(Zuerst publiziert in www.Journal21.ch vom 12.8.2020)
In der New York Review of Books, 20. August 2020 (-> link to original article) bespricht Bill McKibben das Buch «The last warning: Six degrees climate emergency» («Die letzte Warnung: Sechs Grad Klimanotfall») von Mark Lynas, London: 4th Estate, 372 S., 27,99 USD. Hier diese Besprechung in deutscher Übersetzung:
54 Grad Celsius
Durch COVID bekommen wir einen Begriff von einer umfassenden globalen Krise, die alles stört: Das normale Leben - Lebensmittel einkaufen, Hochzeit halten, zur Arbeit gehen, die Eltern sehen – alles verändert sich dramatisch. Die Welt fühlt sich anders an, und jede Annahme über Sicherheit und Vorhersehbarkeit ist auf den Kopf gestellt: Wirst du einen Job haben? Wirst du sterben? Wirst du jemals wieder mit der U-Bahn fahren oder ein Flugzeug nehmen? Es ist alles anders, als wir jemals gesehen haben.
Der Umbruch durch Covid-19 ist auch eine Art Generalprobe
für die globale Erwärmung. Weil die Menschen die physische Funktionsweise des
Planeten Erde grundlegend verändert haben, gehen wir einem Jahrhundert von
Krisen entgegen, von denen viele gefährlicher sind als das, was wir jetzt
durchleben. Hauptfrage ist, ob wir den Temperaturanstieg so eingrenzen können,
dass wir diese Krisen wenn auch mit Aufwand und Leid bewältigen können, oder ob
unsere Zivilisation überwältigt wird. Letzteres ist eine eindeutige
Möglichkeit, wie Mark Lynas neues Buch «Our Final Warning» schmerzlich deutlich
macht.
Lynas ist ein britischer Journalist und Aktivist. 2007
veröffentlichte er im Vorfeld der Klimakonferenz in Kopenhagen ein Buch mit dem
Titel «Sechs Grad: Unsere Zukunft auf einem heißeren Planeten». Das neue Buch
erinnert an die frühere Arbeit, die schon keineswegs fröhlich war. Aber weil
Wissenschaftler im letzten Jahrzehnt das Verständnis der Erdsysteme dramatisch
verbessert haben, während unsere Gesellschaft dasselbe Jahrzehnt dazu
verschwendete, um immer mehr CO2 in die Atmosphäre zu pusten ist dieses
Buch weit, weit dunkler. Lynas stützt sich auf solide Quellen und eine breite
Palette veröffentlichter Forschungsergebnisse. Eröffnend sagt er, dass er lange
davon ausgegangen sei, dass wir „den Klimawandel wahrscheinlich überleben
könnten. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher."
Die Nationen, welche fossile Brennstoffe in großen Mengen
verbrauchen, haben die Temperatur des Planeten seit der industriellen
Revolution um mehr als ein Grad Celsius angehoben. Die Marke wurde 2015
überschritten, zufällig auch das Jahr, in dem wir in Paris die ersten
wirklichen globalen Abkommen über Klimaschutzmaßnahmen erreicht haben. Ein
Anstieg um ein Grad klingt nicht nach viel, aber es ist viel: Jede Sekunde
fangen der Kohlenstoff und das Methan, die wir abgegeben haben, Wärme ein, die
der Explosion von drei Hiroshima-Bomben entspricht. Seit 1959 wird auf
dem Vulkan Mauna Loa in Hawaii die Kohlendioxidkonzentration erfasst. Ende
Mai dieses Jahres war ein neues Rekordhoch von etwa 417 ppm CO2, das sind 100
ppm mehr als zur Zeit unserer Ururgrosseltern, und mehr, als es in den letzten
drei Millionen Jahren je gegeben hat (ppm = parts per million).
Während wir fahren, heizen, beleuchten und bauen, geben wir
jährlich etwa 35 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre ab. Momentan
nehmen Ozeane und Wälder etwas mehr als die Hälfte davon auf, aber diese Gnade
wird in Zukunft nicht anhalten, und auf jeden Fall bedeutet dies, dass wir der
Luft jährlich etwa 18 Milliarden Tonnen hinzufügen . Dies ist bei weitem der
wichtigste Einflussfaktor für die Zukunft des Planeten.
