Cartoon vom Seneca-Blog von Prof. Ugo Bardi (Mitglied des Clubs of Rome, Hauptblog hier: https://cassandralegacy.blogspot.com/)
Lieber Herr Doktor X.Y.,
Es hat mich sehr gefreut, Sie nach meinem Vortrag vom 7.3.2020 in Zürich zu treffen und mit Ihnen über Phänomene und ihre Interpretation zu diskutieren. Ich danke auch für das mail, das Sie mir danach geschrieben haben und in dem Sie sich bezüglich der Klimaerwärmung als Skeptiker bezeichnen, weil das Klima schon immer geändert habe und weil man nichts so genau wissen könne.
Ja, die Physiker
haben vornehmere Ansprüche an die Wahrheit, als wir Barfussmediziner es uns
leisten dürfen. Ein Beispiel ist hier: https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928428/up_179_s_10_beisbart_lam_ger.pdf
– aber aus meiner Sicht ist solche Leisetreterei zum Haareraufen.
Vielleicht darf ich doch einmal erklären, wie Ärzte funktionieren:
Als Arzt darf man nicht jedem Verdacht nachgehen. Es gibt
dazu eine riesige begründende Literatur. Die Überlegung ist die: Wenn ich
ohne Grund 100 Laborbestimmungen oder Röntgenbilder anordne werde ich wegen der
Signifikanzregeln auch bei völlig Gesunden 5 abnorme Werte und somit eine
grosse Verwirrung erhalten. Die Maxime lautet deshalb: Man muss sich zu einem
Verdacht und zu einer Abklärung zwingen lassen, dazu braucht es irgendeinen harten
Befund: Fieber über eine Woche, ein Lymphknoten oder ein Husten, der nach 6
Wochen nicht verschwunden ist, oder Kopfschmerzen, die alles übertreffen, was
man jemals gehabt hat. Erst dann klinkt man sich als Arzt ein, um das Medizin-Spiel zu spielen, dafür vollständig.
Zweitens ist ein Arzt rechtlich und gerichtlich
verpflichtet, in jeder Situation an die schlimmste Möglichkeit denken.
Die zugehörigen Überlegungen hier: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/11/klimapolitik-als-kunstfehler.html.
Natürlich ist man philosophisch gesehen nie über etwas sicher. Aber wie mein
Pathologielehrer Prof.E.Uehlinger uns instruiert hat «Was ein Mann ist, entscheidet sich», und
dann handelt man danach und behandelt es z.B. wie Krebs. Auch ein Bergführer kann nicht
in epistemologischem Agnostizismus verharren, er muss entscheiden und handeln.
Jetzt haben wir ja schon einige Katastrophenmeldungen
erlebt, neue Eiszeit, Waldsterben, Ozonloch etc. Die Nachrichten über die mögliche
Klimaerwärmung sind in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre auch zu uns Grünen
gedrungen, und zwar vor allem durch die Atomlobby, die A-Werke verkaufen
wollte, später durch Al Gore (der ja paradoxerweise die Wahl wegen Ralph Nader
verloren hat). Ich dachte bis ca. 2005, dass ich ja nichts merke und man dann
schon sehen werde, wie es laufe. Das heisst, ich befand mich im
Agnostizismus-Modus des Arztes, der nicht auf jeden Verdacht reagiert, und in
dem Sie offenbar noch sind. Das hat mich nicht daran gehindert, ab 1983 die
Grünen mitzubegründen und einen Umbau des Steuersystems von der
Arbeitsbesteuerung in Richtung Energiebesteuerung zu verlangen. Schliesslich
kann man ja proaktiv handeln.
Meinen Agnostizismus verändert haben nicht Theorien, sondern
direkte Beobachtung: Wir haben in Bern ein altes Haus mit einem kleinen Garten.
Im letzten Jahrhundert hat man dort im Dachstock geschlafen. Das ist heute im
Sommer nicht mehr möglich, es ist zu heiss. Im Garten wächst spontan ein
Feigenbaum, der nicht hiehergehört, er hat auch Früchte. Winter mit Schnee, in
denen man in der Stadt schlitteln kann, gibt es nicht mehr. Ich kann im Februar
im Hemd radfahren, bei Wetter wie früher im April. Im Sommer muss man gewisse Bäume
wässern, weil sie sonst sichtbar welken. Im Quartier sind in letzter Zeit
mehrere 130 Jahre alte Bäume abgestorben oder vertrocknet. Aus diesen
Erfahrungen und aus den Presseberichten im Guardian und anderswo schliesse ich,
dass wir eine ganz wesentliche und sich beschleunigende Klimaerwärmung schon haben.
