(Kapitel aus Lukas Fierz "Begegnungen mit dem Leibhaftigen", Tredition 2016)
Das war auch so einer aus dem Zuchthaus, der zu uns ins Irrenhaus kam. Als ich den bei der
Aufnahme begrüsste waren die Akten noch nicht gekommen. Ich wusste nur seinen
Namen, gab die Hand. Guten Tag, Herr Lampart, wir hoffen, dass Sie sich gut
zurechtfinden. Morgen werden wir uns ausführlich sehen.
Als Eindruck blieb: Ein kleiner, schmal gebauter, aber kräftig-sehniger Mann.
Zum verwaschenen blauen Hemd kontrastierte ein brünetter Teint und eine
seidenglänzende braunblonde Schmachtlocke, die war von links nach rechts über
die Stirn gebürstet wie bei einem Sonntagsschüler. Vielleicht hatte er sie
leicht blond getönt. Und der wachsam-unterwürfige Hundeblick aus den
haselnussbraunen Augen verhiess vorauseilenden Gehorsam, wenigstens solang man
der stärkere war.
Antipathie oder Sympathie bilden sich in dreissig Sekunden. Hier war es
Antipathie. Schmachtlocke und Hundeblick verströmten einen homosexuellen Appell,
der mir unangenehm war. Die demonstrierte Unterwürfigkeit wirkte verdächtig.
Wollte der mich um den Finger wickeln und wofür?
Immerhin, man gibt sich einen Ruck. Die Menschen sind alle gleich, jeder hat
seine Menschenwürde, jeder hat Anrecht auf faire Behandlung. Als Arzt kannst Du
nicht verhindern, dass Dir Deine Klienten weniger oder mehr sympathisch sind,
ausnahmsweise kannst Du Dich sogar verlieben. Das macht nichts. Du musst es nur
merken, es Dir bewusst machen und Dich entsprechend kontrolliert und korrekt zu
verhalten.
Anderntags kamen die Akten und ich führte ein kontrolliert-korrektes
Aufnahmegespräch ohne voyeuristisches Interesse. Auch er hatte ja seine Strafe
verbüsst und das alles ging mich im Grunde nichts mehr an.
Die Akten waren gewichtig: Immerhin hatte er zuletzt zehn Jahre im Zuchthaus
gesessen. Eine typische Verbrecherkarriere, Vater unbekannt, Mutter
verwahrlost. Er als schwieriges Kind von Heim zu Heim verschoben. Sicher wurde
er brutalisiert und wohl auch sexuell missbraucht, wenn alles zutraf, was er
laut Akten behauptete. Es war damals zweiter Weltkrieg, harte Zeiten.
Mit zwölf kam er in eine Pflegefamilie, wo er erstmals gut behandelt wurde. Er
schloss sich besonders an den Pflegevater an. Von dem redete er auch jetzt noch
mit Respekt. Aber trotzdem ging es weiter mit Lügen, Stehlen und
Schuleschwänzen. Auch dem Pflegevater entwendete er Geld und zündete sein
Schrebergartenhäuschen an, das voll niederbrannte. So kam er halt in ein Heim
für Schwererziehbare. Danach lebte er als gewerbsmässiger Kleinkrimineller.
Eine bedingte Gefängnisstrafe änderte nichts. Später glitt er in wiederholten
bandenmässigen Diebstahl ab. Aus Angst, erwischt und eingesperrt zu werden sei
er schliesslich nach Strassburg gereist und habe sich im Rekrutierungsbüro der
Französischen Fremdenlegion gemeldet, im Wissen, dass dort jeder eintreten
kann, ohne dass nach seinem Vorleben gefragt wird.
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Fremdenlegionäre in Nordafrika |
Im Gespräch blieben sein Blick ausweichend und seine Antworten einsilbig. Ja,
dieser Pflegevater sei gut zu ihm gewesen. Wieso er dieses Gartenhäuschen
angezündet habe, wisse er auch nicht. Die Fremdenlegion sei hart gewesen, sie
hätten unter Stacheldrahtverhauen durchkriechen müssen bis Hemd und Rücken
blutig zerfetzt gewesen seien. Meist sei er in Algerien gewesen. Er verlor kein
Wort über den entsetzlichen Kolonialkrieg, den die Franzosen dort geführt
hatten. Ich fragte auch nicht weiter danach, was ging mich das an... Er
erwähnte nur, dass sie einem als Strafe am frühen Morgen bis zum Hals im
Wüstensand eingegraben hätten, dort habe man dann bis zum Abend in der Sonne
aushalten müssen, ohne Essen oder Wasser. Acht Jahre sei er dort gewesen. Er
habe es bis zum Gefreiten gebracht. Das sei schon eine gute Zeit gewesen.