Der Schaden, der bei einem Grad Erwärmung angerichtet wurde,
ist beunruhigend und liegt in fast allen Fällen über dem, was Wissenschaftler
vor dreißig Jahren vorhergesagt hatten (Wissenschaftler sind halt von Natur aus
vorsichtig). Lynas nimmt uns auf eine Horrortour, von Grönland (wo
die Eisschmelze bereits auf dem Niveau liegt, das einst für 2070 vorhergesagt
wurde); in die Wälder der Welt (auf der ganzen Welt hat die Dauer der
Waldbrandsaison um ein Fünftel zugenommen); in städtische Gebiete in Asien und
im Nahen Osten, in denen in den letzten Sommern die höchsten zuverlässig
gemessenen Temperaturen auf der Erde gemessen wurden, gegen 54 Grad. Das ist
die Welt mit einem Grad Erwärmung, in der ein Gürtel aus gebleichten Korallen
über den Tropen zu sehen ist - ein 90-prozentiger Zusammenbruch entlang des
Great Barrier Reef, der größten lebenden Struktur des Planeten – oder die
entsetzlichen Szenen aus Australien wo im Dezember Menschen ins Meer
wateten, um den Feuerstürmen zu entkommen.
Das wäre einmal die Ausgangsbasis. Wir werden definitiv
nicht cooler. Aber betrachten wir jetzt das eigentliche Problem, die zukünftige
Entwicklung, welche Wissenschaftler seit vielen Jahren zu vermitteln versuchen, welche aber weder in der Öffentlichkeit noch bei den politischen Führern wirklich
angekommen ist. In den Worten von Lynas:
«Auf dem aktuellen Erwärmungspfad könnten wir bereits
Anfang der 2030er Jahre zwei Grad Globalerwärmung haben, die drei Grad um Mitte des
Jahrhunderts und vier Grad bis 2075. Wenn wir mit positiven Feedbackschleifen
Pech haben - vom Auftauen des Permafrosts in der Arktis bis zum Zusammenbruch
tropischer Regenwälder - könnten wir bis zum Ende des Jahrhunderts fünf
oder sechs Grad Globalerwärmung erreichen».
Das ist ein lesenswerter Absatz, eine unverbrämte
Zusammenfassung der verfügbaren Wissenschaft (eine Anfang Juli
veröffentlichte Studie schätzt, dass wir die 1,5-Grad-Schwelle bis 2025
überschreiten könnten). Diese Sicht ist keinewegs abwegig und sie impliziert
eine unvorstellbare Zukunft. Zwei Grad sind nicht doppelt so schlecht wie ein
Grad, oder drei Grad dreimal so schlecht. Denn der Schaden nimmt nicht linear
mit der Temperatur zu, sondern eher exponentiell, wobei bei steigender
Temperatur jederzeit unvorhersehbare Kippunkte drohen. (Anmerkung des
Übersetzers: eine bestimmte Globalerwärmung heisst ca. das doppelte oder mehr
über den Landmassen, wo die Kühlung durch das Meer entfällt).
Aber haben sich die Staats- und Regierungschefs der Welt im
Pariser Klimaabkommen nicht verpflichtet, den Temperaturanstieg auf „weit
unter“ zwei Grad Celsius und so nahe wie möglich an 1,5 Grad zu halten? Sie
taten es - in der Präambel. Aber dann fügten sie ihre tatsächlichen Zusagen
Land für Land hinzu. Als Wissenschaftler diese Versprechen zusammenfassten -
Emissionen zu senken, erneuerbare Energien aufzubauen, Wälder zu retten - und
sie in einen Computer einspeisten, spuckte der die Nachricht aus, dass wir bei
Einhaltung des Pariser Abkommens in diesem Jahrhundert auf eine Globalerwärmung
um etwa 3,5 Grad zusteuern. Und nicht genug Länder halten die Pariser
Versprechen - tatsächlich haben sich unsere USA, die in den letzten zwei
Jahrhunderten weitaus mehr Kohlenstoff produziert haben als jedes andere Land,
vollständig von den Abkommen zurückgezogen, angeführt von einem Präsidenten,
der den Klimawandel als Scherz bezeichnet. Der En-ROADS-Online-Simulator, der
von Climate Interactive, einem gemeinnützigen Think Tank, entwickelt wurde,
sagt voraus, dass wir in diesem Jahrhundert einen globalen Temperaturanstieg
von 4,1 Grad erwarten können. Alles in allem ist Lynas 'sorgfältige
schrittweise Analyse eine direkte Prognose für unsere Zukunft, und gleichzeitig
eine Höllentour, es sei denn, wir ergreifen Massnahmen in einem Maßstab, den
derzeit nur wenige Nationen planen.
