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Freitag, 20. November 2020

Tabus und infantile Illusionen in der Umweltfrage

(Nach einem Vortrag vom 3.10.2020, zuerst erschienen im Journal21 vom 20.11.2020, update am 26.8.2021)

Prof. John Schellnhuber, der Berater der Deutschen Kanzlerin und des Papstes und der Erfinder des Zweigradziels zeigte uns vor drei Jahren sein Potsdamer Klimainstitut. Am Schluss, in seinem Büro, das einst Einstein benutzt hatte, meinte er zusammenfassend, er sehe nicht, wie die Menschheit sich noch aus dieser Klimafalle befreien könne.

Schellnhuber ist ja oft in den Medien, aber das hatte man von ihm öffentlich nie gehört - Anlass, der Frage nachzugehen, wie ernst es denn tatsächlich sei.

Ich bin kein Klimaspezialist, aber als Arzt beherrscht man sowieso immer nur Teilgebiete und notgedrungenerweise muss man auf verschiedene andere Spezialisten hören und mit ihnen zusammenarbeiten. Auch ist man gewohnt, mit Ungewissheiten umzugehen: Wenn ein Arzt z.B. eine Operation erwägt, so schätzt seine Erfolgsaussichten anhand von Alter, Ernährungs- und Kräftezustand des Patienten, Vorkrankheiten und Moral. Jeder Risikofaktor mindert die Erfolgsaussicht. Man kann nichts genau berechnen, aber das entbindet nicht von einer Abschätzung.  

In der Klimadiskussion wird oft gesagt, wie schwierig es sei, weil man nichts genau wisse. Aber auch hier entbindet die Ungewissheit nicht von einer Abschätzung. Zwar werden wir dabei von allerlei Tabus und Illusionen behindert, aber ich erzähle mal, was ich herausgefunden habe:  

Ich bin in Basel aufgewachsen und dort hängt im Museum der tote Christus, gemalt von Holbein vor 500 Jahren. 

 


Das Bild hat mich als junger Mensch tief beeindruckt und ich hatte es jahrelang über meinem Schreibtisch. Dieser gnadenlos realistische Blick auf unseren Gott, auf seine Passion und auf unser aller Ende. Ich war und bin überzeugt, dass wir unsere Handlungen an dem Moment messen müssen, wo wir selber in diesem Zustand sind. Bis dahin gilt es, das, was wir tun möglichst gut zu tun und keine Zeit zu verlieren. Und schon sind wir beim ersten Tabu, dem Tod. Weil er im vorherrschenden Bewusstsein verdrängt ist, kann vieles, was mit ihm zusammenhängt nicht gesehen werden.


Einige Prinzipien der Medizin... 

Ich habe dann in Zürich Medizin studiert, und da konnte man einige Prinzipien lernen:

  1.      Krankheiten beginnen oft im Geheimen: Erste Krankheitssymptome sind oft nicht der Beginn, sondern den letzte Akt. Ein Trinker oder ein Raucher braucht Jahrzehnte, um Leber oder Lunge zu ruinieren, das geht unbemerkt, weil das Organ kompensieren kann. Wenn dann Gelbsucht oder Atemnot auftritt, geht es nicht mehr viele Jahrzehnte, sondern eher Jahre.
  2.      Krankmachende Faktoren können sich mehr als addierenGemäss einer grossen epidemiologischen Studie tritt z.B. pro Monat bei ca. einem Prozent der Gesamtbevölkerung eine Depression auf. Kommt ein schwerer Belastungsfaktor (Tod eines Familienangehörigen, Kündigung, Krankheit etc.) dazu, so gibt es zwei Prozente mehr, also drei Prozent Depressionen, bei zwei Belastungsfaktoren schon drei Prozent mehr. Bei drei gleichzeitigen Belastungsfaktoren werden schon 24 Prozent depressiv. Plötzlich multiplizieren sich die Risiken (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/9824167/).
  3.      Für Patienten und Versicherungen müssen wir oft Prognosen über Jahre und Jahrzehnte machen. Das geht, solange sich Krankheiten treu bleiben: Wenn ein Patient mit Multipler Sklerose nach zehn Jahren nur ganz leicht behindert ist, wird er wohl auch nach weiteren zehn Jahren noch nicht im Rollstuhl sein.  
  4.      Richtungsändernde Verschlimmerungen in Krankheitsverläufen z.B. bei Bluthochdruck oder bei Hochdruck im Auge (Glaucom) erkennt man daran, dass sich plötzlich Höchstwerte in rascher Folge häufen: Damit tritt die Krankheit in ein progressives Stadium ein und entzieht sich u.U. der Kontrolle. 
  5.      Selbstverstärkende Mechanismen können zu hyperakuter Verschlimmerung führen. Das gefürchtete Beispiel dafür ist die Verengung der Aortenklappe, der Klappe der Hauptschlagader. Das Herz erzeugt zunächst mehr Kraft und drückt genug Blut durch die Klappe, die Patienten können sogar Leichtathletik betreiben. Das geht, bis die Klappe so eng ist, dass das Herz nicht mehr genug Blut für seinen eigenen Energiebedarf kriegt, das führt zu Herzversagen und Tod innert Sekunden, Sekundenherztod. Vor solch selbstverstärkenden Mechanismen haben wir Ärzte panische Angst, weil sie unvoraussehbar und unbeherrschbar sind.  
  6.      Es gibt in unserem Beruf Autoritäten. Das sind Ärzte, die wiederholt Diagnosen gestellt haben, die alle anderen verpasst haben. Das spricht sich herum, solche Kollegen haben einen sagenhaften Ruf, und denen glaubt man mit Vorteil, auch wenn man nicht ganz nachkommt. 
  7.      Schummeln gilt nicht. Wenn Patient stirbt kommt der Pathologe oder der Gerichtsmediziner. Die sind gnadenlos. 


...Angewandt auf die Umweltsituation 

1972 wurden wir durch den Bericht des Club of Rome schockiert. Was man damals wusste hat man in einen Grosscomputer gefüttert. Es kam heraus, dass sich die Ökosysteme Mitte des 21. Jahrhunderts destabilisieren werden, wenn wir nicht mit dem Wirtschaftswachstum aufhören und die Bevölkerung auf vier Milliarden stabilisieren. Der Bericht nennt schon den Treibhauseffekt mit der Hoffnung, dass man noch eine Lösung finde. Die Modellrechnungen sagten, dass nicht eine Verknappung an Ressourcen oder an Boden der limitierende Faktor sei, sondern die Umweltverschmutzung. Alle die, wie z.B. Wirtschaftsredaktor Dr. Eisenring von der NZZ behaupten, der Club of Rome habe eine Ressourcenverknappung vorausgesagt und sei deshalb unglaubwürdig (https://www.nzz.ch/meinung/ewiges-wachstum-ist-kein-hirngespinst-ld.1564968), alle, die solches behaupten lügen, oder sie haben den Bericht nicht gelesen. Später hat der Club of Rome mit Hängen und Würgen korrigiert, dass es vielleicht mit einer Erdbevölkerung von 8 Milliarden auch gerade noch gehen könnte, dabei aber ausdrücklich gesagt, dass man die Folgen der menschlichen Aggressivität nicht modellieren könne.   

1988 stellte James Hansen erstmals fest, dass der Treibhauseffekt sich in einer nachweisbaren Erderwärmung zeige und er sagte mit einem noch primitiven Modell die weitere Erwärmung voraus, und zwar bis heute ziemlich genau. Dieser Mann ist eine Autorität. Wenn er heute die offiziellen Prognosen und Massnahmen in Frage stellt, muss das zu höchster Sorge Anlass geben. 

James Hansen wird in Handschellen abgeführt 


Illusionen zur Erderwärmung

Die Pariser Verträge von 2015 wollten die Temperaturerhöhung gegenüber dem vorindustriellen Wert auf 1,5 bzw. 2 Grad limitieren. Und Grüne in der Schweiz und in Deutschland reden noch 2021 davon, dass und wie man dieses Ziel erreichen wolle und da sind wir schon mitten in den Illusionen:  

Erste Illusion: Schon bei Abschluss der Pariser Verträge war klar, dass das 1,5 Grad-Ziel unerreichbar ist. James Hansen - meine Autorität - spricht von einem fake-Abkommen. Bei Einhaltung aller Abmachungen würde dieTemperatur um 2,4 Grad steigen, über Land mehr. Überdies rechnet das Abkommen mit grosstechnischer Abscheidung von CO2 aus der Luft, was James Hansen und andere Experten als illusionär bezeichnen (http://www.columbia.edu/~jeh1/mailings/2018/20181206_Nutshell.pdf, S. 44ff und https://www.nature.com/articles/s41467-018-05938-3). 

