. Sie hielten zu ihm und sie hielten dicht. 

Ich telefonierte der vorgesetzten Gesundheitsdirektion von Seldwylien und verlangte den Hausjuristen, der mir vom Stadtrat her bekannt war. Ich wurde nur mit seinem Vertreter verbunden, der einen Namen von altem Seldwyler Adel trug, ein Herr de Haberbourg. Ich hörte eine schläfrig-gedehnte Stimme mit französischem Akzent, - worum es gehe? Ich schilderte kurz den Sumpf in der Sumpfweid, die Wahl, und dass jetzt genug Heu drunten sei, die vorgesetzte Behörde müsse handeln. Die schläfrige Stimme zeigte weder Aufregung noch Interesse: Das sei bekannt. Über die Sumpfweid habe man einen Schrank voll Material. Alles, was komme werde dort abgelegt. Aber es werde nichts unternommen. Der Mann leierte weiter: Hier werde sowieso nie etwas unternommen, zum Beispiel dieser Zahnarzt in Oberseldwylien, der seine Patientinnen jeweils mit Lachgas narkotisiert, missbraucht und erst dann behandelt habe, der praktiziere ja auch immer noch.

Später erreichte ich den Hausjuristen, der die Existenz des Schrankes bestätigte und ein Gespräch mit Seldwyliens oberstem Gesundheitsdirektor vermittelte, einem erfahrenen linken Politiker (damals Kurt Meyer). Dieser belehrte mich, dass beim Regieren die Hauptsache das Bewahren von Ruhe und Ordnung sei. Wogen müsse man unter den Teppich kehren, schlafende Hunde nicht wecken und den Rest unauffällig verwedeln. Vom Schrank wollte er nichts wissen und die Seldwyler Lösung des Problems bestand darin, dem de Haberbourg den Telefonanschluss abzustellen und auch jegliche Kompetenz zu telefonischen Auskünften zu entziehen.

Nachdem die Exekutive versagte hätte man an die dritte Gewalt, den Rechtsweg denken können. Aber wen hätte man wegen welchen Tatbestandes einklagen können und mit welcher Legitimation? Das war nebelhaft.

Blieb die vierte Gewalt, die Medien. Wenn man einen Skandal lostreten konnte, so würden Politik und Justiz schon folgen.

Nur wollten die Lokalredaktoren des „Seldwyler Morgenrufes“ (eigtl. Bund) und des „Seldwyler Patrioten“ (eigtl. Berner Zeitung) nichts machen, zu unglaublich schienen die Vorwürfe, zu mächtig die Angegriffenen. 

In diese Blockade kam der Anruf der grossen Zeitung aus der grossen Geldstadt (eigtl. Tages-Anzeiger), die über die kommenden städtischen Wahlen im kleinen Seldwyla berichten wollte. Würden die Ameisenfreunde mit einer eigenen Liste eingreifen?

Ich unterbrach mit meiner brisanteren Geschichte von Sumpf, Gerätehandel, Korruption und getürkter Chefarztwahl. Beim Saudischen Waffenhändler wurde der Redaktor (Niklaus Ramseyer) aufmerksam, denn vor Jahren hatte er über ihn einen grossen Bericht gemacht.

Am nächsten Tag kam alles im Geldstadter Anzeiger auf der Frontseite, dasselbe gleichentags in Radio und Fernsehen, anderntags sogar in der verschlafenen Seldwyler Presse, wo ich mich mit der Aussage zitieren liess, dass die Sumpfweid ein „Tummelplatz für Scharlatane und Betrüger“ geworden sei.

Die Eiterbeule war geöffnet, turbulente Zeiten, Telefone liefen heiss, Untersuchungen auf allen Ebenen.

Der Direktor hatte bei Beschaffungen Prozente kassiert. Und mit dem Geld, das eine uralte Patientin namens Paula Herzig für bedürftige Patienten testamentarisch vermacht hatte war der Direktor mit seiner Frau an die Hundertjahrfeier der Metropolitan-Oper New York geflogen. Der Richter qualifizierte das als «niedere Gesinnung» und das gab Zuchthaus. 

Die Universität fand, dass gewisse wissenschaftliche Untersuchungen des Patensohnes und neuen Chefarztes gar nie stattgefunden hatten, die Resultatbogen enthielten nur Fantasiezahlen. Dafür wurde doppelt Rechnung gestellt, nicht nur an die auftraggebende Pharmafirma, sondern auch an die soziale Krankenkasse der untersuchten Patienten. Der neue Chefarzt wurde auch entfernt.