Das hat nichts mit Computermodellen oder Rechnungen zu tun, sondern mit
persönlicher Erfahrung am eigenen Leib.
Mein Physiker-Papa hat immer gesagt, man solle die unlogarithmierten
Kurven ansehen. Wenn etwas sei, so werde man es schon sehen:
Was mich an dieser Kurve der Julitemperaturen interessiert ist, dass sie nicht
einen linearen Anstieg zeigt, sondern einen seit 1980 sich beschleunigenden.
Ich bin, wie gesagt, als Arzt rechtlich darauf verpflichtet, mich
mit den schlimmstmöglichen Varianten auseinanderzusetzen. Ich höre von den
Physikern, dass das CO2 und die Treibhausgase die Driver der Erwärmung sind.
Ich kann das selber nicht beurteilen. Aber das wurde uns schon 1961 im
universitären Botanikunterricht als Selbstverständlichkeit mitgeteilt, als noch niemand vom Klima redete. Ich glaube dem Tyndall,
Arrhenius, Schellnhuber und seinen Kollegen. Die Gegner des Treibhauseffektes
kann ich wenigstens psychopathologisch und als Politiker beurteilen, sie
scheinen mir allesamt paranoid, gekauft, dilettantisch, oder senil, oder alles zusammen zu sein.
Auch dass die Treibhausgase steigen kann ich selber nicht
beurteilen, aber wegen der Kohle- und Ölverbrennung scheint das self-evident.
Ich weiss auch allerlei von der pionierhaften Berner Klima-Arbeitsgruppe: Prof. Houtermans
habe ich in den Fünfzigerjahren noch persönlich gekannt, ein grosser Mann von derselben prophetischen Ausstrahlung
wie C.G.Jung oder Sandor Veress. Mit Prof.Wanner habe ich korrespondiert, und auch Prof.Stocker bin ich einmal in einer medizinischen Situation begegnet, ohne zu
wissen, was er macht, aber ich habe selten im Leben einen derart rasch, klar und intelligent denkenden Menschen gesehen. Auch den Erfinder der Klimageschichte Prof.Christian
Pfister habe ich einmal zu gewissen Fragen interviewt. Das sind alles
unaufgeregte Wissenschaftler, die mich sehr überzeugen.
Prof.Oeschger hat nach dem zweiten Weltkrieg als Mitarbeiter von Houtermans die hochempfindliche Methode
erfunden, mit der man das Alter von Eisblasen in Eisbohrkernen bestimmt. Er hat den
Anstieg der CO2-Konzentration über Jahrzehnte auf 2 Prozent genau vorausgesagt https://www.unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928429/up_179_s_14_grafiken_ger.pdf.
Natürlich gebe ich Ihnen recht, wenn Sie sagen, dass das Klima immer geändert, und dass es auch früher Warmphasen gegeben habe. Aber dieser Einwand verliert an Gewicht, denn die Berner wiesen nach, dass die Geschwindigkeit des
Temperaturanstieges jetzt so rasch ist wie noch nie, und dass die jetzige
Warmphase global ist, im Gegensatz zu den früheren: https://www.unibe.ch/aktuell/medien/media_relations/medienmitteilungen/2019/medienmitteilungen_2019/klima_erwaermt_sich_so_schnell_wie_nie_in_den_letzten_2000_jahren/index_ger.html.
Ich leite daraus ab, dass eine steigende
Treibhausgaskonzentration eine sich beschleunigende globale Erwärmung
verursacht hat und in aller Wahrscheinlichkeit weiter verursachen wird. Das ist die Arbeitshypothese. Was würde daraus folgen?
In der Medizin haben wir vor sich beschleunigenden
Entwicklungen grosse Angst. Wenn Sie eine Hirnhautentzündung mit Meningokokken haben, so verdoppeln sich diese Bakterien alle 20-30 Minuten. Die Folge ist, dass es um Minuten geht.