Zweite Illusion: Nur eine Minderheit der Staaten hält das Abkommen ein. Damit sind wir gemäss Berechnungen auf einem Weg von 3,2 Grad global bis 2100, d.h. wiederum über Land mehr. 

Soweit die gängigen Voraussagen.

Darüber gibt es die dritte Illusion, nämlich, dass das alles Alarmismus und Hysterie sei.

Noch weiter verbreitet ist die vierte Illusion, dass die bisher gemachten Aussagen die ganze Wahrheit seien. Leider trifft das nicht zu.   

Fünfte Illusion: Viele denken, der Temperaturanstieg sei und bleibe linear. Aber dass er immer schneller geht sieht man von blossem Auge:

Julitemperaturen seit 1880

Sogar das IPCC krankt an dieser Illusion: 2018 verlegte das IPCC den Anstieg um  1,5 Grad von 2100 auf 2040. Sofort kam Einspruch von amerikanischen Klimatologen: Das IPCC hatte vergessen, dass die Treibhausgase ab heute weiter steigen. Damit kommen die 1,5 Grad schon 2030, eine Vorverschiebung von 70 Jahren in einigen Jahren (https://www.nature.com/articles/d41586-018-07586-5). Und das IPCC nimmt als Ausgangswert für die Erwärmung 1850-1900. Dabei hat diese hundert Jahre vorher begonnen, und damit haben wir die 1,5 Grad Erwärmung wahrscheinlich schon jetzt fast erreicht. Mit weiterer Beschleunigung ist zu rechnen.   

Die sechste Illusion ist, dass der Treibhausmechanismus die ganze Story sei. Das wäre schlimm genug, aber es gibt zusätzlich viele positive Rückkoppelungs­mechanismen, welche die Lage verschlimmern. Die gehen zwar langsam, waren aber nach Hansen in der bisherigen Erdgeschichte immer matchentscheidend (http://www.columbia.edu/~jeh1/mailings/2018/20181206_Nutshell.pdf). Und damit, dass diese Rückkopplungen jederzeit zu einem Kippen der Situation führen können wurde das  1,5 bzw. 2-Gradziel überhaupt begründet. Das IPCC rechnet die Rückkopplungen nicht ein, weil sie nicht genau voraussagbar seien. Wie einleitend gesagt machen mir als Arzt solche Rückkopplungen mehr Angst alles andere, weil sie schon einzeln unbeherrschbar werden können, weil sie alle in die falsche Richtung gehen, und weil sie sich nicht nur addieren, sondern möglicherweise auch multiplizieren können. Das kann die Entwicklung auf Jahre verkürzen.  

Die siebte Illusion ist, dass die CO2-Konzentration nur davon abhänge, wieviel wir in die Luft blasen.  Nun wurde der CO2-Ausstoss aber bisher zu knapp einem Drittel vom Ozean aufgenommen, was zwar zu Versauerung und Problemen für die Meerestiere führte, uns aber entlastete. Nur kann ein wärmerer Ozean nicht mehr soviel CO2 aufnehmen (https://www.weforum.org/agenda/2019/03/oceans-do-us-a-huge-service-by-absorbing-nearly-a-third-of-global-co2-emissions-but-at-what-cost). 

Ähnlich die Bäume und die Vegetation an Land und im Ozean: Sie nahmen bisher auch knapp einen Drittel des ausgestossenen CO2 auf. Ein Grossteil der CO2-Kompensationsprogramme funktioniert mit tatsächlichem oder behauptetem Aufforsten. Schon jetzt verlieren wir Wald durch Abholzen und Brände, und mit einem Temperaturanstieg von 4 Grad wird ein grossflächiges Absterben der Bäume vorausgesagt (https://science.sciencemag.org/content/368/6488/261/), wie es jetzt bei den Korallenriffen stattfindet. Damit wird die Vegetation vom CO2-Puffer zum CO2-Produzenten. Der Deutsche Klimapapst Schellnhuber sagt dazu: "Wir töten unsere besten Freunde" (https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/interview-hans-joachim-schellnhuber-klimawandel-100.html). Kompensationen durch Aufforsten werden nichtig und der CO2-Ausstoss wird zum Selbstläufer, selbst bei Netto Null! 

Die achte Illusion war, dass das Eis langsam schmelze. In der Arktis geht es schneller, als gedacht (https://www.weforum.org/agenda/2020/08/arctic-sea-ice-global-warming-climate-change-predictions/). Nach Abschmelzen von Schnee und Eis nimmt die Rückstrahlung der Erde derart ab, dass wir zur Erwärmung noch bis zwanzig Prozent zurechnen können. Das bringt uns bis 2100 nicht auf über 3 sondern auf über 4 Grad, über Land mehr. 

Die neunte Illusion war bis vor wenigen Jahren, dass der Permafrost in Sibirien und anderswo erst gegen Ende des Jahrhunderts auftaue. Er taut schon jetzt (https://www.nationalgeographic.com/environment/2019/08/arctic-permafrost-is-thawing-it-could-speed-up-climate-change-feature/), und seit einigen Jahren sprudelt das Methan dort und anderswo aus erwärmten Böden und steigt in der Atmosphäre rasch an. Methan als kurzlebiges aber sehr starkes Treibhausgas kann die Erwärmung akut beschleunigen und die Selbstverbrennung zu einer Frage von Jahren machen. 

Die zehnte Illusion war, dass das alles sei. Aber neuerdings sagen mehrere Klimamodelle eine Abnahme der Wolkendecke voraus, was die Erwärmung weiter beschleunigen könnte (https://e360.yale.edu/features/why-clouds-are-the-key-to-new-troubling-projections-on-warming). 

Die elfte Illusion ist, dass alles langsam geht. Aber erdgeschichtlich ist das Tempo der jetzigen Veränderungen nie dagewesen. Zehnmal schneller als die schnellsten Veränderungen in den letzten 65 Millionen Jahren (https://news.stanford.edu/news/2013/august/climate-change-speed-080113.html), Tempo zunehmend. Seit 2019 wurden Hunderte von Temperaturrekorden gebrochen, mit mehreren Monatshöchstwerden und 2020 war das wärmste je gemessene Jahr. Als Arzt schaut man eine solche Entwicklung mit grösster Besorgnis an, weil sie den Verdacht auf bösartige Beschleunigung untermauert.  

Zwölfte Illusion: Alles redet vom Klima. Dabei haben wir noch ein zweites Problem, das Artensterben, das ebenfalls in einem Tempo abläuft, das erdgeschichtlich ausserordentlich ist und das für uns genauso bedrohlich ist. Es ist vorerst noch ziemlich unabhängig vom Klima (https://phys.org/news/2020-09-humans-climate-driven-rapidly-mammal.html): Denn die bisherigen Hauptgründe sind Bejagung, sowie Verlust und Vergiftung der Lebensräume durch stetig ausgedehnte menschliche Population und Aktivität. E.O. Wilson, der grosse Biologe, meint, dass man die Hälfte der Erde für "wildlife" reservieren müsste, wenn man das Artensterben aufhalten wolle.  


Wie der Arzt vor der Operation

Die ersten Krankheitssymptome der Erde sind allenthalben zu sehen, Dürren, Brände, Gletscherschwund, Artenverlust. Als Arzt sieht man das nicht als Beginn, sondern als Anfang vom Ende (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html). Die Biosphäre kann nicht mehr kompensieren. 

Und wir sehen eine Vielzahl von ursächlichen Faktoren: CO2, Methan, Wasserdampf, Wolkenverlust, Ozeanversauerung, Pestizide, Verlust von Lebensräumen. Als Arzt weiss man, dass sich die Folgen nicht nur addieren sondern manchmal unvorhersehbar multiplizieren können.  

Was den Arzt vor allem panisch macht sind die mehrfachen selbstverstärkenden Mechanismen: Eisschmelze, Methanfreisetzung, CO2-Freisetzung durch Waldbrände, Waldsterben, Boden- und Ozeanerwärmung. Gegen den Hebel solcher selbstverstärkender Mechanismen hat man schon wenig Handhabe, wenn sie einzeln auftreten (man denke an die Aortenstenose), geschweige denn, wenn sie zusammenwirken und sich möglicherweise noch multiplizieren. Die nachweisliche Beschleunigung der Erwärmung und die neuliche Häufung von Höchstwerten sprechen dafür, dass der Verlauf schon jetzt eine Richtungsänderung zum Schlimmeren nimmt.  

Die 1,5- oder 2-Grad bis 2100 sind leeres Gerede, das Pariser Abkommen ist ein fake, ein falsches Alibi, weil es nicht einmal eingehalten wird. Viele Regierungen verschlimmern die Situation (Russland, Australien, Brasilien, Indien, bisher auch USA). Nur mit grösstem Glück werden wir am Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung von etwas über drei Grad haben, aber auch das ist nicht wahrscheinlich, denn die selbstverstärkenden Feedbacks sind alle schon angesprungen. So reden einige schon von vier, fünf oder mehr Grad. Das heisst über Land immer noch mehr, und das kann die menschliche Zivilisation nicht überleben. Und ein Grossteil der Biosphäre auch nicht. Wenigstens weiss ich jetzt, wieso Schellnhuber keinen Ausweg sieht. 

