Bilanz des weltberühmten Biologen E.O.Wilson
(Bericht und Interview von Marian Starkey in
Population Connection Magazine Juni 2019, gekürzt)
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht damit, auf das
Interview mit ihm zu warten, Prof.Edward Osborne Wilson, 40 Jahre lang
Professor an der Harvard Universität, Träger von über hundert Preisen, Autor
von 35 Büchern und über 400 wissenschaftlichen Artikeln, weltweit führende
Autorität der Ameisenforschung und Denker über Biologie, Evolution und
Gesellschaft.
Meine Einschüchterung war unbegründet, er begrüsste mich mit
einem warmen Lächeln. Wilson war gerade 90 geworden und versucht zur Zeit, sich
an einen Stock zu gewöhnen, den er aber gar nicht nötig zu haben scheint. Er
ist witzig, gut gepflegt und aktiver als viele andere Leute, die gerade das
College abgeschlossen haben. Er braucht ein iPhone und zum Mittagessen hatte er
Avocado-Toast gegessen. Abgesehen von äusseren Alterserscheinungen könnte er
auch 30 Jahre alt sein. Im Grunde ist er ein «Millenial», der in den Körper
eines Neunzigjährigen geraten ist. Wilson ist mein neues Vorbild für das
Pensionsalter.
Wilson, so bescheiden er auftrat, hatte viel über den Druck
der Menschen auf die Umwelt zu sagen und darüber, wie wir versuchen sollten,
aus dem Chaos herauszukommen, das wir angestellt hatten:
«Ich denke, das Epizentrum all
unserer Umweltprobleme ist das außer Kontrolle geratene Bevölkerungswachstum.
Ich weiss, besonders im Buch «Die Hälfte der Erde», war ich optimistisch,
dass sich das Übervölkerungsproblem von allein löse. Aber das Problem bleibt,
es kommt von zuvielen Kindern, vom Verlangen zuvieler Leute in zuvielen Ländern
nach höherem Lebensstandard. Und deshalb kann die Welt nicht in den Zustand
kommen, in den sie kommen sollte.»
Er entschuldigte sich, dass er wie ein Harvard-Professor in
der Vorlesung rede, um dann die aktuell kritischen Umweltprobleme zu
identifizieren. Aber vorher müsse er wiederholen, dass das Bevölkerungswachstum
der zentrale und wichtigste Treiber der Umweltprobleme sei, unter denen
es drei Hauptkrisen gebe: Die
Klimaerwärmung, den
Wassermangel und
das
Artensterben.
«Alle drei Krisen haben als
Hauptursache die menschliche Übervermehrung. Neben der Klimaerwärmung droht der
Mangel an Frischwasser: Etwa 4% des Wassers in der Welt sind in
Seen und Flüssen. Dieses Wasser geht rasch zur Neige, und das ist in einigen
Teilen der Welt eine Hauptursache für Migration. Die dritte Krise ist das
Massensterben von Arten. Wir wissen nicht genau, wie sich Ökosysteme bilden,
was sie stabil macht oder wie sie sich anpassen. Wir können nicht voraussagen,
was passiert, wenn eine unscheinbare kleine Tierart herausgenommen wird. Man
kann das nicht einmal erraten.»
Wilson glaubt, dass die Erforschung von Ökosystemen das
"nächste große Ding in der Biologie" sind, sie sind jetzt sein
Forschungsschwerpunkt. Zu seinen Stärken gehört es, Wissenschaft für Laien
zugänglich zu machen. Und das sei nötig, denn ohne weitverbreitete Besorgnis
über die Umweltkrise werde kein politischer Wille zur Lösung entstehen.
«Wir brauchen einen Begriff,
der die baldige grosse Wirkung ausdrückt: Ich nenne es den Zusammenbruch des
Ökosystems. Das können die Leute verstehen. Dies bedeutet den Zusammenbruch
von Arten, die für den Erhalt von natürlichen Ökosystemen und oft auch für die
menschliche Existenz unerlässlich sind, z. B. für die Wasserscheidenwälder oder
für fruchtbares Ackerland. Wir möchten die Menschen dazu bringen, über Dinge zu
sprechen, die sie selber verstehen und die sie selbst als potenziell
zerstörerisch ansehen können. Die Menschen machen sich keine Sorgen, solang sie
glauben, dass die Menschheit das Recht hat, die natürliche Welt zu
kontrollieren und dass diese Kontrolle unseren Wohlstand und unsere Sicherheit
befördert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Und das sollte selbst
Menschen beunruhigen, die sonst nur über ihr Privatleben nachdenken und über
die persönlichen Möglichkeiten, die sie haben oder nicht haben.»
Wilson glaubt, dass die Stärkung der Stellung der Frau zur
Lösung des Bevölkerungsproblems beitragen kann.
«Sobald Frauen irgendwie eine
Unabhängigkeit erlangen, neigen sie dazu, die Anzahl ihrer Kinder zu
verringern. Das ist psychologisch und kommt auch aus der Erkenntnis, dass
sie und ihre Familie so ein besseres Leben haben werden. Man kann sich fragen - sollen Nationen
eine Bevölkerungspolitik haben? Sollen Religionen eine Bevölkerungspolitik
haben? Aber es scheint mir, dass man sich am Rand faschistischer Ideen bewegt,
wenn man den Menschen sagt, wie viele Kinder sie haben dürfen. Das würde die
gesamte Natur der Gesellschaft verändern.
(Übersetzung: Lukas Fierz)