Jede Stunde, die man bis zum Beginn der Therapie verliert kostet einen
ziemlichen Prozentsatz Menschenleben. Man wartet deshalb selbstverständlich
nicht mit der Behandlung, bis die Diagnose feststeht, sondern behandelt die
Möglichkeit und stoppt die Behandlung allenfalls, wenn die Diagnose nicht
bestätigt wird. Wenn die Infusion mit den Antibiotica nicht spätestens eine
Stunde nach Ankunft im Spital läuft (auch ohne sichere Diagnose!!!) ist das ein
einklagbarer Kunstfehler. Diese proaktive Haltung vermisse ich beim Klimaproblem.
Ebenfalls grosse Angst haben wir in der Medizin vor
positiven Rückkopplungen. Im Fall der Verengung der Klappe der Hauptschlagader können solche innert Sekunden zum Herztod führen: Jetzt hören wir, dass das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mehrere bekannte Rückkopplungsfaktoren einfach gar nicht einrechnet. Das wundert nicht, denn das
IPCC ist regierungsnah und regierungsnahe Organisationen bagatellisieren die
Probleme grundsätzlich (siehe mein Bericht "Die Sumpfweid" in meinem Büchlein
«Begegnungen mit dem Leibhaftigen», Tredition 2016):
- Das IPCC rechnet nicht ein, dass die CO2-Konzentration weiter steigt. Das ist doch ziemlich elementar. Damit kriegen wir die 1,5 Grad global schon 2030 (nicht 2040, wie vom IPCC vorausgesagt). Es hatte einen überzeugenden Artikel von drei Klimatologen darüber im Nature.
- Das IPCC rechnet die verminderte Strahlungsreflexion durch Eis- und Schneeverlust nicht ein, auch das elementar. Ich sehe keinen Grund, den Voraussagen des führenden Eisexperten Wadhams (Buch "The End of Ice") nicht zu trauen, der meint, dass dadurch die Erwärmung bis 50 Prozent stärker ausfallen könne.
- Das IPCC rechnet die Methan-Freisetzung aus Feuchtgebieten und Permafrost nicht ein, obschon das Potential von Methan ja katastrophal ist. Zudem taut der Permafrost offenbar ca. 70 Jahre früher auf, als gedacht.
- Die Grosswälder werden bald von CO2-Absorbenten zu Emittenten.
- Nach neuesten Modellrechnungen könnte die Wolkendecke der Erde abnehmen, was die Erwärmung auch befördert.
Ich komme zurück zu Ihrer Skepsis: Tatsächlich ist alles
unsicher, aber überall, wo wir in den letzten Jahren mehr gelernt haben, als vorher, ist
es schneller und schlimmer geworden. In meinem einfachen Medizinerverständnis
sagt das IPCC nur die halbe Wahrheit, vernachlässigt die gefährlichen
Rückkopplungen und es wird wahrscheinlich doppelt so schnell gehen, wenn nicht
schneller (mehr dazu: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/07/und-was-wenn-wir-uns-nicht-retten-konnen.html).
Darüber bin ich natürlich auch nicht sicher, aber diese
Deutung scheint mir im Moment die wahrscheinlichste und die, an der man sich
praktisch auszurichten hätte. Die meisten Berichte, Gremien und Spezialisten
(IPCC, amerikanische Klimatologen, Schellnhuber, Tom Payne, Oxford) sprechen
auch davon, dass irgendwann irreversible «Tipping points» auftreten können. Das
war ja der Hauptgrund, wieso die Pariser Verträge die Erwärmung auf 1,5-2 Grad
begrenzen wollten. Schellnhuber hat uns ausgerechnet, dass die
Eisschmelze den Meeresspiegel nicht nur um einige Meter sondern eine
Grössenordnung mehr erhöhen könne. Das braucht Zeit, aber ich sehe auch keinen
Grund, ihm nicht zu glauben.
Wenn es nur das wäre: Wir hatten früher in jeder Wohnung
Fliegen und Fliegenschisse an den Fenstern. Diese Fliegen gibt es seit Jahren
nicht mehr. Wir hatten immer viele Spinnen im Haus, die Spinnen gibt es seit
diesem Jahr nicht mehr. Autoscheiben waren früher im Sommer voll Insekten, das
ist nicht mehr so. Das sind persönliche Erfahrungen, keine Theorien. Sie decken
sich mit den Berichten darüber, dass wir die Bienen, Insekten, Singvögel etc.
verlieren. Grössenordnungsmässig geht es für viele Arten nicht um Prozente
sondern um ca. 50 Prozent und mehr, z.B. für die Bienen. Auch hier haben wir
aus der Medizin Vorstellungen, die ich hier zusammengefasst habe: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/05/wie-biosysteme-kippen.html.