Schon vier Grad Globalerwärmung heissen für Johan Rockström vom Potsdam Institut bei Berlin, dass die Erde vielleicht noch vier Milliarden Menschen tragen könne, vielleicht auch weniger (https://www.theguardian.com/environment/2019/may/18/climate-crisis-heat-is-on-global-heating-four-degrees-2100-change-way-we-live). Das heisst flächendeckende Kriege, wo alte Muster von Kampf um Lebensraum wiedererwachen werden, um Lebensraum, der immer knapper und schliesslich nicht mehr verfügbar sein wird. 

Dass das alles nicht gesehen werden kann ist zunächst eine Folge der erwähnten Illusionen – in den Worten von Christian Morgenstern’s «Palmström» würde man sagen: «Also schliesst er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf». Aber solches Denken ist undiszipliniert und infantil, man könnte es einem Siebenjährigen verzeihen, nicht einem verantwortlichen Erwachsenen.

Dass uns die Realitätskontrolle derart entglitten ist, hat aber vielleicht noch den tieferen Grund, dass der Tod im Bewusstsein weitgehend tabuisiert ist. So können wir ihn nicht erblicken, obschon er uns ins Auge starrt. Idioten wie Köppel mache ich nicht einmal einen Vorwurf. Wohl eher den Klimatologen, die so tun, wie wenn es einen Ausweg geben würde, obschon sie es anders wüssten. Und den Grünen, die die Probleme nicht zu Ende denken und immer noch vom 1,5 Gradziel faseln, das ist Wählerbetrug.  


Abschied von Tabus

Last but not least kommen wir zum zweiten Tabu: Niemand will die Tatsache sehen, dass wir zu viele sind. Auch das ein Tabu, weil wir Fortpflanzungsmaschinen sind. Fortpflanzung ist uns als heiligstes und oberstes Ziel einprogrammiert. Deshalb möchten sich auch viele - z.B. unsere Grünen - in der Illusion wiegen, dass Verzicht genüge. 

Zugegeben, nur die Wohlhabenden machen die Umweltbelastung. Die zehn Prozent Wohlhabendsten wohl fünfzig Prozent der Verschmutzung, die 50 Prozent der Wohlhabenderen fast den ganzen Rest. Aber ein Grossteil des Ressourcenverbrauchs und der Verschmutzung ist dadurch erzwungen, dass zu viele Menschen in geballten Megastrukturen leben müssen, welche energiefressende Transporte brauchen. 

Einige sehen die Lösung darin, die Privilegien der obersten 10 Prozent zu eliminieren, der Rhetorik nach könnte man sogar schliessen, dass sie am liebsten die obersten 10 Prozent der Privilegierten eliminieren möchten – z.B. mit der Guillotine, nach altem revolutionärem Brauch. Aber auch die halbe Belastung wäre zu viel. Deshalb müsste man die wohlhabendere Hälfte guillotinieren, da wären wir Schweizer schon alle dabei. Aber auch das würde nur nützen, solange die verbleibende Hälfte sich nicht auch vermehren und wohlhabend werden will, mit Industrie, Fleischkonsum, Autos, Flugzeugen, wie es zum Beispiel jetzt gerade in Indien und vielen anderen Staaten geschieht, denn der edle Wilde ist nur eine weitere unserer Illusionen. 

Viele Menschen, die nicht durch Geburtenkontrolle vermieden werden, werden durch Mord, Totschlag, Hunger und Seuchen ihr Leben lassen müssen. Das ist eine weitere Realität, der wir ins Auge schauen müssten. Humaner wären zwei Generationen Einkindfamilie. 

Mittwoch, 12. August 2020

Die Lebenden werden die Toten beneiden

(Zuerst publiziert in www.Journal21.ch vom 12.8.2020)

In der New York Review of Books, 20. August 2020 (-> link to original article) bespricht Bill McKibben das Buch «The last warning: Six degrees climate emergency» («Die letzte Warnung: Sechs Grad Klimanotfall») von Mark Lynas, London: 4th Estate, 372 S., 27,99 USD. Hier diese Besprechung in deutscher Übersetzung: 

54 Grad Celsius

Durch COVID bekommen wir einen Begriff von einer umfassenden globalen Krise, die alles stört: Das normale Leben - Lebensmittel einkaufen, Hochzeit halten, zur Arbeit gehen, die Eltern sehen – alles verändert sich dramatisch. Die Welt fühlt sich anders an, und jede Annahme über Sicherheit und Vorhersehbarkeit ist auf den Kopf gestellt: Wirst du einen Job haben? Wirst du sterben? Wirst du jemals wieder mit der U-Bahn fahren oder ein Flugzeug nehmen? Es ist alles anders, als wir jemals gesehen haben.

Der Umbruch durch Covid-19 ist auch eine Art Generalprobe für die globale Erwärmung. Weil die Menschen die physische Funktionsweise des Planeten Erde grundlegend verändert haben, gehen wir einem Jahrhundert von Krisen entgegen, von denen viele gefährlicher sind als das, was wir jetzt durchleben. Hauptfrage ist, ob wir den Temperaturanstieg so eingrenzen können, dass wir diese Krisen wenn auch mit Aufwand und Leid bewältigen können, oder ob unsere Zivilisation überwältigt wird. Letzteres ist eine eindeutige Möglichkeit, wie Mark Lynas neues Buch «Our Final Warning» schmerzlich deutlich macht.

Lynas ist ein britischer Journalist und Aktivist. 2007 veröffentlichte er im Vorfeld der Klimakonferenz in Kopenhagen ein Buch mit dem Titel «Sechs Grad: Unsere Zukunft auf einem heißeren Planeten». Das neue Buch erinnert an die frühere Arbeit, die schon keineswegs fröhlich war. Aber weil Wissenschaftler im letzten Jahrzehnt das Verständnis der Erdsysteme dramatisch verbessert haben, während unsere Gesellschaft dasselbe Jahrzehnt dazu verschwendete, um immer mehr CO2 in die  Atmosphäre zu pusten ist dieses Buch weit, weit dunkler. Lynas stützt sich auf solide Quellen und eine breite Palette veröffentlichter Forschungsergebnisse. Eröffnend sagt er, dass er lange davon ausgegangen sei, dass wir „den Klimawandel wahrscheinlich überleben könnten. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher."

Die Nationen, welche fossile Brennstoffe in großen Mengen verbrauchen, haben die Temperatur des Planeten seit der industriellen Revolution um mehr als ein Grad Celsius angehoben. Die Marke wurde 2015 überschritten, zufällig auch das Jahr, in dem wir in Paris die ersten wirklichen globalen Abkommen über Klimaschutzmaßnahmen erreicht haben. Ein Anstieg um ein Grad klingt nicht nach viel, aber es ist viel: Jede Sekunde fangen der Kohlenstoff und das Methan, die wir abgegeben haben, Wärme ein, die der Explosion von drei Hiroshima-Bomben entspricht. Seit 1959 wird auf dem  Vulkan Mauna Loa in Hawaii die Kohlendioxidkonzentration erfasst. Ende Mai dieses Jahres war ein neues Rekordhoch von etwa 417 ppm CO2, das sind 100 ppm mehr als zur Zeit unserer Ururgrosseltern, und mehr, als es in den letzten drei Millionen Jahren je gegeben hat (ppm = parts per million).

Während wir fahren, heizen, beleuchten und bauen, geben wir jährlich etwa 35 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre ab. Momentan nehmen Ozeane und Wälder etwas mehr als die Hälfte davon auf, aber diese Gnade wird in Zukunft nicht anhalten, und auf jeden Fall bedeutet dies, dass wir der Luft jährlich etwa 18 Milliarden Tonnen hinzufügen . Dies ist bei weitem der wichtigste Einflussfaktor  für die Zukunft des Planeten.

Der Schaden, der bei einem Grad Erwärmung angerichtet wurde, ist beunruhigend und liegt in fast allen Fällen über dem, was Wissenschaftler vor dreißig Jahren vorhergesagt hatten (Wissenschaftler sind halt von Natur aus vorsichtig).  Lynas nimmt uns auf eine Horrortour,  von Grönland (wo die Eisschmelze bereits auf dem Niveau liegt, das einst für 2070 vorhergesagt wurde); in die Wälder der Welt (auf der ganzen Welt hat die Dauer der Waldbrandsaison um ein Fünftel zugenommen); in städtische Gebiete in Asien und im Nahen Osten, in denen in den letzten Sommern die höchsten zuverlässig gemessenen Temperaturen auf der Erde gemessen wurden, gegen 54 Grad. Das ist die Welt mit einem Grad Erwärmung, in der ein Gürtel aus gebleichten Korallen über den Tropen zu sehen ist - ein 90-prozentiger Zusammenbruch entlang des Great Barrier Reef, der größten lebenden Struktur des Planeten – oder die entsetzlichen Szenen aus Australien wo im Dezember Menschen ins Meer wateten,  um den Feuerstürmen zu entkommen.