Nach seiner Rückkehr kamen alle Strafen zusammen: die erste, bedingt erlassene
Gefängnisstrafe, die Strafe, der er mit Eintritt in die Fremdenlegion entgehen
wollte und die Strafe für fremden Kriegsdienst. Da wurde halt zusammengerechnet
und er war weggesperrt auf dem Fels in dem mittelalterlichen Schloss, das seit
Jahrhunderten als Zuchthaus dient.
Nach ein paar Tagen kam noch die körperliche Untersuchung. Im Liegen auf der
Untersuchungscouch werden Herztöne und Reflexe geprüft. Dann Aufsitzen, um den
Rücken und die Lungen von hinten zu untersuchen. Der Rücken war ein einziges
Narbenfeld, mit Hügeln und Vertiefungen, teils auch schwärzlichen Verfärbungen.
Was das denn sei fragte ich. Er berichtete fast ungerührt, da sei halt eine
Granate nicht weit hinter ihm explodiert. Er habe nur knapp überlebt. Über
vierzig Metallsplitter habe man herausoperieren müssen, aber die kleinen
Splitter habe man dringelassen. Ein halbes Jahr Spital. Gut, da war nichts Medizinisches.
In vier Wochen würde er in seine Freiheit gehen.
Später kam noch der Bewährungshelfer vorbei. Der eher vierschrötige Mann mit
expansivem Auftreten und Krawatte meinte, der Lampart habe sich gut gehalten,
drum werde er jetzt zwei Jahre früher entlassen. Das letzte Jahr sei er in der
Aussenstation Bannholz gewesen mit den Pferden und beim Holzen. Dort habe er
selbständig gearbeitet. Er hätte jeden Tag abhauen können, aber der sei schon
recht und habe seine Lektion gelernt. Nein, nein, die Haare seien nicht
gefärbt, der sei einfach immer in der Sonne gewesen, da bleichten sie aus...
Die Organe des Strafvollzugs sehen sich in der Regel im Dienste des Guten, denn
Strafe treffe und bewirke Einsicht und Besserung. Das würde man ja gern
glauben, wenn es nicht so salbungsvoll vorgetragen würde. Die Salbung erweckt
Misstrauen. Übrigens wird das Gewähren und Entziehen von Hafterleichterungen
durchaus genussvoll gehandhabt. Das Handhaben von Daumenschrauben muss im
Mittelalter eine ähnliche Befriedigung verschafft haben. Geübte Strafgefangene
mimen dagegen Einsicht und Besserung und verschaffen sich damit ein leichteres
Leben und den Vollzugsorganen ihre narzisstische Befriedigung.
Der Bewährungshelfer war eigentlich gekommen, um mit dem Lampart in die Stadt
zu gehen und Kleider einzukaufen. Da Kleider bekanntlich Leute machen muss der
neue Mensch nach dem Gefängnis auch neue Kleider haben. Diesmal wollte ich auf
die Kleiderexpedition mitgehen, um wenigstens einmal auch diesen Aspekt des
Resozialisierungsprozesses mitzuerleben.
Die Häftlinge verdienen im Knast täglich ein paar Franken, das sogenannte
Pekulium. Das wird beiseitegelegt. Nach Verbüssung der Strafe blieben vor
dreissig Jahren ein paar Hundert Franken, jetzt werden es ein paar Tausend
sein. Die gehören ihm und damit kaufte man die Kleider. Das geschah bei
vorzeitiger Entlassung in Begleitung des zukünftigen Bewährungshelfers. Man
ging immer ins gleiche Geschäft in der schönen Innenstadt. Dort gabs nur
Qualitätsware. Ein Outfit kostete damals viele Hundert Franken. Die wurden dem
Pekulium des Sträflings belastet.
Man beschaffte zwei Hemden, eine Hose, ein Jackett, Socken, zwei Sets
Unterwäsche. Damit haben sie den Lampart eingekleidet. Da stand er jetzt
verlegen vor dem Spiegel, mit Hemd, Bügelfalten und einem an den Schultern
lächerlich ausgestopften blauen Veston, für den er eigentlich gar keine Verwendung
hatte und der auch gar nicht zu ihm passte. Er sah aus wie im falschen Film mit
seinem Hundeblick und seiner Schmachtlocke. Aber Verkäufer und Bewährungshelfer
befanden den Aufzug für gut und Lampart konnte wieder in die Kabine, um sich
umzuziehen.