Das Fazit: wenn Symptome beginnen ist das oft nicht der Anfang, sondern das
Ende des Krankheitsverlaufes.
Dieser Artenverlust hat teils mit Klima, teils mit Giften,
aber vor allem auch mit Verlust von Lebensräumen zu tun, und dafür ist der
Hauptdriver die Bevölkerungsvermehrung der Menschen. Das Thema ist durch die
Gutmenschen und die Grünen tabuisiert und man wird als Faschist bezeichnet, wenn man es
anspricht. Aber wenn die Umweltbelastung (U) sich aus ProKopf-Konsum (KK) mal
Population (P), dividiert durch Effizienz der Produktion (E) zusammensetzt so
ist es doch absurd, dass man den Faktor P nicht diskutieren darf. Das wäre wie
wenn man bei e=mv2, die Masse oder die Geschwindigkeit nicht diskutieren bzw.
variieren dürfte.
Das IPCC sagt eine Temperaturerhöhung von 4-5 Grad bis 2100
voraus. Schon damit wird man an vielen Orten der Erde physisch nicht mehr leben
können (wet bulb temperature). Die Nahrungsmittelproduktion wird dadurch
limitiert. Rockström der neue Chef des Potsdam-Instituts ist nicht sicher, ob eine 4 Grad wärmere Erde noch acht Milliarden Menschen oder auch nur die Hälfte davon wird ernähren können wird. Und vielleicht
ist die IPCC-Prognose ja nur die halbe Wahrheit…
Die Klimajugend sieht den Puck nicht so, glaubt noch
grossteils den Voraussagen des IPCC, glaubt an Klimagerechtigkeit und meint,
etwas machen zu können.
Da man – wie Sie richtig sagen – ausser Alibimassnahmen
nichts unternehmen wird, wird höchstwahrscheinlich alles in einer Apokalypse
enden mit gegenseitigem Totschlagen, Verhungern und Seuchen (https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/die-fragilitat-von-menschenrechten-und.html). Es gibt mehrere Leute, die denken, dass das bald deutlich werden könnte (Bardi I, Franzen USA, Servigne F, Bendell UK,
Scranton USA, Bringhurst und Zwicky CA, Andrew Glickson AU). Im übrigen genügt es ja, in den Mittleren Osten, nach Afrika oder nach Mittelamerika zu blicken, um den Beginn schon zu sehen.
Mein 2006 verstorbener Vater, Physikprofessor an der ETH, der wie ich Ihnen erzählt habe
sehr gut in Fermi-Rechnungen war, hat geschätzt, dass der Kollaps ab ca. 2020
beginnen werde. Er meinte, dass man sich in diesem Zeitpunkt natürlich um
einige Jahre oder höchstens wenige Jahrzehnte täuschen könne. Aber wenn es
einmal beginne, werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch
gehen (Jahre). Das deckt sich mit den Ansichten von Prof.Ugo Bardi, der das als
«Seneca-Cliff» bezeichnet.
Wenn ich berücksichtige, dass wir jetzt den wärmsten
je gemessenen September, Oktober, Januar und Winter gehabt haben und dass
Wälder grossflächig abbrennen, so könnte der zu erwartende Runaway tatsächlich begonnen haben, und mein Vater sogar noch recht behalten. Wenn das auch
nicht sicher ist, so werden wir es in wenigen Jahren wissen.
Gescheiter wäre es, Einkindfamilien zu haben, das Fliegen
und das Autofahren einzustellen, alle Häuser auf Nullenergie zu isolieren, und die
Wirtschaft auf Sustainability und Degrowth
auszurichten. Damit könnte man sofort beginnen und dann
hätten wir vielleicht noch eine Chance. Aber seit 40 Jahren geschieht nichts,
Presse, Ingenieurvereinigungen, Wirtschaftsführer faseln weiter von Wachstum,
SUVs werden verkauft, Autobahnen und Flughäfen werden ausgebaut, die
Wissenschaftler üben sich in vornehmem Agnostizismus, wollen weiter
forschen, weil man nicht genug wisse, und die NZZ publiziert einen bagatellisierenden
Artikel nach dem anderen: https://lukasfierz.blogspot.com/2019/09/nzz-gegen-wissenschaft.html
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Mit freundlichen Grüssen
Lukas Fierz