Das wäre einmal die Ausgangsbasis. Wir werden definitiv nicht cooler. Aber betrachten wir jetzt das eigentliche Problem, die zukünftige Entwicklung, welche Wissenschaftler seit vielen Jahren zu vermitteln versuchen, welche aber weder in der Öffentlichkeit noch bei den politischen Führern wirklich angekommen ist. In den Worten von Lynas:

«Auf dem aktuellen Erwärmungspfad könnten wir bereits Anfang der 2030er Jahre zwei Grad Globalerwärmung haben, die drei Grad um Mitte des Jahrhunderts und vier Grad bis 2075. Wenn wir mit positiven Feedbackschleifen Pech haben - vom Auftauen des Permafrosts in der Arktis bis zum Zusammenbruch tropischer Regenwälder - könnten wir bis zum Ende des Jahrhunderts fünf oder  sechs Grad Globalerwärmung erreichen».

Das ist ein lesenswerter Absatz, eine unverbrämte Zusammenfassung der verfügbaren Wissenschaft (eine  Anfang Juli veröffentlichte Studie schätzt, dass wir die 1,5-Grad-Schwelle bis 2025 überschreiten könnten). Diese Sicht ist keinewegs abwegig und sie impliziert eine unvorstellbare Zukunft. Zwei Grad sind nicht doppelt so schlecht wie ein Grad, oder drei Grad dreimal so schlecht. Denn der Schaden nimmt nicht linear mit der Temperatur zu, sondern eher exponentiell, wobei bei steigender Temperatur jederzeit unvorhersehbare Kippunkte drohen. (Anmerkung des Übersetzers: eine bestimmte Globalerwärmung heisst ca. das doppelte oder mehr über den Landmassen, wo die Kühlung durch das Meer entfällt). 

Aber haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt im Pariser Klimaabkommen nicht  verpflichtet, den Temperaturanstieg auf „weit unter“ zwei Grad Celsius und so nahe wie möglich an 1,5 Grad zu halten? Sie taten es - in der Präambel. Aber dann fügten sie ihre tatsächlichen Zusagen Land für Land hinzu. Als Wissenschaftler diese Versprechen zusammenfassten - Emissionen zu senken, erneuerbare Energien aufzubauen, Wälder zu retten - und sie in einen Computer einspeisten, spuckte der die Nachricht aus, dass wir bei Einhaltung des Pariser Abkommens in diesem Jahrhundert auf eine Globalerwärmung um etwa 3,5 Grad zusteuern. Und nicht genug Länder halten die Pariser Versprechen - tatsächlich haben sich unsere USA, die in den letzten zwei Jahrhunderten weitaus mehr Kohlenstoff produziert haben als jedes andere Land, vollständig von den Abkommen zurückgezogen, angeführt von einem Präsidenten, der den Klimawandel als Scherz bezeichnet. Der En-ROADS-Online-Simulator, der von Climate Interactive, einem gemeinnützigen Think Tank, entwickelt wurde, sagt voraus, dass wir in diesem Jahrhundert einen globalen Temperaturanstieg von 4,1 Grad  erwarten können. Alles in allem ist Lynas 'sorgfältige schrittweise Analyse eine direkte Prognose für unsere Zukunft, und gleichzeitig eine Höllentour, es sei denn, wir ergreifen Massnahmen in einem Maßstab, den derzeit nur wenige Nationen planen.

Folgen wir Lynas auf dieser Tour in die Hölle:

Bei einer um zwei Grad erhöhten Globaltemperatur sind sagt die Wissenschaft ziemlich sicher einen im Sommer eisfreien Arktischen Ozean voraus. Schon jetzt hat der Eisverlust im Norden die Wettersysteme dramatisch verändert, den Jetstream geschwächt und die Wetterverhältnisse in Nordamerika und anderswo destabilisiert. 

Bei den zwei Grad könnten 40 Prozent der Permafrostregion abschmelzen, unter massiver Freisetzung von Methan und CO2, was uns näher an die drei Grad bringen würde. Aber wir greifen vor: Zwei Grad werden wahrscheinlich auch den irreversiblen Verlust der Westantarktischen Eisdecke auslösen. Selbst vorsichtige Schätzungen des resultierenden Meeresspiegelanstieges lassen erwarten, dass dadurch 79 Millionen Menschen vertrieben werden. Und der Schutz gefährdeter Städte entlang der Ostküste der USA hinter Deichen und Mauern würde bis zu 1 Million US-Dollar pro Person kosten. Lynas folgert: «Ich vermute, niemand wird mit so hohen Kosten für Deiche bezahlen wollen, und die am stärksten gefährdeten (und ärmsten) Gemeinden werden einfach aufgegeben».

Früher hofften die Forscher, dass eine Erwärmung um zwei Grad die Lebensmittelproduktion tatsächlich leicht steigern könne, aber „jetzt sehen diese rosigen Erwartungen gefährlich naiv aus.“ Lynas zitiert jüngste Studien, in denen vorausgesagt wird, dass zwei Grad die globale Lebensmittelverfügbarkeit um etwa 99 Kalorien pro Kopf und Tag verringern werden – und auch diese Last wird selbstverständlich nicht gleichmäßig oder gerecht verteilt werden.

Städte werden stetig heißer: Die derzeitige Erwärmung bedeutet, dass sich alle Menschen auf der Nordhalbkugel mit einer Geschwindigkeit von etwa 19 km pro Jahr effektiv nach Süden bewegen. Das ist ein halber Millimeter pro Sekunde, was mit bloßem Auge eigentlich leicht zu erkennen ist: „Ein sich langsam bewegendes riesiges Förderband“, das uns „immer tiefer in die Subtropen transportiert, mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Sekundenzeiger einer kleinen Armbanduhr . ”

Aber dieser statistische Durchschnitt maskiert Extreme: Wir können immer stärkere Hitzewellen erwarten, so dass beispielsweise in China Hunderte Millionen Menschen mit Temperaturen umgehen müssen, denen sie noch nie zuvor begegnet sind. Die natürliche Welt wird dramatisch leiden - 99 Prozent der Korallenriffe werden wahrscheinlich sterben: Eine der faszinierendsten (und produktivsten) Ecken der Schöpfung wird auf „abgeflachte, algenbedeckte Trümmer“ reduziert.

Wenn wir darüber hinaus zu drei Grad Globalerwärmung gehen, "wird das unsere Zivilisation bis zum Zusammenbruch belasten." Die drei Grad bringen uns auf ein Niveau globaler Hitze, das noch kein Mensch erlebt hat – letztmals so warm war es vor drei Millionen Jahren im Pleistozän.

In seinem ersten Buch berichtete Lynas, dass Wissenschaftler den Zusammenbruch der Westarktischen Eisdecke bei vier Grad erwarteten. Wie oben ausgeführt erwartet man den Zusammenbruch heute  früher, bei zwei Grad Erwärmung ist er eine tödliche Möglichkeit, bei drei Grad eine Gewissheit. Höhere Meeresspiegel bedeuten, dass Sturmfluten wie der Superstorm Sandy vom Jahr 2012 durchschnittlich dreimal im Jahr zu erwarten sind.

In einer Dreigrad-Welt werden die rekordverdächtigen Hitzewellen von 2019 „als ungewöhnlich kühler Sommer gelten“. Über eine Milliarde Menschen würden in Zonen des Planeten leben, "in denen es unmöglich wird, außerhalb künstlich gekühlter Umgebungen sicher zu arbeiten, selbst im Schatten". Der Amazonas stirbt,  der Permafrost bricht zusammen. Die Veränderung verstärkt sich selber: Bei drei Grad wird die Reflexion des Planeten stark vermindert, weil weißes Eis, das den Sonnenschein zurück in den Weltraum reflektiert, durch blaues Meer oder braunes Land ersetzt wird, das diese Strahlen absorbiert und den Prozess verstärkt.

Und dann kommen die vier Grad: Der Mensch als Spezies ist damit nicht vom Aussterben bedroht - noch nicht. Aber die fortschrittliche industrielle Zivilisation mit ihrem ständig steigenden Materialverbrauch, Energieverbrauch und Lebensstandard - das System, das wir Modernität nennen – kommt ins Wanken.