Folgen wir Lynas auf dieser Tour in die Hölle:
Bei einer um zwei Grad erhöhten Globaltemperatur sind
sagt die Wissenschaft ziemlich sicher einen im Sommer eisfreien Arktischen
Ozean voraus. Schon jetzt hat der Eisverlust im Norden die Wettersysteme dramatisch
verändert, den Jetstream geschwächt und die Wetterverhältnisse in Nordamerika
und anderswo destabilisiert.
Bei den zwei Grad könnten 40 Prozent der Permafrostregion
abschmelzen, unter massiver Freisetzung von Methan und CO2, was uns näher an
die drei Grad bringen würde. Aber wir greifen vor: Zwei Grad werden
wahrscheinlich auch den irreversiblen Verlust der Westantarktischen Eisdecke
auslösen. Selbst vorsichtige Schätzungen des resultierenden
Meeresspiegelanstieges lassen erwarten, dass dadurch 79 Millionen Menschen
vertrieben werden. Und der Schutz gefährdeter Städte entlang der Ostküste der
USA hinter Deichen und Mauern würde bis zu 1 Million US-Dollar pro Person
kosten. Lynas folgert: «Ich vermute, niemand wird mit so hohen Kosten für
Deiche bezahlen wollen, und die am stärksten gefährdeten (und ärmsten)
Gemeinden werden einfach aufgegeben».
Früher hofften die Forscher, dass eine Erwärmung um zwei
Grad die Lebensmittelproduktion tatsächlich leicht steigern könne, aber „jetzt
sehen diese rosigen Erwartungen gefährlich naiv aus.“ Lynas zitiert jüngste
Studien, in denen vorausgesagt wird, dass zwei Grad die globale
Lebensmittelverfügbarkeit um etwa 99 Kalorien pro Kopf und Tag verringern
werden – und auch diese Last wird selbstverständlich nicht gleichmäßig oder
gerecht verteilt werden.
Städte werden stetig heißer: Die derzeitige Erwärmung
bedeutet, dass sich alle Menschen auf der Nordhalbkugel mit einer
Geschwindigkeit von etwa 19 km pro Jahr effektiv nach Süden bewegen. Das ist
ein halber Millimeter pro Sekunde, was mit bloßem Auge eigentlich leicht zu
erkennen ist: „Ein sich langsam bewegendes riesiges Förderband“, das uns
„immer tiefer in die Subtropen transportiert, mit der gleichen
Geschwindigkeit wie der Sekundenzeiger einer kleinen Armbanduhr . ”
Aber dieser statistische Durchschnitt maskiert Extreme: Wir
können immer stärkere Hitzewellen erwarten, so dass beispielsweise in China
Hunderte Millionen Menschen mit Temperaturen umgehen müssen, denen sie noch nie
zuvor begegnet sind. Die natürliche Welt wird dramatisch leiden - 99 Prozent
der Korallenriffe werden wahrscheinlich sterben: Eine der faszinierendsten (und
produktivsten) Ecken der Schöpfung wird auf „abgeflachte, algenbedeckte
Trümmer“ reduziert.
Wenn wir darüber hinaus zu drei Grad Globalerwärmung
gehen, "wird das unsere Zivilisation bis zum Zusammenbruch
belasten." Die drei Grad bringen uns auf ein Niveau globaler Hitze,
das noch kein Mensch erlebt hat – letztmals so warm war es vor drei Millionen
Jahren im Pleistozän.
In seinem ersten Buch berichtete Lynas, dass Wissenschaftler
den Zusammenbruch der Westarktischen Eisdecke bei vier Grad erwarteten. Wie
oben ausgeführt erwartet man den Zusammenbruch heute früher, bei zwei
Grad Erwärmung ist er eine tödliche Möglichkeit, bei drei Grad eine Gewissheit.