Derweil wurde bezahlt. Wahrscheinlich haben sie mich im Geschäft auch als
Bewährungshelfer angesehen. Sonst hätte ich beim Zahlen wohl nicht mitbekommen,
dass das Geschäft dem Bewährungshelfer zehn Prozent des Kaufpreises in dessen
Tasche rückvergütet. Eine wirklich bewährte Methode, damit der nächste Häftling
auch wieder bewährte Qualitätsware kauft, die er zwar teils gar nicht braucht,
dafür im bewährten teuren Qualitätsgeschäft in der schönen Innenstadt.
Schliesslich opfert der Bewährungshelfer seine wertvolle Arbeitszeit für diesen
Einkauf und überhaupt entsteht bewährte Harmonie doch am ehesten, wenn die
Vollzugsorgane nicht nur den Strafgefangenen, sondern gleichzeitig auch sich
selber Gutes tun.
Nach dieser Exkursion schien der Fall für mich erledigt. Manchmal sah ich den
Lampart noch auf dem Korridor, aber meist war er unterwegs oder in einer
Werkstatt.
Eine Woche später war Morgenvisite auf der offenen Männerabteilung. Der
Abteilungspfleger berichtete über dies und das, der übliche Kleinkram. Zum
Schluss kam er auf den Lampart. Also der brülle nachts wie ein angeschossenes
Tier, das gehe durch Mark und Bein. Die Nachtwache sage, das sei fast jede
Nacht so und manchmal höre er fast nicht mehr auf. Und trotzdem sei er kaum zu
wecken. Dafür wecke er die ganze Abteilung. Kurios, was konnte das sein?
Alpträume? Anfälle?
Wir machten ab, dass man versuche, mit ihm zu sprechen, besonders in der Nacht
nach dem Schreien, aber vielleicht war ja auch am Tag etwas herauszufinden. Mir
zwar erzählte er nichts, es blieb beim wachsamen, feuchten Hundeblick. Schon
als junger Arzt bist Du eine Autoritätsperson, da öffnet sich nicht jeder. Aber
die Pfleger und die Nachtwache fanden Zugang und so hörte ich nach und nach
folgendes:
Lampart erlebte in den Nächten wieder den Algerienkrieg. Die meisten seiner Unteroffiziere
waren Weltkriegsveteranen, die hatten mit den Nazis an der Ostfront gekämpft.
Die Methoden der Ostfront habe man auch in Algerien übernommen. Z.B. habe man
nach einem Partisanenanschlag grundsätzlich das nächste Dorf vollständig
eliminiert. Das geschah nachts, immer ohne Schusswaffen, um Lärm und Aufsehen
zu vermeiden. Man habe alles mit dem aufs Gewehr aufgepflanzten Bajonett
gemacht. Das Dorf wurde eingekreist, die Bewohner in den Betten massakriert oder
auf den Hauptplatz getrieben. Dort habe man zuerst die Männer erledigt, sonst
wären die ja noch auf die Idee gekommen, sich zu wehren. Dann die Frauen und
Kinder. Schwangeren sei man solang auf dem Bauch herumgetrampelt, bis die
Frucht abgegangen sei, nachher konnte man sie liegen lassen oder auch
erledigen. Am lustigsten sei es mit Säuglingen und Kleinkindern gegangen: Man
warf die hoch in die Luft und ein Kamerad konnte sie dann im Fallen mit dem
Bajonett aufspiessen. Das war nicht ganz einfach, manchmal musste man es
mehrmals versuchen.
Mir wurde übel. Auch jetzt - vierzig Jahre später - wird mir noch übel, wenn
ich das aufschreibe. Ich konnte diesen Kerl nicht mehr aushalten, ihm nicht die
Hand geben, mit ihm nicht im gleichen Raum sein. Grausige Ausgeburt der Hölle,
die da auf dem Bett sass mit dem klebrigen, anerkennungsheischenden Hundeblick.
Und was war jetzt mit dem inneren Ruck? Schuldete der Arzt nicht jedem die
gleiche faire Behandlung? Hatte nicht jeder seine Menschenwürde? Es nützte
alles nichts, dieses Monster fiel aus meinem Beziehungsraster. Ich konnte mich
als Arzt nicht kontrolliert und korrekt verhalten. Das plagte mich enorm, denn
es war mein Ideal, dass der Arzt nicht zu richten und nur zu helfen habe. Mit
Drogensüchtigen, Betrügern oder Prostituierten konnte ich immer gut umgehen,
die waren Teil des Welttheaters und ich fühlte weder Hochmut noch
Überlegenheit. Aber jetzt ging es nicht. Ich war blockiert und auch beschämt,
weil ich fand, als Arzt zu versagen.