In Orten wie Texas, Oklahoma, Missouri und Arkansas werden die Höchsttemperaturen jedes Jahr höher sein als die 50 und mehr Grad, die man jetzt im Death Valley findet. Drei Viertel der Weltbevölkerung werden „mehr als 20 Tage pro Jahr tödlicher Hitze ausgesetzt sein ” – in New York 50 Tage pro Jahr, in Jakarte alle Tage des Jahres. Ein „Gürtel der Unbewohnbarkeit“ wird durch den Nahen Osten verlaufen, den größten Teil Indiens, Pakistans, Bangladeschs und Ostchinas. Die Ausweitung der Wüsten wird ganze Länder "vom Irak bis nach Botswana" verbrauchen.

Je nach Studie steigt das Risiko von „sehr großen Bränden“ in den westlichen USA zwischen 100 und 600 Prozent; Das Hochwasserrisiko in Indien steigt um das Zwanzigfache. Derzeit ist das Risiko, dass die größten Getreideanbaugebiete aufgrund von Dürre gleichzeitig Ernteausfälle erleiden, „praktisch Null“, aber bei vier Grad „steigt diese Wahrscheinlichkeit auf 86%“. Riesige «marine Hitzewellen“ werden die Ozeane durchkämmen: „Eine Studie geht davon aus, dass die Meerestemperaturen in einer Welt mit vier Grad in vielen tropischen Meeresökoregionen über der thermischen Toleranzschwelle von 100% der Arten liegen werden.“ Das Aussterben an Land und auf See wird sicherlich das schlimmste seit dem Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren sein, als ein Asteroid dazu beitrug, das Zeitalter der Dinosaurier zu beenden. "Der Unterschied", bemerkt Lynas, "besteht darin, dass der" Meteor "diesmal Jahrzehnte im Voraus sichtbar war, aber wir haben uns einfach abgewandt, als er am Himmel immer größer wurde."

Wir werden nicht lange bei Lynas' Beschreibungen darüber verweilen,  was bei fünf oder sechs Grad Globalerwärmung passiert. Diese sind leider nur allzu plausibel -  besonders wenn die Menschheit sich nicht auf eine Kursänderung einigt - aber sie sind pornographisch. Wenn die Erwärmung dieses Ausmass erreicht, werden die Lebenden die Toten wirklich beneiden: Eine Welt, in der die Menschen versuchen, sich nach Patagonien oder vielleicht auf die Südinsel Neuseelands zu drängen, eine Welt, in der massive Monsune den Boden bis zum Felsen wegspülen. wo die Ozeane anoxisch oder völlig ohne Sauerstoff sind. Vergessen wer die Praezedenzfälle der Kreidezeit und der Asteroideneinschläge - bei sechs Grad nähern wir uns dem Schaden, der zu Ende des Perms eintrat, der größten biologischen Katastrophe in der Geschichte des Planeten, als vor 250 Millionen Jahren 90 Prozent der Arten verschwanden. Ist das übertrieben? Nein, denn momentan erhöhen unsere Autos und Fabriken die CO2-Konzentration des Planeten ungefähr zehnmal schneller als die riesigen sibirischen Vulkane, die damals die Katastrophe ausgelöst haben.

Angesichts der Klimakrise ist die Rückkehr zum „Normalen“ kein realisierbares Ziel - niemand wird einen Impfstoff herstellen (*). Das heißt nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben. Tatsächlich haben wir derzeit mehr Optionen als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt, aber wir müssten sie in dramatischem Umfang und mit dramatischer Geschwindigkeit einsetzen.

Zum einen haben die Ingenieure ihre Arbeit gut gemacht. Vor etwa einem Jahrzehnt begann der Preis für erneuerbare Energien zu sinken, und dieser Rückgang beschleunigt sich weiter. Der Preis pro Kilowattstunde Solarenergie ist seit 2010 um 82 Prozent gefallen. In diesem Frühjahr wurde in den sonnigen Wüsten Dubais der Zuschlag für die weltweit größte Solaranlage abgegeben, sie produziert für etwas mehr als einen Cent pro Kilowattstunde. Der Preis für Windkraft ist fast ebenso dramatisch gefallen. Jetzt rasen die Batterien die gleiche Kurve hinunter. In vielen Jahren wird es vielerorts tatsächlich billiger sein, neue Solaranlagen zu bauen, als bereits gebaute und bezahlte Gas- und Kohlekraftwerke weiter zu betreiben. (Das liegt daran, dass die Sonne die Kraft gratis liefert).

Aus diesen Gründen und aufgeschreckt durch Kampagnen setzen sich Investoren für erneuerbare Energien ein. Damit wird auch die Macht der fossilen Brennstoffindustrie geschwächt, die ihre Schlagkraft seit drei Jahrzehnten genutzt hat, um den Übergang zu neuen Energieformen zu blockieren.

Aber die Wirtschaft selbst wird uns nicht schnell genug bewegen. Trägheit ist eine mächtige Kraft - Trägheit und die Notwendigkeit, Billionen an „gestrandeten Vermögenswerten“ aufzugeben: Riesige  Öl- und Gasreserven, die derzeit den Wert von Unternehmen (und von Ländern, die sich wie Unternehmen verhalten – man denke an Saudi-Arabien) stützen, müssten im Boden belassen werden. Infrastrukturen wie Pipelines und Kraftwerke müssten lange vor Ablauf ihrer Nutzungsdauer geschlossen werden. Dieser Prozess würde wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze schaffen als beseitigen, denn fossile Energie ist in der Regel kapitalintensiv, während erneuerbare Energien arbeitsintensiver sind. Aber die politischen Systeme reagieren eher auf drohende Arbeitsplatzverluste als auf ihren möglichen Ersatz. Von den ärmsten Nationen sollte nicht erwartet werden, dass sie für den Übergang so viel bezahlen wie die reichen Nationen: Sie sind bereits belastet mit den horrenden Kosten des Meeresspiegelanstiegs und der Gletscherschmelze, zu deren Verursachung sie kaum beigetragen haben. Auch ohne Führer wie Trump ist der erforderliche Aufwand enorm - genau deshalb blieben die Zusagen der Unterzeichner in Paris so weit hinter den selbst gesetzten Zielen zurück. Und Führer wie Trump scheinen sich zu vermehren: Der Brasilianer Jair Bolsonaro kann die Klimamathematik im Alleingang umschreiben, indem er einfach weiterhin den Amazonas entwaldet. Es wird eine mächtige und andauernde Bewegung erfordern, um den Wandel zu beschleunigen.

Was Lynas 'Buch vielleicht etwas deutlicher hätte machen sollen, ist, wie wenig Spielraum wir haben, um diese Aufgaben zu erfüllen. In einer Coda schreibt er tapfer: „Es ist nicht zu spät, und tatsächlich wird es nie zu spät sein. So wie 1,5 ° C besser als 2 ° C ist, so ist 2 ° C besser als 2,5 ° C, 3 ° C ist besser als 3,5 ° C und so weiter. Wir sollten niemals aufgeben.“ Dies ist zumindest emotional unbestreitbar. Nur machen die von ihm zitierten Studien deutlich, dass zwei Grad Erwärmung Rückkoppelungen erzeugen können, die uns automatisch höher bringen. Ab einem bestimmten Punkt wird es zu spät sein. Die erste dieser Fristen könnte 2030 sein - das Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC)  teilte 2018 mit, dass wir bis zu diesem Datum eine „grundlegende Umgestaltung“ der Energiesysteme benötigen, da sonst die in Paris festgelegten Ziele unerreichbar blieben (Mit „grundlegender Transformation“ war ein Rückgang der Emissionen um 50 Prozent gemeint). Das heißt, die Jahre, in denen wir noch größte Hebelwirkung und Einfluss haben können wir unseren zehn Fingern abzählen.

Die Covid-Pandemie zeigt, wie wichtig der Zeitfaktor in solchen Krisen ist. Südkorea und die USA meldeten die ersten Fälle am selben Januartag. Amerikas Regierung und Präsident verschwendeten den Februar mit Zögern und Twittern. Und jetzt ist Seoul nahe an der Normalität, und in den USA sind wir dem Chaos nahe (An einem einzigen Julitag  meldete Florida mehr Fälle, als Südkorea in der ganzen Pandemie). Und so wie die USA den Februar verplemperten, verplemperten wir für den Planeten dreißig Jahre. Geschwindigkeit ist wichtiger denn je. Die Proteste gegen Black Lives Matter erinnern daran, dass Aktivismus erfolgreich sein kann und dass Umweltbemühungen stark mit anderen Kampagnen für soziale Gerechtigkeit verbunden sein müssen. Der von der Biden-Kampagne im vergangenen Monat angekündigte Klimaplan ist ein glaubwürdiger Start für die notwendigen Anstrengungen.