Höhere Meeresspiegel bedeuten, dass Sturmfluten wie der Superstorm Sandy vom
Jahr 2012 durchschnittlich dreimal im Jahr zu erwarten sind.
In einer Dreigrad-Welt werden die rekordverdächtigen
Hitzewellen von 2019 „als ungewöhnlich kühler Sommer gelten“. Über eine
Milliarde Menschen würden in Zonen des Planeten leben, "in denen es
unmöglich wird, außerhalb künstlich gekühlter Umgebungen sicher zu arbeiten,
selbst im Schatten". Der Amazonas stirbt, der Permafrost bricht
zusammen. Die Veränderung verstärkt sich selber: Bei drei Grad wird die
Reflexion des Planeten stark vermindert, weil weißes Eis, das den Sonnenschein
zurück in den Weltraum reflektiert, durch blaues Meer oder braunes Land ersetzt
wird, das diese Strahlen absorbiert und den Prozess verstärkt.
Und dann kommen die vier Grad: Der Mensch als
Spezies ist damit nicht vom Aussterben bedroht - noch nicht. Aber die
fortschrittliche industrielle Zivilisation mit ihrem ständig steigenden
Materialverbrauch, Energieverbrauch und Lebensstandard - das System, das wir
Modernität nennen – kommt ins Wanken.
In Orten wie Texas, Oklahoma, Missouri und Arkansas werden
die Höchsttemperaturen jedes Jahr höher sein als die 50 und mehr Grad, die man
jetzt im Death Valley findet. Drei Viertel der Weltbevölkerung werden „mehr
als 20 Tage pro Jahr tödlicher Hitze ausgesetzt sein ” – in New York 50
Tage pro Jahr, in Jakarte alle Tage des Jahres. Ein „Gürtel der
Unbewohnbarkeit“ wird durch den Nahen Osten verlaufen, den größten Teil
Indiens, Pakistans, Bangladeschs und Ostchinas. Die Ausweitung der Wüsten wird
ganze Länder "vom Irak bis nach Botswana" verbrauchen.
Je nach Studie steigt das Risiko von „sehr großen
Bränden“ in den westlichen USA zwischen 100 und 600 Prozent; Das
Hochwasserrisiko in Indien steigt um das Zwanzigfache. Derzeit ist das Risiko,
dass die größten Getreideanbaugebiete aufgrund von Dürre gleichzeitig
Ernteausfälle erleiden, „praktisch Null“, aber bei vier Grad „steigt
diese Wahrscheinlichkeit auf 86%“. Riesige «marine Hitzewellen“
werden die Ozeane durchkämmen: „Eine Studie geht davon aus, dass die
Meerestemperaturen in einer Welt mit vier Grad in vielen tropischen
Meeresökoregionen über der thermischen Toleranzschwelle von 100% der Arten
liegen werden.“ Das Aussterben an Land und auf See wird sicherlich das
schlimmste seit dem Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren sein, als ein
Asteroid dazu beitrug, das Zeitalter der Dinosaurier zu beenden. "Der
Unterschied", bemerkt Lynas, "besteht darin, dass der"
Meteor "diesmal Jahrzehnte im Voraus sichtbar war, aber wir haben uns
einfach abgewandt, als er am Himmel immer größer wurde."
Wir werden nicht lange bei Lynas' Beschreibungen darüber
verweilen, was bei fünf oder sechs Grad Globalerwärmung passiert.
Diese sind leider nur allzu plausibel - besonders wenn die Menschheit
sich nicht auf eine Kursänderung einigt - aber sie sind pornographisch. Wenn
die Erwärmung dieses Ausmass erreicht, werden die Lebenden die Toten wirklich
beneiden: Eine Welt, in der die Menschen versuchen, sich nach Patagonien oder
vielleicht auf die Südinsel Neuseelands zu drängen, eine Welt, in der massive
Monsune den Boden bis zum Felsen wegspülen. wo die Ozeane anoxisch oder völlig
ohne Sauerstoff sind. Vergessen wer die Praezedenzfälle der Kreidezeit und der
Asteroideneinschläge - bei sechs Grad nähern wir uns dem Schaden, der zu Ende
des Perms eintrat, der größten biologischen Katastrophe in der Geschichte des
Planeten, als vor 250 Millionen Jahren 90 Prozent der Arten verschwanden. Ist
das übertrieben? Nein, denn momentan erhöhen unsere Autos und Fabriken die
CO2-Konzentration des Planeten ungefähr zehnmal schneller als die riesigen
sibirischen Vulkane, die damals die Katastrophe ausgelöst haben.