Als junger Arzt gehst Du wie gesagt zum Oberarzt und hoffst auf Rat. Eigentlich
wäre ja der alte Dr.C. für die Männerseite zuständig gewesen. Aber von seiner
desillusioniert-zynischen Weltsicht erwartete ich wenig. Ausserdem ging es ja
gar nicht um den Herrn Lampart, sondern um mich, beziehungsweise mein Problem,
meine Blockade als Arzt.
So ging ich zu Dr.H., dem Oberarzt für meine weiblichen Patienten. Zu Dr.H.
hatte ich Vertrauen. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte aber immer noch einen
bubenhaften Strubelkopf und hinter seiner Drahtbrille distanziert-freundliche
graue Augen. Sein Büro war in einem abgeschrägten Dachzimmer, über dem
Schreibtisch gab das Fenster den Blick auf die alten Bäume frei.
Krankengeschichten, Bücher und Zeitschriften lagen herum, auch auf den Stühlen.
Hier wohnte nicht einer, der rechteckig aufräumt. Im Büro trug er nie einen
Arztkittel, nur seinen abgewetzten graublauen Pullover, der mich an den
Lieblingspullover meines Vaters erinnerte.
Wenn man zu ihm kam hatte er meistens Zeit. Dabei sagte er nicht viel:
Unvergesslich sein Blick, der Dich stetig fixiert, ohne Eile und fast ohne
Neugier, der auch durch Dich hindurch sieht auf das Wesentliche. Ich hasse
Leute, die nur sehen, was sie vor der Nase haben. Sein freier Blick erinnerte
an denjenigen der Wölfe, die in unserem Zoo in einem riesigen Gehege leben.
Ja, da war etwas vom freien, ursprünglichen Wesen des Wolfes. Aber auch etwas
von einem älteren Bruder, mit ihm war man per Du. Mag sein, dass Wolf und
Bruder nur Projektionen waren, aber die Empfindungen sind da und bestimmen die
Beziehung.
So stieg ich in seinen Dachstock. Die Bürotür war offen. Dr.H. sass am
Schreibtisch, mir den Rücken zugewandt. Ich blieb stehen und klopfte. Dr.H.
drehte sich, wies mir einen Stuhl und fragte, was sei. Ich setzte mich und
berichtete über mein Erlebnis mit dem Lampart. Der sei ja schrecklich, ich
könne den nicht aushalten, ich könne mich mit dem gar nicht mehr beschäftigen.
Ja und was sollte man in so einem Fall machen? Dr. H. sass zurückgelehnt im
Sessel, die Ellbogen auf den Armlehnen aufgestützt und die Hände verschränkt.
Er hörte zu, sah durch mich hindurch. Nachdem ich geendet hatte, sah er vor sich
hin und sagte lange nichts. Dann schaute er mich wieder an und sagte ganz
ruhig, weder belehrend noch behauptend, sondern als einfache Feststellung: Ja
weisst Du Lukas, den Teufel gibts.
Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Denn unter Psychiatern spricht man
viel, von den eigenen Problemen, von den Problemen des Kollegen, oder den
Problemen, die man mit den Problemen des Kollegen hat und umgekehrt. Manchmal
spricht man sogar von den Patienten.
Und hier nur eine lapidare Feststellung. Kein Wort über mich, über uns, über
Lampart.
So verblieben wir. Es gab den Teufel und da war nichts zu machen. Aber die
Schwierigkeit, wegen der ich Dr.H. aufgesucht hatte war schlagartig
verschwunden. Ich fühlte mich nicht mehr als Versager, denn ich war im Recht.
Der Lampart durfte mir grausen. Und so konnte ich ihm plötzlich wieder guten
Tag sagen, sogar die Hand geben, oder mit ihm in einem Zimmer sein.
Ich muss nicht extra erwähnen, dass diese Geschichte meinen Respekt vor Dr.H.
nochmals erhöhte. Ein komplexes Problem mit sieben Worten zu lösen, sowas
können sonst nur Zen-Meister.
Tatsächlich hatte ich den Teufel vorher nur indirekt gekannt, aus Märchen, aus
Gotthelfs Schwarzer Spinne, aus Dokumenten über das Dritte Reich und aus den
Reportagen von Curzio Malaparte.
Aber jetzt war er mir persönlich entgegengetreten, der Leibhaftige. Und wie
Gotthelf mahnt: Er kann überall und jederzeit wiederkommen.
Glück hat, wer ihm nicht begegnet und von wem er nicht Besitz ergreift.
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