Die Pandemie gibt auch einen tauglichen Masstab dafür, wie viel wir ändern müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. In diesem Frühjahr haben wir «business as usual» eine Zeit lang beendet, fast auf der ganzen Welt - und unseren Lebensstil weitaus mehr verändert, als wir je für möglich gehalten hatten. Wir haben aufgehört zu fliegen, haben aufgehört zu pendeln, haben viele Fabriken gestoppt. Im Endeffekt sind die Emissionen gesunken, aber nicht so stark, wie man hätte erwarten können: Nach vielen Berechnungen kaum mehr als 10 oder 15 Prozent. Das deutet darauf  hin, dass der größte Teil der Faktoren, die unsere Erde zerstören, fest in unseren Systemen eingebaut und verdrahtet sind. Nur wenn wir diese Systeme angreifen - indem wir die mit fossilen Brennstoffen betriebenen Eingeweide herausreißen und durch erneuerbare Energien und weitaus effizientere  Techniken ersetzen, können wir die Emissionen so weit senken, dass wir eine Chance haben. Und zwar – das macht Lynas leider klar - nicht die Chance, die globale Erwärmung zu stoppen. Aber wenigstens eine Chance, zu überleben.

(*) Einige fordern "Geoengineering"-Lösungen für die globale Erwärmung - Techniken wie das Sprühen von Schwefeldioxid in die Atmosphäre, um die einfallenden Sonnenstrahlen zu blockieren. Das würde nichts dazu beitragen, die andere schlimme Krise zu verlangsamen, die durch den Kohlenstoffstoß verursacht wird: Die Versauerung der Ozeane. Und man könnte damit durchaus neue Formen des Chaos anrichten.

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Übersetzung: Lukas Fierz, Bern.

Veröffentlicht mit Genehmigung New York Review of Books.

Link zum Originalartikel: https://www.nybooks.com/articles/2020/08/20/climate-emergency-130-degrees/

 

 

Montag, 9. März 2020

Brief an einen skeptischen Astrophysiker


Cartoon vom Seneca-Blog von Prof. Ugo Bardi (Mitglied des Clubs of Rome, Hauptblog hier: https://cassandralegacy.blogspot.com/)



Lieber Herr Doktor X.Y.,

Es hat mich sehr gefreut, Sie nach meinem Vortrag vom 7.3.2020 in Zürich zu treffen und mit Ihnen über Phänomene und ihre Interpretation zu diskutieren. Ich danke auch für das mail, das Sie mir danach geschrieben haben und in dem Sie sich bezüglich der Klimaerwärmung als Skeptiker bezeichnen, weil das Klima schon immer geändert habe und weil man nichts so genau wissen könne.   

Ja, die Physiker haben vornehmere Ansprüche an die Wahrheit, als wir Barfussmediziner es uns leisten dürfen. Ein Beispiel ist hier: https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928428/up_179_s_10_beisbart_lam_ger.pdf – aber aus meiner Sicht ist solche Leisetreterei zum Haareraufen.

Vielleicht darf ich doch einmal erklären, wie Ärzte funktionieren:  

Als Arzt darf man nicht jedem Verdacht nachgehen. Es gibt dazu eine riesige begründende Literatur. Die Überlegung ist die: Wenn ich ohne Grund 100 Laborbestimmungen oder Röntgenbilder anordne werde ich wegen der Signifikanzregeln auch bei völlig Gesunden 5 abnorme Werte und  somit eine grosse Verwirrung erhalten. Die Maxime lautet deshalb: Man muss sich zu einem Verdacht und zu einer Abklärung zwingen lassen, dazu braucht es irgendeinen harten Befund: Fieber über eine Woche, ein Lymphknoten oder ein Husten, der nach 6 Wochen nicht verschwunden ist, oder Kopfschmerzen, die alles übertreffen, was man jemals gehabt hat. Erst dann klinkt man sich als Arzt ein, um das Medizin-Spiel zu spielen, dafür vollständig.

Zweitens ist ein Arzt rechtlich und gerichtlich verpflichtet, in jeder Situation an die schlimmste Möglichkeit denken.  Die zugehörigen Überlegungen hier: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/11/klimapolitik-als-kunstfehler.html. Natürlich ist man philosophisch gesehen nie über etwas sicher. Aber wie mein Pathologielehrer Prof.E.Uehlinger uns instruiert hat «Was ein Mann ist, entscheidet sich», und dann handelt man danach und behandelt es z.B. wie Krebs. Auch ein Bergführer kann nicht in epistemologischem Agnostizismus verharren, er muss entscheiden und handeln.  

Jetzt haben wir ja schon einige Katastrophenmeldungen erlebt, neue Eiszeit, Waldsterben, Ozonloch etc. Die Nachrichten über die mögliche Klimaerwärmung sind in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre auch zu uns Grünen gedrungen, und zwar vor allem durch die Atomlobby, die A-Werke verkaufen wollte, später durch Al Gore (der ja paradoxerweise die Wahl wegen Ralph Nader verloren hat). Ich dachte bis ca. 2005, dass ich ja nichts merke und man dann schon sehen werde, wie es laufe. Das heisst, ich befand mich im Agnostizismus-Modus des Arztes, der nicht auf jeden Verdacht reagiert, und in dem Sie offenbar noch sind. Das hat mich nicht daran gehindert, ab 1983 die Grünen mitzubegründen und einen Umbau des Steuersystems von der Arbeitsbesteuerung in Richtung Energiebesteuerung zu verlangen. Schliesslich kann man ja proaktiv handeln.

Meinen Agnostizismus verändert haben nicht Theorien, sondern direkte Beobachtung: Wir haben in Bern ein altes Haus mit einem kleinen Garten. Im letzten Jahrhundert hat man dort im Dachstock geschlafen. Das ist heute im Sommer nicht mehr möglich, es ist zu heiss. Im Garten wächst spontan ein Feigenbaum, der nicht hiehergehört, er hat auch Früchte. Winter mit Schnee, in denen man in der Stadt schlitteln kann, gibt es nicht mehr. Ich kann im Februar im Hemd radfahren, bei Wetter wie früher im April. Im Sommer muss man gewisse Bäume wässern, weil sie sonst sichtbar welken. Im Quartier sind in letzter Zeit mehrere 130 Jahre alte Bäume abgestorben oder vertrocknet. Aus diesen Erfahrungen und aus den Presseberichten im Guardian und anderswo schliesse ich, dass wir eine ganz wesentliche und sich beschleunigende Klimaerwärmung schon haben. Das hat nichts mit Computermodellen oder Rechnungen zu tun, sondern mit persönlicher Erfahrung am eigenen Leib.

Mein Physiker-Papa hat immer gesagt, man solle die unlogarithmierten Kurven ansehen. Wenn etwas sei, so werde man es schon sehen:  



Was mich an dieser Kurve der Julitemperaturen interessiert ist, dass sie nicht einen linearen Anstieg zeigt, sondern einen seit 1980 sich beschleunigenden.

Ich bin, wie gesagt, als Arzt rechtlich darauf verpflichtet, mich mit den schlimmstmöglichen Varianten auseinanderzusetzen. Ich höre von den Physikern, dass das CO2 und die Treibhausgase die Driver der Erwärmung sind. Ich kann das selber nicht beurteilen. Aber das wurde uns schon 1961 im universitären Botanikunterricht als Selbstverständlichkeit mitgeteilt, als noch niemand vom Klima redete. Ich glaube dem Tyndall, Arrhenius, Schellnhuber und seinen Kollegen. Die Gegner des Treibhauseffektes kann ich wenigstens psychopathologisch und als Politiker beurteilen, sie scheinen mir allesamt paranoid, gekauft, dilettantisch, oder senil, oder alles zusammen zu sein.

Auch dass die Treibhausgase steigen kann ich selber nicht beurteilen, aber wegen der Kohle- und Ölverbrennung scheint das self-evident. Ich weiss auch allerlei von der pionierhaften Berner Klima-Arbeitsgruppe: Prof. Houtermans habe ich in den Fünfzigerjahren noch persönlich gekannt, ein grosser Mann von derselben prophetischen Ausstrahlung wie C.G.Jung oder Sandor Veress. Mit Prof.Wanner habe ich korrespondiert, und auch Prof.Stocker bin ich einmal in einer medizinischen Situation begegnet, ohne zu wissen, was er macht, aber ich habe selten im Leben einen derart rasch, klar und intelligent denkenden Menschen gesehen. Auch den Erfinder der Klimageschichte Prof.Christian Pfister habe ich einmal zu gewissen Fragen interviewt. Das sind alles unaufgeregte Wissenschaftler, die mich sehr überzeugen. 