Angesichts der Klimakrise ist die Rückkehr zum „Normalen“
kein realisierbares Ziel - niemand wird einen Impfstoff herstellen (*). Das
heißt nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben. Tatsächlich haben wir derzeit
mehr Optionen als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt, aber wir müssten sie in
dramatischem Umfang und mit dramatischer Geschwindigkeit einsetzen.
Zum einen haben die Ingenieure ihre Arbeit gut gemacht. Vor
etwa einem Jahrzehnt begann der Preis für erneuerbare Energien zu sinken, und
dieser Rückgang beschleunigt sich weiter. Der Preis pro Kilowattstunde
Solarenergie ist seit 2010 um 82 Prozent gefallen. In diesem Frühjahr wurde in
den sonnigen Wüsten Dubais der Zuschlag für die weltweit größte Solaranlage
abgegeben, sie produziert für etwas mehr als einen Cent pro Kilowattstunde. Der
Preis für Windkraft ist fast ebenso dramatisch gefallen. Jetzt rasen die
Batterien die gleiche Kurve hinunter. In vielen Jahren wird es vielerorts
tatsächlich billiger sein, neue Solaranlagen zu bauen, als bereits gebaute und
bezahlte Gas- und Kohlekraftwerke weiter zu betreiben. (Das liegt daran, dass
die Sonne die Kraft gratis liefert).
Aus diesen Gründen und aufgeschreckt durch Kampagnen setzen
sich Investoren für erneuerbare Energien ein. Damit wird auch die Macht der
fossilen Brennstoffindustrie geschwächt, die ihre Schlagkraft seit drei
Jahrzehnten genutzt hat, um den Übergang zu neuen Energieformen zu blockieren.
Aber die Wirtschaft selbst wird uns nicht schnell genug
bewegen. Trägheit ist eine mächtige Kraft - Trägheit und die Notwendigkeit,
Billionen an „gestrandeten Vermögenswerten“ aufzugeben: Riesige
Öl- und Gasreserven, die derzeit den Wert von Unternehmen (und von Ländern, die
sich wie Unternehmen verhalten – man denke an Saudi-Arabien) stützen, müssten
im Boden belassen werden. Infrastrukturen wie Pipelines und Kraftwerke müssten
lange vor Ablauf ihrer Nutzungsdauer geschlossen werden. Dieser Prozess würde
wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze schaffen als beseitigen, denn fossile Energie
ist in der Regel kapitalintensiv, während erneuerbare Energien
arbeitsintensiver sind. Aber die politischen Systeme reagieren eher auf
drohende Arbeitsplatzverluste als auf ihren möglichen Ersatz. Von den ärmsten
Nationen sollte nicht erwartet werden, dass sie für den Übergang so viel
bezahlen wie die reichen Nationen: Sie sind bereits belastet mit den horrenden
Kosten des Meeresspiegelanstiegs und der Gletscherschmelze, zu deren
Verursachung sie kaum beigetragen haben. Auch ohne Führer wie Trump ist der
erforderliche Aufwand enorm - genau deshalb blieben die Zusagen der
Unterzeichner in Paris so weit hinter den selbst gesetzten Zielen zurück. Und
Führer wie Trump scheinen sich zu vermehren: Der Brasilianer Jair Bolsonaro
kann die Klimamathematik im Alleingang umschreiben, indem er einfach weiterhin
den Amazonas entwaldet. Es wird eine mächtige und andauernde Bewegung
erfordern, um den Wandel zu beschleunigen.