Der lebenslustige Chirurg, der seine Klinik im Sommerhalbjahr jeweils per Satellitentelefon von der Yacht in der Karibik aus geleitet hatte pensionierte sich freiwillig.

Auch ich bekam mein Fett ab: Vier Mitglieder der Belegschaft klagten mich ein. Mein Fehler war, dass ich alles, was ich an Informationen erfuhr vorzu an den Untersuchungsrichter weiterleitete, aus Angst, vielleicht einmal zusammengeschlagen und ohne Gedächtnis in einem Strassengraben zu enden. Schliesslich hatte man es mit Kriminellen zu tun.

Einige der Informationen waren falsch und das wurde eingeklagt. Eine Meute von vier Seldwyler Spitzenanwälten stand mir vor Gericht gegenüber. Sie plusterten sich im Namen wohlanständiger, gutbürgerlicher Rechtschaffenheit auf, wie die Truthähne. Der neue Chefarzt klagte gegen die Aussage „Sumpfweid als Tummelplatz für Scharlatane und Betrüger“ und blitzte ab. Aber die Oberschwester und ein anderer Beteiligter bekamen Recht und bei ihnen muss ich mich wirklich entschuldigen. Obschon mir ehrenhafte Beweggründe zugestanden wurden, betrug die Busse zehntausend Franken. Schadenfreudig frohlockte einer der Truthähne, dass ich jetzt Kartoffeln fressen könne. Empörte Arztkollegen sammelten innert weniger Wochen das Geld für die Busse. Dagegen wollten die Truthähne auch noch klagen, aber das Zahlen einer Busse für Drittpersonen ist nicht strafbar.  

Einer dieser vier Anwälte vertrat später jahrelang FDP und die wohlanständige, gutbürgerliche Rechtschaffenheit als Richter am obersten Landesgericht.

Wir im Vorstand wählten einen neuen Chefarzt, der uns allen den soliden Eindruck wohlanständiger, gutbürgerlicher Rechtschaffenheit machte.

Neulich kamen jedoch brisante Nachrichten, wiederum aus Geldstadt: Die dortige Feiertagszeitung enthüllte, dass dieser Chefarzt sich für jeden Herzpatienten, den er zur Behandlung an Privatspitäler weiterwies Geld aufs Privatkonto rückvergüten liess, 1005 Franken pro Herzinfarkt und 1072 Franken für einen Herzklappeneingriff. Vor Jahren deswegen von seinem Spitalvorstand zur Rede gestellt habe er eingeräumt, dass dies „rechtliche Fragen und sozialpolitischen Sprengstoff“ aufwerfe. Er zahlte einmalig den fünfstelligen Betrag zurück, den er in diesem Jahr erhalten hatte. Dafür entging er einer Untersuchung oder Meldung an die Gesundheitsdirektion. Von den Zahlungen in den Vorjahren redete niemand. Und Zahlungen liefen danach trotzdem weiter, lediglich auf ein anderes Konto. Merkwürdig.

Der neue Geldstadter Bericht zwang die Seldwyler Gesundheitsdirektion nun doch zu einer Untersuchung. Aber bekanntlich heisst in Seldwyla eine Untersuchung noch lange nicht, dass etwas gefunden werde, selbst wenn etwas zu finden wäre. Und selbst wenn etwas gefunden würde, hätte es ja immer noch Platz in besagtem Schrank. Jedenfalls hat man seither nichts mehr davon gehört. 

Solche Vorgänge sind nun denn doch schon ein ganz klein bisschen verunsichernd. Konnte es sein, dass man die Eiterbeule umsonst aufgestochen hatte?  Wenn es gelungen war, den korrupten Direktor und den Patensohn aus dem Sattel zu heben, war es auch gelungen, den Geist auszutreiben, der hier regierte? Oder war gegen diesen Geist nichts zu machen? Hatte der alte Professor der Gerichtsmedizin womöglich sogar recht behalten?

Ich bin seither nicht mehr so sicher, dass sich in Seldwyla ein öffentliches Spital ordnungsgemäss betreiben lässt. Und ich bin auch nicht mehr so sicher, ob ich noch einmal antreten würde, gegen die versammelte, wohlanständige, gutbürgerliche Rechtschaffenheit.