Prof.Oeschger hat nach dem zweiten Weltkrieg als Mitarbeiter von Houtermans die hochempfindliche Methode erfunden, mit der man das Alter von Eisblasen in Eisbohrkernen bestimmt. Er hat den Anstieg der CO2-Konzentration über Jahrzehnte auf 2 Prozent genau vorausgesagt https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928429/up_179_s_14_grafiken_ger.pdf. Natürlich gebe ich Ihnen recht, wenn Sie sagen, dass das Klima immer geändert, und dass es auch früher Warmphasen gegeben habe. Aber dieser Einwand verliert an Gewicht, denn die Berner wiesen nach, dass die Geschwindigkeit des Temperaturanstieges jetzt so rasch ist wie noch nie, und dass die jetzige Warmphase global ist, im Gegensatz zu den früheren: https://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2019/medienmitteilungen_2019/klima_erwaermt_sich_so_schnell_wie_nie_in_den_letzten_2000_jahren/index_ger.html.   

Ich leite daraus ab, dass eine steigende Treibhausgaskonzentration eine sich beschleunigende globale Erwärmung verursacht hat und in aller Wahrscheinlichkeit weiter verursachen wird. Das ist die Arbeitshypothese. Was würde daraus folgen?

In der Medizin haben wir vor sich beschleunigenden Entwicklungen grosse Angst. Wenn Sie eine Hirnhautentzündung mit Meningokokken haben, so verdoppeln sich diese Bakterien alle 20-30 Minuten. Die Folge ist, dass es um Minuten geht. Jede Stunde, die man bis zum Beginn der Therapie verliert kostet einen ziemlichen Prozentsatz Menschenleben. Man wartet deshalb selbstverständlich nicht mit der Behandlung, bis die Diagnose feststeht, sondern behandelt die Möglichkeit und stoppt die Behandlung allenfalls, wenn die Diagnose nicht bestätigt wird. Wenn die Infusion mit den Antibiotica nicht spätestens eine Stunde nach Ankunft im Spital läuft (auch ohne sichere Diagnose!!!) ist das ein einklagbarer Kunstfehler. Diese proaktive Haltung vermisse ich beim Klimaproblem.

Ebenfalls grosse Angst haben wir in der Medizin vor positiven Rückkopplungen. Im Fall der Verengung der Klappe der Hauptschlagader können solche innert Sekunden zum Herztod führen: Jetzt hören wir, dass das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mehrere bekannte Rückkopplungsfaktoren einfach gar nicht einrechnet. Das wundert nicht, denn das IPCC ist regierungsnah und regierungsnahe Organisationen bagatellisieren die Probleme grundsätzlich (siehe mein Bericht "Die Sumpfweid" in meinem Büchlein «Begegnungen mit dem Leibhaftigen», Tredition 2016):

  • Das IPCC rechnet nicht ein, dass die CO2-Konzentration weiter steigt. Das ist doch ziemlich elementar. Damit kriegen wir die 1,5 Grad global schon 2030 (nicht 2040, wie vom IPCC vorausgesagt).  Es hatte einen überzeugenden Artikel von drei Klimatologen darüber im Nature.
  • Das IPCC rechnet die verminderte Strahlungsreflexion durch Eis- und Schneeverlust nicht ein, auch das elementar. Ich sehe keinen Grund, den Voraussagen des führenden Eisexperten Wadhams (Buch "The End of Ice") nicht zu trauen, der meint, dass dadurch die Erwärmung bis 50 Prozent stärker ausfallen könne. 
  • Das IPCC rechnet die Methan-Freisetzung aus Feuchtgebieten und Permafrost nicht ein, obschon das Potential von Methan ja katastrophal ist. Zudem taut der Permafrost offenbar ca. 70 Jahre früher auf, als gedacht.
  • Die Grosswälder werden bald von CO2-Absorbenten zu Emittenten. 
  • Nach neuesten Modellrechnungen könnte die Wolkendecke der Erde abnehmen, was die Erwärmung auch befördert.

Ich komme zurück zu Ihrer Skepsis: Tatsächlich ist alles unsicher, aber überall, wo wir in den letzten Jahren mehr gelernt haben, als vorher, ist es schneller und schlimmer geworden. In meinem einfachen Medizinerverständnis sagt das IPCC nur die halbe Wahrheit, vernachlässigt die gefährlichen Rückkopplungen und es wird wahrscheinlich doppelt so schnell gehen, wenn nicht schneller (mehr dazu: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/und-was-wenn-wir-uns-nicht-retten-konnen.html).

Darüber bin ich natürlich auch nicht sicher, aber diese Deutung scheint mir im Moment die wahrscheinlichste und die, an der man sich praktisch auszurichten hätte. Die meisten Berichte, Gremien und Spezialisten (IPCC, amerikanische Klimatologen, Schellnhuber, Tom Payne, Oxford) sprechen auch davon, dass irgendwann irreversible «Tipping points» auftreten können. Das war ja der Hauptgrund, wieso die Pariser Verträge die Erwärmung auf 1,5-2 Grad begrenzen wollten.  Schellnhuber hat uns ausgerechnet, dass die Eisschmelze den Meeresspiegel nicht nur um einige Meter sondern eine Grössenordnung mehr erhöhen könne. Das braucht Zeit, aber ich sehe auch keinen Grund, ihm nicht zu glauben.    

Wenn es nur das wäre: Wir hatten früher in jeder Wohnung Fliegen und Fliegenschisse an den Fenstern. Diese Fliegen gibt es seit Jahren nicht mehr. Wir hatten immer viele Spinnen im Haus, die Spinnen gibt es seit diesem Jahr nicht mehr. Autoscheiben waren früher im Sommer voll Insekten, das ist nicht mehr so. Das sind persönliche Erfahrungen, keine Theorien. Sie decken sich mit den Berichten darüber, dass wir die Bienen, Insekten, Singvögel etc. verlieren. Grössenordnungsmässig geht es für viele Arten nicht um Prozente sondern um ca. 50 Prozent und mehr, z.B. für die Bienen. Auch hier haben wir aus der Medizin Vorstellungen, die ich hier zusammengefasst habe: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html. Das Fazit: wenn Symptome beginnen ist das oft nicht der Anfang, sondern das Ende des Krankheitsverlaufes.

Dieser Artenverlust hat teils mit Klima, teils mit Giften, aber vor allem auch mit Verlust von Lebensräumen zu tun, und dafür ist der Hauptdriver die Bevölkerungsvermehrung der Menschen. Das Thema ist durch die Gutmenschen und die Grünen tabuisiert und man wird als Faschist bezeichnet, wenn man es anspricht. Aber wenn die Umweltbelastung (U) sich aus ProKopf-Konsum (KK) mal Population (P), dividiert durch Effizienz der Produktion (E) zusammensetzt so ist es doch absurd, dass man den Faktor P nicht diskutieren darf. Das wäre wie wenn man bei e=mv2, die Masse oder die Geschwindigkeit nicht diskutieren bzw. variieren dürfte.    

Das IPCC sagt eine Temperaturerhöhung von 4-5 Grad bis 2100 voraus. Schon damit wird man an vielen Orten der Erde physisch nicht mehr leben können (wet bulb temperature). Die Nahrungsmittelproduktion wird dadurch limitiert. Rockström der neue Chef des Potsdam-Instituts ist nicht sicher, ob eine 4 Grad wärmere Erde noch acht Milliarden Menschen oder auch nur die Hälfte davon wird ernähren können wird. Und vielleicht ist die IPCC-Prognose ja nur die halbe Wahrheit…

Die Klimajugend sieht den Puck nicht so, glaubt noch grossteils den Voraussagen des IPCC, glaubt an Klimagerechtigkeit und meint, etwas machen zu können.

Da man – wie Sie richtig sagen – ausser Alibimassnahmen nichts unternehmen wird, wird höchstwahrscheinlich alles in einer Apokalypse enden mit gegenseitigem Totschlagen, Verhungern und Seuchen (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/die-fragilitat-von-menschenrechten-und.html). Es gibt mehrere Leute, die denken, dass das bald deutlich werden könnte (Bardi I, Franzen USA, Servigne F, Bendell UK, Scranton USA, Bringhurst und Zwicky CA, Andrew Glickson AU). Im übrigen genügt es ja, in den Mittleren Osten, nach Afrika oder nach Mittelamerika zu blicken, um den Beginn schon zu sehen. 

Mein 2006 verstorbener Vater, Physikprofessor an der ETH, der wie ich Ihnen erzählt habe sehr gut in Fermi-Rechnungen war, hat geschätzt, dass der Kollaps ab ca. 2020 beginnen werde. Er meinte, dass man sich in diesem Zeitpunkt natürlich um einige Jahre oder höchstens wenige Jahrzehnte täuschen könne. Aber wenn es einmal beginne, werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch gehen (Jahre). Das deckt sich mit den Ansichten von Prof.Ugo Bardi, der das als «Seneca-Cliff» bezeichnet. 