Was Lynas 'Buch vielleicht etwas deutlicher hätte machen
sollen, ist, wie wenig Spielraum wir haben, um diese Aufgaben zu erfüllen. In
einer Coda schreibt er tapfer: „Es ist nicht zu spät, und tatsächlich wird
es nie zu spät sein. So wie 1,5 ° C besser als 2 ° C ist, so ist 2 ° C besser
als 2,5 ° C, 3 ° C ist besser als 3,5 ° C und so weiter. Wir sollten niemals
aufgeben.“ Dies ist zumindest emotional unbestreitbar. Nur machen die von
ihm zitierten Studien deutlich, dass zwei Grad Erwärmung Rückkoppelungen
erzeugen können, die uns automatisch höher bringen. Ab einem bestimmten Punkt
wird es zu spät sein. Die erste dieser Fristen könnte 2030 sein - das Intergovernmental
Panel of Climate Change (IPCC) teilte 2018 mit, dass wir bis zu diesem
Datum eine „grundlegende Umgestaltung“ der Energiesysteme benötigen, da sonst
die in Paris festgelegten Ziele unerreichbar blieben (Mit „grundlegender
Transformation“ war ein Rückgang der Emissionen um 50 Prozent gemeint). Das
heißt, die Jahre, in denen wir noch größte Hebelwirkung und Einfluss
haben können wir unseren zehn Fingern abzählen.
Die Covid-Pandemie zeigt, wie wichtig der Zeitfaktor in
solchen Krisen ist. Südkorea und die USA meldeten die ersten Fälle am selben
Januartag. Amerikas Regierung und Präsident verschwendeten den Februar mit
Zögern und Twittern. Und jetzt ist Seoul nahe an der Normalität, und in den USA
sind wir dem Chaos nahe (An einem einzigen Julitag meldete Florida mehr
Fälle, als Südkorea in der ganzen Pandemie). Und so wie die USA den Februar
verplemperten, verplemperten wir für den Planeten dreißig Jahre.
Geschwindigkeit ist wichtiger denn je. Die Proteste gegen Black Lives Matter
erinnern daran, dass Aktivismus erfolgreich sein kann und dass Umweltbemühungen
stark mit anderen Kampagnen für soziale Gerechtigkeit verbunden sein müssen.
Der von der Biden-Kampagne im vergangenen Monat angekündigte Klimaplan ist ein
glaubwürdiger Start für die notwendigen Anstrengungen.
Die Pandemie gibt auch einen tauglichen Masstab dafür, wie
viel wir ändern müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. In diesem Frühjahr
haben wir «business as usual» eine Zeit lang beendet, fast auf der ganzen Welt
- und unseren Lebensstil weitaus mehr verändert, als wir je für möglich
gehalten hatten. Wir haben aufgehört zu fliegen, haben aufgehört zu pendeln,
haben viele Fabriken gestoppt. Im Endeffekt sind die Emissionen gesunken, aber
nicht so stark, wie man hätte erwarten können: Nach vielen Berechnungen kaum
mehr als 10 oder 15 Prozent. Das deutet darauf hin, dass der größte Teil
der Faktoren, die unsere Erde zerstören, fest in unseren Systemen eingebaut und
verdrahtet sind. Nur wenn wir diese Systeme angreifen - indem wir die mit
fossilen Brennstoffen betriebenen Eingeweide herausreißen und durch erneuerbare
Energien und weitaus effizientere Techniken ersetzen, können wir die
Emissionen so weit senken, dass wir eine Chance haben. Und zwar – das macht
Lynas leider klar - nicht die Chance, die globale Erwärmung zu stoppen. Aber
wenigstens eine Chance, zu überleben.
(*) Einige fordern "Geoengineering"-Lösungen für die globale Erwärmung - Techniken wie das Sprühen von Schwefeldioxid in die Atmosphäre, um die einfallenden Sonnenstrahlen zu blockieren. Das würde nichts dazu beitragen, die andere schlimme Krise zu verlangsamen, die durch den Kohlenstoffstoß verursacht wird: Die Versauerung der Ozeane. Und man könnte damit durchaus neue Formen des Chaos anrichten.
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Übersetzung: Lukas Fierz, Bern.
Veröffentlicht
mit Genehmigung New York Review of Books.
Link zum
Originalartikel: https://www.nybooks.com/articles/2020/08/20/climate-emergency-130-degrees/