Wenn ich berücksichtige, dass wir jetzt den wärmsten je gemessenen September, Oktober, Januar und Winter gehabt haben und dass Wälder grossflächig abbrennen, so könnte der zu erwartende Runaway tatsächlich begonnen haben, und mein Vater sogar noch recht behalten. Wenn das auch nicht sicher ist, so werden wir es in wenigen Jahren wissen.  

Gescheiter wäre es, Einkindfamilien zu haben, das Fliegen und das Autofahren einzustellen, alle Häuser auf Nullenergie zu isolieren, und die Wirtschaft auf Sustainability und Degrowth
auszurichten. Damit könnte man sofort beginnen und dann hätten wir vielleicht noch eine Chance. Aber seit 40 Jahren geschieht nichts, Presse, Ingenieurvereinigungen, Wirtschaftsführer faseln weiter von Wachstum, SUVs werden verkauft, Autobahnen und Flughäfen werden ausgebaut, die Wissenschaftler üben sich in vornehmem Agnostizismus, wollen weiter forschen, weil man nicht genug wisse, und die NZZ publiziert einen bagatellisierenden Artikel nach dem anderen: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/nzz-gegen-wissenschaft.html .  

Mit freundlichen Grüssen

Lukas Fierz

Mittwoch, 5. Februar 2020

Intellektuelle Redlichkeit im Klimajournalismus

(aktualisiert am 6.2.2020)

Sehr geehrter Herr Haffner,

Viel steht in Ihrem jüngsten Magazin-Artikel über intellektuelle Redlichkeit, der am Anspruch des Titels gemessen werden muss.  

Ich würde an Ihrer Aussage zweifeln, dass reputierte Wissenschaftler die Greta Thunberg verspotten (Abschnitt 2), ich kenne keinen. Die von Ihnen als Beispiele angegebenen Niall Ferguson und Björn Lomborg sind nicht Naturwissenschaftler und der ebenfalls angeführte Pinker war zwar einmal Experimentalpsychologe, hat sich aber zum Gesundbeter gewandelt. Wenn Sie mit normalen und reputierten Naturwissenschaftlern unserer Universitäten oder Gymnasien reden so ist die Besorgnis über die Entwicklung allgemein.

Sie fahren weiter: «Gewiss ist das Ende der Welt nicht nahe, und in Panik zu geraten, wie Greta Thunberg das wünscht, ist nicht klug». Sind Sie sich dessen wirklich so sicher? Jetzt wird es kompliziert, aber wer sich Redlichkeit auf die Fahne schreibt, darf sich nicht drücken.

Ich lade Sie freundlich ein, die angehängte Graphik der mittleren Julitemperaturen der letzten 140 Jahre anzusehen. Was doch ganz deutlich ist, ist dass der Anstieg sich beschleunigt, in letzter Zeit eindeutig und dramatisch.  Das ist ein empirischer Fakt und keine Theorie.


Die Theorie dazu gibt es: Weil die CO2-Konzentration dauernd steigt muss sich die Temperaturzunahme beschleunigen. Das ist aber nicht alles: Weil auch der CO2-Ausstoss dauernd steigt muss sich auch die Beschleunigung der Temperaturerhöhung beschleunigen, das ist doch recht ungemütlich. Diese Beschleunigungen werden von den IPCC-Voraussagen (auf die Greta sich stützt) nicht berücksichtigt. Damit werden wir die 1,5 Grad Zunahme nicht 2040 – wie vom IPCC vorausgesagt – sondern 2030 erreichen.

Das Abholzen und die grossflächigen Waldbrände der vergangenem und der kommenden Jahre verschlechtern die CO2-Bilanz weiter. Wie der renommierte Klimatologe Schellnhuber sagte, töten wir unsere besten Freunde, die Bäume (Link zum Video-Interview).  Auch das in keiner Prognose berücksichtigt und macht übrigens Emissionshandel und Zertifikate zum Geschwätz.

Damit sind wir nicht am Ende der Kalamitäten: Die Redlichkeit geböte, sich auch darüber Rechenschaft abzulegen, dass die Schnee- und Eisdecke der Erde und damit ihre Rückstrahlung rasant abnimmt. Damit können die errechneten Temperaturerhöhungen nochmals um bis zu 50 Prozent höher werden, auch das vom IPCC (und Greta) nicht berücksichtigt.

Am gemeinsten ist rasche Methananstieg, den man erst seit wenigen Jahren beobachtet. Methan und CO2 werden u.a. aus dem Permafrost freigesetzt, diesem Permafrost der schon jetzt weitflächig auftaut, obschon die Experten dieses Auftauen erst gegen Ende des Jahrhunderts erwartet hatten. Die Redlichkeit geböte, einzusehen, dass Methan ein 30 mal wirksameres Treibhausgas ist, als das CO2. Und wenn mit steigender Temperatur der Methanausstoss zunimmt, kann es sein, dass die Katastrophe nicht in einem Raster von Jahrzehnten abläuft, sondern möglicherweise in Jahren oder sogar Monaten.

Und irgendwann bricht die industrielle Gesellschaft zusammen, gewisse Experten wie Servigne oder Bendell rechnen damit schon im kommenden Jahrzehnt, und dann geböte uns die Redlichkeit einzusehen, dass damit der Ausstoss von Feinstaub absinkt. Da der atmosphärische Feinstaub die Strahlungsreflexion erhöht und die Erwärmung gebremst hat, wird das zu einer weiteren wesentlichen Beschleunigung führen.

Als Arzt haben wir vor solchen Rückkoppelungsmechanismen sehr Angst. Ein Beispiel: Die Verengung der Hauptschlagaderklappe kann innert Minuten oder sogar Sekunden zum Herztod führen, weil solche feedbacks aktiv werden.

Nein, Greta sieht die Sache zu harmlos. Sie redet auch noch von einem CO2-Budget, das längstens nicht mehr existiert. Und fast jeden Monat müssen Klimaprognosen zum schlechteren korrigiert werden. 

Alle diese Informationen kann man im Detail belegen und sie sind einem interessierten Laien durch kurze Internetrecherchen leicht zugänglich. Selbst wenn das eine oder andere Detail anders gesehen werden kann, fügt sich das Gesamtbild zu einer angekündigten Katastrophe und zwar viel schneller als wir noch vor wenigen Jahren dachten. Ich wundere mich, wieso unsere Medien darüber nichts schreiben. Sind Journalisten wirklich weniger neugierig als ein 78-jähriger Greis? Oder fehlt es an intellektueller Redlichkeit? Damit wären wir wirklich bei Ihrem Thema 😊.

Freundliche Grüsse

Lukas Fierz, Alt-Nationalrat.    

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Dieser Brief ging am 3.2.2020 an den Autor. Er hat wie folgt Stellung genommen:

Sehr geehrter Herr Fierz,

haben Sie Dank für Ihre Zuschrift; die von Ihnen erwähnten Faktoren der Beschleunigung der Erderwärmung sind mir bekannt und machen mir nicht weniger Sorgen als Ihnen. Deshalb habe ich ja auch im zweitletzten Abschnitt geschrieben, dass wir die Erwärmung über zwei Grad hinaus vermutlich nicht werden verhindern können, mit katastrophalen Folgen.

In Panik zu geraten halte ich dennoch für unklug, und ich nehme an, dass Sie als praktizierender Arzt auch in Ernstfällen versucht haben, Panik zu verhindern statt sie zu fördern.

Mit besten Grüssen,

Peter Haffner


P.S.: Was Wissenschafter und “intellektuelle Redlichkeit” betrifft, habe ich explizit solche im Visier, die nicht vom Fach sind.

Ich habe wie folgt geantwortet:

Lieber Herr Haffner,

Ich habe mehrere Herzstillstände erfolgreich reanimiert, einmal auch beim Tennisspiel auf einem Tennisplatz. Da ist man durchaus panisch, weil es um Leben und Tod innert Sekunden geht. Aber man schaltet aus dem Panikmodus in den Notfallmodus um und agiert mit den gelernten Reflexen rasch und erfolgreich.

Sie haben in Ihrem Artikel nicht nur von Panik abgeraten, sondern sich auch dahingehend geäussert, dass das Ende der Welt gewiss nicht nahe sei. Aber wir sind vielleicht näher dran, als uns lieb ist, weil die Vorgänge, wie gesagt, selbstverstärkend und nichtlinear sind und jederzeit rasch eskalieren können, bzw. jetzt eskalieren, man denke nur an den soeben wärmsten je gemessenen Januar.

Drum wäre Panik die einzig adaequate Reaktion, um in den Notfallmodus zu wechseln, der uns veranlassen würde, endlich die versäumten Massnahmen zu treffen. Aber es geschieht nichts, weil uns alle von links bis rechts und von Tages-Anzeiger bis NZZ des «Tout va bien Madame Marquise» versichern.  

Mit freundlichen Grüssen   

Lukas Fierz